Spektakuläres Urteil: «Blick» muss wegen sensationslüsterner Artikel Gewinn an Jolanda Spiess-Hegglin herausgeben

Medien

Neue Zürcher Zeitung – 

Das Zuger Kantonsgericht hat zu den Nachwehen der Zuger Landammannfeier ein Urteil gefällt, das wegweisenden Charakter haben könnte. Für Schweizer Medien könnte es teuer werden.

Seit mehr als sieben Jahren beschäftigt die Zuger Landammannfeier 2014 die Öffentlichkeit.

Wiederholt musste sich die Justiz mit der vermeintlichen sexuellen Begegnung zwischen der damaligen grünen Kantonsrätin Jolanda Spiess-Hegglin und einem SVP-Kantonsrat beschäftigen. Das vorläufig letzte Urteil des Zuger Kantonsgerichts könnte nun Folgen haben, die weit über diesen Einzelfall hinausgehen.

Der Prozess, in dem Spiess-Hegglin das Medienhaus Ringier verklagte, fand im Januar statt, nun ist das Verdikt bekanntgeworden. Das Gericht kommt zum Schluss, dass vier Artikel, die zwischen Dezember 2014 und September 2015 im «Blick» erschienen sind, die Persönlichkeit von Spiess-Hegglin verletzt haben. Konkret handelt es sich um die Texte «Sex-Skandal in Zug: Alles begann auf der MS ‹Rigi›», «Jolanda Heggli zeigt ihr ‹Weggli›», «Neue Fakten in Zuger Sex-Affäre aufgetaucht: DNA-Probe belegt ‹Kontakt im Intimbereich›» und «Ich öffnete die Türe und sah Kleider am Boden». Diese Artikel wurden inzwischen von Ringier gelöscht.
Mutmassliches Opfer eines Sexualdelikts nicht geschont

Zum Zeitpunkt der Publikation des ersten Artikels am 27. Dezember 2014 habe Spiess-Hegglin als mutmassliches Opfer eines Sexualdelikts gegolten. Deshalb hätte «nur mit besonderer Zurückhaltung über sie berichtet werden dürfen», halten die Richter fest. Der Titel «Jolanda Heggli zeigt ihr ‹Weggli›» suggeriere, dass Spiess-Hegglin die umschriebene Handlung tatsächlich ausgeführt habe. «Mit den im Artikel abgedruckten Reimen wird sodann zum Ausdruck gebracht, dass die Klägerin ihrem Ratskollegen proaktiv angeboten hätte, sich nackt auszuziehen und ihm ihre Geschlechtsteile zu offenbaren», heisst es in dem Urteil.

Auch der Artikel «Zuger Sex-Skandal: die sechs Männer um Jolanda Spiess-Hegglin» habe die Netzaktivistin in ihrer Persönlichkeit verletzt. Allerdings sei diese Verletzung von einem öffentlichen Interesse getragen worden und falle deshalb für das aktuelle Urteil ausser Betracht. Insgesamt veröffentlichte Ringier über 160 Artikel über die Zuger Landammannfeier. Die fünf Artikel wurden von Spiess-Hegglin und ihrer Anwältin ausgewählt, um die Frage der Gewinnherausgabe im Einzelfall gewissermassen durchzudeklinieren.

Dies ist insofern relevant, als Spiess-Hegglin von Ringier die Herausgabe des Gewinnes verlangt, der mit diesen Beiträgen erzielt wurde. Das Zuger Kantonsgericht kommt zum Schluss, dass die im Print und online erschienenen Artikel aufgrund ihrer Aufmachung und Ausrichtung zur Absatzförderung von Medienerzeugnissen des Medienhauses beigetragen haben. Folglich stehe der Klägerin hinsichtlich dieser Artikel im Grundsatz ein Anspruch auf Auskunft zu. Für die Gewinnbestimmung bei Medienerzeugnissen sei gemäss Rechtsprechung lediglich massgebend, ob die verletzende Berichterstattung zur Absatzförderung geeignet gewesen sei.

Das Zuger Kantonsgericht verpflichtet Ringier deshalb, zahlreiche Informationen zur Eruierung und Abschätzung des erzielten Gewinns offenzulegen. Die Angaben, welche der Verlag innerhalb von 60 Tagen liefern muss, sind weitgehend. Dazu gehören sämtliche Page-Impressions der Online-Artikel ab deren Publikationsdatum bis zu ihrer Löschung, die Ende 2018 erfolgte; sämtliche Unique-Clients-Zahlen an den Stichtagen sowie der Durchschnittswert der Ad‑Impressions auf Blick online ab 24. Dezember 2014 bis Ende 2015. Ebenfalls müssen die Anzahl Einzelverkäufe von «Blick» und «Sonntags-Blick» an den Stichtagen sowie die Anzahl Print-Abonnementverkäufe von «Blick» und «Sonntags-Blick» an den Stichtagen und die beglaubigten Leserzahlen von «Blick» und «Sonntags-Blick» ab 24. Dezember 2014 bis Ende 2015 gemeldet werden.

Urteil laut Medienrechtsexperte «gut begründet»

Gestützt auf diese Zahlen kann Jolanda Spiess-Hegglin anschliessend darlegen, wie hoch ihr Anspruch auf Gewinnherausgabe ist. Sobald die entsprechende Forderung auf dem Tisch liegt, wird das Gericht in einer zweiten Stufe über das weitere Vorgehen entscheiden. Bis es so weit ist, gibt es noch einige Hürden zu überwinden. Jolanda Spiess-Hegglin erklärte in einer Medienmitteilung, sie sei sehr erleichtert über das Urteil, das einen Meilenstein darstelle. «Vielen Medienopfern fehlt die Kraft, die Ausdauer oder die finanziellen Mittel, um einen solchen Prozess durchzustehen», lässt sich die Netzaktivistin in der Medienmitteilung zitieren.

Gemäss Urs Saxer, Professor für Medienrecht an der Universität Zürich, ist das Urteil des Zuger Kantonsgerichts gut begründet und in dieser Form erstmalig. «Ich habe es bisher noch nie erlebt, dass ein Gericht einem Medienunternehmen derart detaillierte Vorgaben für die Berechnung der Gewinnherausgabe macht. Das hat wegweisenden Charakter.» Das Urteil zeige aber auch auf, wie komplex die Frage der Gewinnherausgabe sei und wie viel Aufwand Betroffene betreiben müssten, um solche Ansprüche geltend zu machen.

Allerdings ist in dieser Sache das letzte Wort mit ziemlicher Sicherheit noch nicht gesprochen. Ringier hat nun 30 Tage Zeit, beim Obergericht des Kantons Zug Berufung gegen den Entscheid der ersten Instanz einzulegen. «Ringier nimmt das Urteil des Kantonsgerichts Zug zur Kenntnis. Wir prüfen eine Anfechtung», erklärt Sprecherin Johanna Walser, Chief Communications Officer des Medienhauses.

Saxer rechnet damit, dass das Medienunternehmen diesen Weg beschreiten wird. «Es würde mich nicht überraschen, wenn der Fall letztlich vor Bundesgericht landen würde. Das oberste Gericht hätte dann einen Leitentscheid im Medienrecht zu fällen», erklärt der Medienrechtler. Die Zuger Landammannfeier von 2014 und ihre Nachwehen dürften also nicht so schnell aus den Schlagzeilen verschwinden.

Der Artikel von Erich Aschwanden

Urs Flüeler / Keystone

Sponsoring