«Wir haben unseren Mitarbeitenden einiges zugemutet»

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NZZ – Natalie Gratwohl –

Warum die Chefin des Outdoor-Ausrüsters Vaude auf Vertrauen setzt – und mit Nachhaltigkeit erfolgreich ist.

Das Familienunternehmen Vaude zählt zu den Vorreitern in Sachen New Work, Diversität und Nachhaltigkeit. Doch der Weg zu einem neuen Führungsverständnis und einer Vertrauenskultur sei steinig gewesen, sagt die Firmenchefin Antje von Dewitz.

Antje von Dewitz leitet ein Unternehmen mit 540 Mitarbeitenden, ist Mutter von vier Kindern und will nächstes Jahr eine Auszeit nehmen, um drei Monate wandern zu gehen.

Die 49-Jährige, die den süddeutschen Familienbetrieb Vaude in zweiter Generation führt, hat in den zwölf Jahren an der Spitze vieles verändert. Das Wichtigste: Sie hat einen Kulturwandel durchgezogen, ein neues Führungsverständnis etabliert, flexible Arbeitsmodelle geschaffen und den Outdoor-Ausrüster auf Nachhaltigkeit ausgerichtet.

«Die meisten wichtigen Entscheide hat früher mein Vater als Firmengründer selbst getroffen», sagt von Dewitz im Gespräch am Firmensitz in Obereisenbach in der Nähe des Bodensees. «Als ich übernahm, hatte ich eine Familie und viel weniger Berufserfahrung. Mir war klar, dass ich die Verantwortung auf mehrere Schultern verteilen musste.»

Bereits drei Jahre vor der Stabübergabe begannen daher Vater und Tochter mit der Schaffung neuer Strukturen und zusätzlicher Hierarchieebenen. Da die Ausrichtung auf Nachhaltigkeit mit einer hohen Komplexität und vielen Zielkonflikten verbunden war, funktionierten die klassischen Entscheidungswege über Hierarchien nicht mehr so gut. Die Rolle der Führungskräfte wandelte sich von Entscheidern hin zu Rahmengebern, damit die Mitarbeitenden als Fachleute in ihren Bereichen stärker mitgestalten konnten.

Die erlebte Kultur war damals – wie in vielen anderen Betrieben auch – stark von den direkten Vorgesetzten abhängig. Die Firmenchefin wollte eine Unternehmenskultur schaffen, die durchgängig auf Vertrauen und Wertschätzung basiert. Werte, Kooperation und ein Umgang auf Augenhöhe sollten als Grundlage für die Zusammenarbeit über Hierarchien hinweg dienen.

Genervte Mitarbeitende

«Die Anfangsphase war zäh und anstrengend», erinnert sich von Dewitz. Durch die neue Rolle der Führungskräfte als Rahmengeber veränderten sich auch die Entscheidungswege; das Unternehmen wurde zunächst langsamer und büsste an Innovationskraft ein. Ausserdem verstand jede Abteilung etwas anderes unter der neuen Vertrauenskultur, einige Mitarbeitende fragten genervt, wer denn jetzt eigentlich verantwortlich sei, und nicht jede und jeder fühlte sich in der Lage, mitzuentscheiden. Es gab auch Führungskräfte, denen es schwerer fiel, ihren Angestellten zu vertrauen.

«Wir haben unseren Mitarbeitenden einiges zugemutet», sagt von Dewitz. Am schwierigsten sei die Übergangszeit gewesen, als die alten Rollen noch präsent gewesen seien. Viele Angestellten wollten Entscheidungen über die Führungskräfte treffen, die diese aber bereits zum grossen Teil an die Mitarbeitenden zurückdelegierten.

Doch die Unternehmertochter, die von ihrem Vater gelernt hat, für ihre Überzeugungen einzutreten, liess sich nicht entmutigen. Mit Unterstützung externer Organisations- und Trainingsbegleiter wurde das Team darin geschult, die Selbstwirksamkeit und Beziehungskultur im Team zu stärken sowie eine gemeinsame Sprache im Unternehmen zu entwickeln. Bei Vaude sagt man jetzt zum Beispiel: «Ich habe ein Störgefühl.» Was für Aussenstehende irritierend klingen mag, hat eine wichtige Funktion. Damit werden Emotionen, Vorurteile oder Unstimmigkeiten aufs Tapet gebracht, um Konflikte frühzeitig zu entschärfen.

Selbstwirksame Menschen sind davon überzeugt, dass sie etwas bewirken können und nicht Opfer der Umstände sind. «Das ist die Basis für Veränderungen und Innovationen», sagt die Firmenchefin. Um in den Beziehungen Vertrauen aufzubauen, sei es zentral, dass man seine Kollegen besser verstehe. In den Schulungen lernten die Mitarbeitenden daher mehr darüber, warum sich Menschen je nach Persönlichkeitstyp unterschiedlich verhalten.

Ein Dieb in den eigenen Reihen

Nach drei Jahren wurde die im Aufbau begriffene Vertrauenskultur allerdings auf eine harte Probe gestellt. Ein Mitarbeiter verkaufte heimlich im grossen Stil Produktmuster auf einer Online-Plattform. Von Dewitz befürchtete, dass die Skeptiker wegen des Diebstahls Aufwind erhalten würden. Doch das Gegenteil war der Fall. Gerade die Kritiker der ersten Stunde waren besorgt, dass die Vertrauenskultur Schaden nehmen könnte.

Damals hatte ich das erste Mal das Gefühl, dass wir grosse Fortschritte machten», sagt von Dewitz. Nach einer Phase der Schwere sei eine neue Leichtigkeit im Unternehmen eingezogen. Mittlerweile wird Vaude für seine Firmenkultur ausgezeichnet. Die Vertrauenskultur steigert die Identifikation der Mitarbeitenden mit der Firma, und der Outdoor-Ausrüster zieht werteorientierte Menschen an, die anderen vertrauen.

«Ein positives Menschenbild ist auch der Kern unseres Führungsverständnisses», sagt von Dewitz. Die Firmenchefin spricht schnell; sie gilt als Macherin und Visionärin, die Herausforderungen liebt, aber auch ungeduldig ist. Sie wolle als Chefin gar nicht immer stark sein. Verantwortung abgeben, Fehler machen, auch einmal Schwäche zeigen und nicht immer alles wissen – das alles sei ein wichtiger Teil ihrer Handlungsfähigkeit: «Ich darf authentisch sein, das gibt mir Kraft für meine Aufgabe, und genau das macht mich stark.»

Im neuen Führungsverständnis üben die Chefs die Rolle als Rahmengeber, Vermittler und Begleiter aus. Sie moderieren Entscheidungsprozesse zwischen verschiedenen Hierarchien und Abteilungen, setzen die Prozesse auf und unterstützen die Angestellten bei ihrer Weiterentwicklung. Die Führungskräfte sind zwar in letzter Konsequenz verantwortlich für die Entscheide, aber die Mitarbeitenden gestalten mit und tragen Mitverantwortung.

Chefs geben ihre Position ab

Nicht bei allen Angestellten ist dieser Wandel anfangs gut angekommen. Einige Führungskräfte haben sich mit dem vermeintlichen Verlust an Status schwergetan, anderen gelang es nicht, sich in der neuen Rolle zurechtzufinden. Dies hatte auch personelle Konsequenzen. Nach «längerer Beziehungsarbeit», wie sich von Dewitz ausdrückt, verliessen zwei Führungskräfte das Unternehmen: «Das war schmerzhaft, aber wir machten dadurch einen grossen Sprung nach vorne.» Auch heute komme es vor, dass sich Führungskräfte, zum Teil nach längerer Begleitung, ohne Gesichtsverlust für einen Wechsel in eine tiefere Hierarchiestufe oder für eine operative Aufgabe im Team entschieden.

Führungskräfte haben neben ihrer Funktion als Rahmengeber weitere Rollen wie die des Visionärs oder des Experten, die sie teilweise auch delegieren. Theoretisch brauchte es gar keine Chefs mehr, wenn sämtliche Aufgaben im Team nach der jeweiligen Eignung verteilt und alle selbstwirksam arbeiten würden.

Vaude wagte diesen Schritt in der Marketingabteilung und hob – dem Rat einer Agilitätsberatung folgend – die Führungspositionen weitgehend auf. «Es hat überhaupt nicht funktioniert», sagt von Dewitz. Grundsätzlich wäre eine Abschaffung der Hierarchien möglich, doch der Wechsel sei zu abrupt gewesen: «Das hat uns vor Augen geführt, dass wir Veränderungen aus uns selbst heraus entwickeln müssen und nichts unreflektiert von aussen übernehmen sollten.»

Das Familienunternehmen legt weiterhin viel Wert auf die Führungspositionen, die von Menschen besetzt sind, die das neue Verständnis verkörpern. Unter ihnen sind immer mehr Frauen, denen die Rolle, die sich auch in einem Teilzeitpensum ausüben lässt, oft besser zusagt. Über 40% der Führungskräfte sind mittlerweile weiblich.

Schreckgespenst der Rabenmutter

Als die vierfache Mutter die Firmenleitung übernahm, gab es noch kaum Frauen in den Führungsetagen. «Auch bei mir geisterte das Schreckgespenst der Rabenmutter im Kopf herum», sagt von Dewitz. Heute plant sie den Tag genau und macht meistens gegen 17 Uhr Feierabend, um Zeit mit ihrer Familie zu verbringen. Dies fiel ihr am Anfang nicht leicht, weil auch sie noch Denkmuster im Kopf hatte, dass diejenigen die grösste Leistung erbringen, die am längsten arbeiten.

Von Dewitz investierte viel in Rahmenbedingungen wie flexible Arbeitszeiten, Führungsmöglichkeit in Teilzeit und Kinderbetreuung. Bereits seit zehn Jahren besteht die Möglichkeit des mobilen Arbeitens, auf dem Firmenareal gibt es ein Kinderhaus, und nach 17 Uhr werden in der Regel keine Besprechungen mehr angesetzt. Insgesamt arbeiten über 40% der Mitarbeitenden in Teilzeitpensen, unter ihnen vermehrt auch Männer.

Die Flexibilität hat auch Nachteile. Es sei manchmal schwierig, einen gemeinsamen Termin zu finden, weil immer irgendjemand nicht da sei, sagt von Dewitz. Doch der Aufwand zahle sich aus. Laut der Firmenchefin setzen sich die Angestellten mit Leidenschaft, Energie und Loyalität für das Unternehmen ein. Dies stärke die Innovationskraft und die Zukunftsfähigkeit.

Ohne die Kultur von Vertrauen und Wertschätzung wäre die Transformation in ein nachhaltiges Unternehmen nicht gelungen», ist von Dewitz überzeugt. Man müsse gut miteinander im Einklang sein, um in Situationen, in denen es tausend Gründe gebe, warum etwas nicht funktionieren könne, trotzdem kreativ zu sein und die besten Lösungen zu finden: «Dieser Einsatz erfordere viel Kraft und Erfindergeist – das kann ich nicht von Mitarbeitenden erwarten, die sich fremdbestimmt fühlen.»

Nachhaltigkeit: ganz oder gar nicht

Die Mammutaufgabe, den Outdoor-Ausrüster durch und durch nachhaltig aufzustellen, ist mit vielen Herausforderungen verbunden. Die Herstellung nachhaltiger Produkte kostet grob geschätzt 15% mehr, die Zertifizierungen sind aufwendig, und anfangs stiess das Vorhaben intern auf viel Skepsis.

Von Beginn weg war daher für die Firmenchefin klar: «Wir machen es entweder ganz oder gar nicht.» Denn nur wenn das Unternehmen den nachhaltigen Weg konsequent geht, wird es von den Kunden als verlässlich wahrgenommen, und nur dann strahlt dies auch auf die Marke und die Produkte aus, ist man bei Vaude überzeugt. Und nur dann bestehe die Chance, dass sich die Anstrengungen und die hohen Kosten der Nachhaltigkeit auch wirtschaftlich bewältigen liessen.

«Deshalb mussten wir bei den Mitarbeitenden enorm viel Überzeugungsarbeit leisten», sagt von Dewitz. Dabei sei es auch wichtig gewesen, Natur und Nachhaltigkeit für alle erlebbar zu machen. Vor dem Eingang steht eine Kletterwand, es gibt auch eine Bio-Kantine, Fair-Trade-Kaffee, Solarpanels auf dem Dach und einen E-Bike-Pool. Zudem wurde ein Teil des Firmenparkplatzes in eine biodiverse Grünfläche umgewandelt.

Auf dem Firmengelände befindet sich auch eine Manufaktur mit rund 70 Mitarbeitenden aus 40 Nationen, die Radtaschen und Rucksäcke produzieren. 80% der Outdoor-Ausrüstung und Bekleidung werden allerdings nicht in Deutschland, sondern in Asien produziert. Die Textilindustrie sei sehr globalisiert, in Europa gebe es kaum noch spezialisierte Fabriken für Outdoor-Ausrüstung, sagt von Dewitz, und wenn doch, dann seien die Mehrkosten häufig so hoch, dass sie vom Endkunden nicht mehr bezahlt würden. Zudem seien die ökologischen und sozialen Standards in Europa nicht zwangsläufig besser. Vaude konzentriert sich darauf, in Asien faire Arbeitsbedingungen zu gewährleisten. Und ab 2022 wird die Firma mit der weltweiten Produktion klimaneutral sein.

Der Mut, alles auf die Karte Nachhaltigkeit zu setzen, zahlt sich offenbar aus. Die Nachfrage nach nachhaltigen Produkten ist ungebrochen. Vaude steht finanziell solide da und wächst im hart umkämpften Outdoor-Markt überdurchschnittlich. 2020 wurde ein Umsatz von 110 Mio. € erzielt; im laufenden Jahr betrug das Wachstum bisher 16%.

Das Erfolgsrezept

Was ist das Erfolgsrezept? «Wesentlich ist, dass wir aus uns selber heraus eine Kraft entwickeln, weil wir so viel Wert auf das Miteinander und unsere Kultur legen», sagt von Dewitz. Dies allein reiche allerdings nicht aus. Es brauche die richtigen Strukturen und Prozesse. Das Nachhaltigkeitsteam ist beispielsweise komplett in die Firma integriert; die Mitglieder kommen aus allen Bereichen und arbeiten mit allen Abteilungen zusammen. Ausserdem werde regelmässig kontrolliert, ob man bei der Erreichung der Ziele auf Kurs sei. Und: «Wir handeln, bevor wir Druck spüren.»

Das Familienunternehmen stellt sich darauf ein, dass die ökologisch bewusste Kundschaft künftig weniger konsumieren wird. «Zugleich wollen wir unser Wachstum von den Ressourcen entkoppeln», sagt von Dewitz. So werden etwa Zelte oder Schlafsäcke vermietet. Ausserdem wurde eine Akademie gegründet, die andere Firmen in Sachen Nachhaltigkeit berät. Dieses Dienstleistungsgeschäft läuft erst auf kleiner Flamme und ist noch nicht rentabel, soll aber in Zukunft eine wichtige Rolle spielen.

Wandel ist die einzige Konstante im Unternehmen. Trotz all diesen Herausforderungen wird die Firmenchefin ihre Auszeit geniessen. Denn sie hat Vaude gemeinsam mit ihren Mitarbeitenden so aufgestellt, dass das Geschäft auch ohne sie rundläuft.

Der ganze Artikel mit Ergänzungen

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