«Wir wollen den Kulturwandel gemeinsam vorantreiben»

Medien

persoenlich.com – Michèle Widmer

Am Edit-a-thon werden erneut zahlreiche Biografien über Frauen auf Wikipedia erfasst. Die Gastgeberinnen Katia Murmann (Ringier) und Susanne Wille (SRF) sprechen über ihre Ziele – und über Erfolge und Stolpersteine der Gleichstellungsinitiativen Chance 50:50 und Equal Voice.
Am Mittwoch heisst es wieder «Frauen für Wikipedia». Frau Wille, Sie sind zum zweiten Mal als Gastgeberin an Bord. Welche konkreten Ziele haben Sie und Ihr Team sich für den sechsten Edit-a-thon gesetzt?
Susanne Wille: In den letzten Jahren ist eine engagierte Gruppe von Schreiberinnen und Schreibern für den Edit-a-thon entstanden. Das wollen wir pflegen, aber auch möglichst viele neue Interessierte zum Mitmachen bewegen. Darauf freue ich mich. Denn: Nur gemeinsam können wir etwas verändern und bewirken. Gleichstellung beginnt auch mit Sichtbarkeit, mit Auffindbarkeit, mit einer Präsenz im Netz. Auch in der Kultur ist – wie überall – Gleichstellung wichtig. Es gibt noch immer zu wenige Dirigentinnen, Künstlerinnen, die medial sichtbar sind. Konkret will ich darum anlässlich des diesjährigen Edit-a-thons die Biografie einer Kulturschaffenden für Wikipedia verfassen. Dies, nachdem ich im letzten Jahr die Biografien von Wissenschaftlerinnen angepackt habe.
Frau Murmann, wie wird der Event vonstattengehen? Welche Neuerungen gibt es in diesem Jahr?
Katia Murmann: Die Gastgeberinnen sind live vor Ort beim SRF im Studio. Die Schreibenden nehmen virtuell teil. Die Neuerungen beziehen sich auf virtuelle Errungenschaften. Mithilfe einer modifizierten Eventplattform können die Teilnehmerinnen trotz des virtuellen Rahmens echtes Networking betreiben. Konkret kann man mit dem neuen Tool quasi von Tisch zu Tisch gehen und sich untereinander austauschen.
Der Anlass fand im letzten Jahr pandemiebedingt virtuell statt. Nun wäre ein Zusammenkommen unter Auflagen wieder möglich. Warum verzichten Sie dennoch darauf?
Wille: Ich erinnere mich gut an den physischen Edit-a-thon, an die Energie im Raum, an die Gespräche während des Schreibens und an den Austausch während des Apéros. Gerne hätten wir das wieder so gemacht. Nur: Angesichts der aktuellen Lage ist die Planungssicherheit bei digitalen Events einfach grösser. Und: Wir sehen, dass die digitale, hybride Ausgabe das Vernetzen untereinander sogar noch fördert.
Murmann: Natürlich wäre es schön, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer mal wieder ohne pandemiebedingte Auflagen persönlich zu sehen. Beim letzten Mal hat sich aber auch gezeigt: Virtuell haben wir die Möglichkeit, den Teilnehmerkreis zu erweitern, mit Schreiberinnen aus der Romandie, aus Deutschland und anderen Orten. Deshalb und auch aufgrund der unsicheren Situation rund um Covid setzen wir wieder auf einen hybriden Edit-a-thon.
«Der Edit-a-thon ist für viele Teilnehmer der erste Schritt, auf Wikipedia zu publizieren und auch danach Biografien zu schreiben»
Im letzten Jahr haben rund 80 Medienschaffende am Event teilgenommen. Wie viele sind in diesem Jahr dabei?
Murmann: Bis dato haben wir 58 Anmeldungen und sind sehr zuversichtlich, dass wir am Schluss wieder auf rund 80 Schreibende kommen.
An diesem Tag veröffentlichen Frauen zahlreiche Wikipedia-Einträge über Frauen. Welche Wirkung hat der Event darüber hinaus. Oder anders gefragt: Wie häufig publizieren die teilnehmenden Frauen weitere Wikipedia-Beiträge im Alltag?
Murmann: Für Wikipedia zu schreiben, will gelernt sein. Das nötige Know-how vermitteln Muriel Staub und ihr Team von Wikimedia Schweiz an jedem Edit-a-thon. Wir wissen, dass der Edit-a-thon für viele Teilnehmer der erste Schritt ist, auf Wikipedia zu publizieren und auch danach Biografien zu schreiben. So ist aus dem Edit-a-thon auch eine Bewegung geworden, die über die Events hinausgeht.
«Wir haben Gleichstellung bei SRF nun auch viel klarer und stärker in den publizistischen Leitlinien verankert»
Frau Wille, Sie engagieren sich bei SRF stark für das Projekt «Chance 50:50», welches dasselbe Ziel verfolgt: die Sichtbarkeit von Frauen in der Öffentlichkeit stärken. Was haben Sie seit dem Start der Initiative 2019 erreicht?
Wille: Sehr viel. Und das ist gut so. Denn wir stehen hier als öffentliches Medienhaus in der Verantwortung und setzen uns für eine Vielzahl an Perspektiven und Stimmen ein. Konkret: Wir haben den Anteil an redaktionell gewählten Expertinnen in der Berichterstattung steigern können. Im Monat September lagen wir bei einem Durchschnitt von 42 Prozent. Das Besondere an dem Modell von «Chance 50:50»: Wir zählen nur Frauen, die Wissen einbringen, einen Sachverhalt einordnen. Das Projekt stärkt also explizit den weiblichen Anteil an gezeigter Expertise. In der Kultur sind wir bereits bei 55 Prozent. Wir haben zahlreiche Expertinnen sichtbar und hörbar gemacht, die vorher in der breiten Öffentlichkeit nicht bekannt waren. Es geht also um Gleichstellung und um journalistische Qualität. Und wir sind nochmals einen grossen Schritt vorwärtsgekommen. Wir haben Gleichstellung nun auch viel klarer und stärker in den publizistischen Leitlinien verankert. Dies wiederum sorgt dafür, dass Gleichstellung als Qualitätskriterium noch stärker Teil unserer internen Redaktionssitzungen ist und wir uns dahingehend laufend überprüfen.
Und dennoch sind die Zahlen ernüchternd: Durchschnittlich sechs Prozent mehr Expertinnen in der Berichterstattung seit dem Start des Projekts. Was sind die Stolpersteine?
Wille: Unsere Teams leisten Ausserordentliches. Sie machen das alles im grösstmöglichen Tagesdruck, zusätzlich zur eigenen Berichterstattung. Da waren die Hürden beim Start natürlich höher. Man nimmt dann eher den bewährten Experten, als eine neue Person zu suchen, die noch keine breite Medienerfahrung hat. Inzwischen ist aber unsere Expertinnen-Datenbank auf über 3000 Namen kräftig angestiegen. Expertinnen, die bereit sind, als Gesprächspartnerinnen aufzutreten. Auf sie können wir zurückgreifen bei der Suche nach Gesprächspartnerinnen. Und der Ausbau der Expertinnen-Datenbank zeigt ja auch: Immer mehr Frauen wollen gehört werden als Expertinnen. Das zeugt von diesem Kulturwandel, den wir gemeinsam vorantreiben. Und der natürlich auch Zeit braucht.
Wie misst SRF diese Zahlen?
Wille:  Die Redaktionen und Teams erfassen Daten täglich. Das Datenteam von SRF hat Datenblätter zur Verfügung gestellt, mit denen sich das Datensammeln besonders einfach und effizient gestalten lässt. Jede Redaktion bestimmt einen Datenverantwortlichen, der die entsprechenden Daten sammelt.
Frau Murmann, bei Ringier heisst die Initiative «Equal Voice». Sie messen die Ergebnisse mit einem eigens entwickelten Algorithmus. Wie sehen die Zahlen aktuell aus bei den verschiedenen Publikationen?
Murmann: «Equal Voice» hat bei Ringier messbar viel verändert. Beim Global Media Monitoring Project (GMMP), das im September 2021 veröffentlicht wurde, landete Blick.ch mit 49 Prozent als das Schweizer Medium mit dem höchsten Frauenanteil in der Berichterstattung auf dem ersten Platz. Unsere eigenen Zahlen zeigen, dass auch die Wirtschaftsmedien von Ringier Axel Springer Schweiz deutlich mehr über Frauen berichten. In den letzten vier Jahren steigerte sich der Equal-Voice-Factor von Bilanz und Handelszeitung um jeweils mehr als 10 Prozentpunkte – gefolgt vom Beobachter, der sich um 8,6 Prozentpunkte steigerte.
«‹Equal Voice› ist mittlerweile ein geflügeltes Wort geworden»
Ziel sei es, «Equal Voice» in der ganzen Gesellschaft voranzubringen. Was planen Sie da?
Murmann: Wenn Medien mehr über Frauen berichten und sie als Vorbilder sichtbar machen, verändert sich auch die Wahrnehmung von Frauen in der Gesellschaft. Wir möchten mit unserer Messmethode einen Standard setzen, der international vergleichbar ist. Deshalb sind wir auch mit anderen Medienhäusern im Gespräch. Und natürlich wirkt «Equal Voice» bei Ringier auch nach innen. In puncto Lohngleichheit, Teamzusammensetzung und Arbeitsbedingungen. «Equal Voice» ist mittlerweile ein geflügeltes Wort geworden. Wir fragen: «Ist da ‹Equal Voice› drin?» und meinen, ob Männer wie Frauen gleichermassen gehört und beteiligt werden.
«Das Thema Migration hat in der Kulturberichterstattung einen hohen Stellenwert»
Nicht nur Frauen, sondern auch andere Gruppen der Bevölkerung haben verhältnismässig wenig Sichtbarkeit in den Medien. Ich denke an Migrantinnen und Migranten. Frau Wille, SRF hat diesbezüglich ja einen publizistischen Auftrag. Gibt es auch hier Initiativen?
Wille: Wir haben tatsächlich einen starken publizistischen Auftrag. In der Konzession steht, dass wir integrative Inhalte vermitteln und Verständnis für unterschiedliche Lebenswirklichkeiten schaffen sollen. Eine zusätzliche Ebene sind die Publizistischen Leitlinien, die wir 2021 überarbeitet haben. Sie dienen als verbindlicher Leitfaden im täglichen Schaffen. Weiter haben wir bei SRF seit 2021 das Soundingboard «Migration & Rassismus». Diese Arbeitsgruppe von SRF-Mitarbeitenden mit Migrationsgeschichte setzt sich dafür ein, Menschen mit Migrationsgeschichte noch besser in unser Programm zu integrieren und darauf zu sensibilisieren, wie vom Publikum als diskriminierend wahrgenommene Berichterstattung vermieden werden kann. Und so ist Diversität im Kern des Angebots. Das Thema Migration hat beispielsweise auch in der Kulturberichterstattung einen hohen Stellenwert – zum Beispiel im «Kulturplatz» oder in der «Sternstunde» zum Thema «Fremdsein». Wir reden nicht nur über Menschen mit unterschiedlichen Lebenswelten, Wurzeln und Hintergründen, sondern auch mit ihnen – beispielsweise in unserem neuen Podcast «Zivadiliring», unter anderem mit Gülsha Adiji und Maja Zivadinovic.
Frau Murmann, inwiefern wird das bei Ringier diskutiert?
Murmann: Es ist uns als Medienhaus allgemein wichtig, allen die gleiche Stimme zu geben. «Equal Voice» ist zum Auslöser einer generellen Diversity-Diskussion im Unternehmen geworden. Hieraus resultiert zum Beispiel die Einsetzung eines «Diversity und Inclusion»-Boards.

Zum Schluss zurück zum Edit-a-thon: Welche Vision haben Sie für den Event? Wie könnte sich die Initiative in den nächsten Jahren weiterentwickeln?
Wille: Der Edit-a-thon ist mehr als ein Anlass. Er ist eine Denkhaltung. Diese gilt es, über den Event hinaus zu leben und die Debatte dazu anzustossen und täglich zu führen. Ein Beispiel: Die SRF-Sendung «Einstein» hat über drei Astrophysikerinnen berichtet. Die Forscherinnen wurden danach mit beleidigenden Kommentaren attackiert, sodass sich die Universitätsleitung öffentlich vor die Forscherinnen stellte. Das zeigt, solche Biografien sind in der Öffentlichkeit noch keine Selbstverständlichkeit. Und wir brauchen diese und weitere Vorbilder.

Murmann: Die grossartige Community, die wir über die Jahre aufbauen konnten, ist das Herz des Edit-a-thon. Sie trägt die Idee weiter, noch besser als wir das mit einem halbjährlichen Event je könnten. Deshalb ist es uns wichtig, die Community weiter auszubauen und zu unterstützen – und gleichzeitig mit Wikimedia Rahmenbedingungen zu schaffen, die Frauen keine Steine in den Weg legen, um auf Wikipedia zu kommen.

Der Artikel auf persoenlich.com

(Bilder: Blick/Stefan Bohrer, SRG Insider)

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