Tagesanzeiger – Dominik Balmer –
Nicole Probst-Hensch und Olivia Keiser waren Teil der Covid-Taskforce. Doch in den Medien äusserten sich hauptsächlich ihre männlichen Kollegen. Warum?
Die grossen Pandemie-Erklärer – es sind fast alles Männer. Das belegt eine Auswertung des Tamedia-Datenteams der Schweizer Mediendatenbank für die Jahre 2020 und 2021.
Christoph Berger, oberster Impf-Chef der Schweiz, taucht in fast 7000 Artikeln auf. Das ist der Spitzenwert. Bei Tanja Stadler, Professorin und Präsidentin der Science Taskforce des Bundes, sind es nur halb so viele.
Unter den 20 am häufigsten zitierten Corona-Expertinnen und -Experten in der Schweiz sind nur vier Frauen, berücksichtigt sind die Bereiche Wissenschaft und Klinik. Viele tauchen in der Top-20-Liste gar nicht erst auf. Obwohl sie akademisch hoch dekoriert sind. Und zum Coronavirus oder dessen Auswirkungen forschen.
Zwei Epidemiologie-Professorinnen haben sich nun bereit erklärt, über ihre Erfahrungen zu reden. Beide waren anfangs Teil der Taskforce.
Nicole Probst-Hensch leitet das Departement Epidemiologie und öffentliche Gesundheit am Schweizerischen Tropen- und Public-Health-Institut (Swiss TPH) in Basel mit über 100 Personen. Olivia Keiser führt die Abteilung Infektionskrankheiten und mathematische Modellierung am Institut für globale Gesundheit der Universität Genf. Beide erreichten nur einen Bruchteil der Artikel der meistgenannten Männer. Warum waren die zwei Forscherinnen so selten in den Medien?
Olivia Keiser: «Ich bin es nicht gewohnt. Anfangs habe ich daher alle Anfragen für Auftritte im Fernsehen abgelehnt und alle meine Antworten schriftlich gegeben – und vorher auch noch Kollegen gezeigt. Das kostet natürlich viel Zeit. Trotzdem habe ich in meiner Wahrnehmung recht viele Anfragen beantwortet. Es wurden aber oft keine grossen Artikel daraus.»
Nicole Probst-Hensch: «Zeitweise gab es sehr viele Anfragen von den Medien. Und es ist auch nicht so, dass ich keine beantwortet hätte – ich hatte zum Beispiel Auftritte im Schweizer Fernsehen. Aber ich habe nur Anfragen angenommen, bei denen ich inhaltlich substanziell etwas beitragen konnte. Zu Fragen, die man auch mit dem gesunden Menschenverstand beantworten konnte, habe ich mich nicht geäussert.»
Keiser: «Ich bevorzuge, mein Spezialgebiet etwas enger zu halten. Ich würde zum Beispiel nicht zu Laborfragen Auskunft geben. Und oft kamen die Journalisten nach einem Entscheid des Bundesrats und wollten einen Kommentar. Das habe ich nicht gemacht, weil ich mich lieber zu wissenschaftlichen Themen äussere und nicht gerne öffentlich kritisiere. Bloss einmal, als es um die Ansteckungen bei den Kindern ging, fand ich: Jetzt wird zu viel Blödsinn erzählt. Da habe ich mich dann durchgerungen für eine «Club»-Sendung im Schweizer Fernsehen. Es war eine gute Erfahrung. Ich hatte in der Zwischenzeit auch ein Medientraining absolviert.»
Petra Rohner ist Präsidentin von Swiss Women Network, einer Stiftung, die mehr als 160 Frauenorganisationen in der Schweiz eine Plattform bietet. Zur Tamedia-Auswertung sagt sie: Männer seien besser vernetzt und dadurch besser sichtbar. «Sie werden von Journalisten mit weniger Aufwand gefunden. Vielfach stehen diese Kontaktdaten bereits zur Verfügung, und es wird gar nicht weiter gesucht.» Letztlich sei es ein fehlender Anspruch der Medien auf Stellungnahmen von Expertinnen mit Doktor- oder Professorinnentitel.
Zudem liege der Fokus vieler Männer «ganz klar auf der öffentlichen Sichtbarkeit». Das sei Teil ihrer persönlichen Positionierung. Frauen hingegen überlegten sich auch, wie viel Zeit sie eine Stellungnahme nachträglich kosten werde – in der öffentlichen Diskussion. Daraus ergebe sich, «dass Frauen oftmals nur bereit sind, zu ihrem Kernthema Stellung zu nehmen».
Das Resultat ist ein grosser Gender Gap, nicht nur während der Corona-Pandemie. Laut einer Studie der Universität Zürich war 2020 nur knapp jede vierte Person, über die in den Schweizer Medien berichtet wurde, weiblich. Und seit 2015 hat sich die Diskrepanz nicht verändert.
Keiser: «Ich habe einen Twitter-Account. Ich verbreite da hauptsächlich Fakten und nichts Persönliches. Einmal habe ich geschrieben, dass ich eine FFP2-Masken-Empfehlung sinnvoll fände. Noch bevor die Taskforce dies empfohlen hat. Und prompt kam eine Anfrage der Medien. Letztlich war und ist es aber nicht mein Ziel, oft in den Medien zu sein. Ich habe sehr viel zu Corona gemacht mit Studien im Hintergrund – zum Beispiel mit Spitaldaten. Wir haben gemeinsam mit der Weltgesundheitsorganisation WHO auch mehrere Corona-Projekte in Afrika.»
Probst-Hensch: «Lange Zeit lag der Fokus der Medien sehr stark auf Infektionen, Tests und Impfungen. Ich selber forsche nicht auf Infektionskrankheiten, sondern im Bereich Umwelt, chronische Krankheiten und psychische Gesundheit. Die Corona-Pandemie hat aber auch eine andere, viel unsichtbarere Epidemie ans Licht gebracht, die der psychischen Probleme. Ich habe die Medien wiederholt darauf aufmerksam gemacht. Ich hätte mir ganz klar eine viel breitere Sicht auf die Pandemie gewünscht.»
Keiser: «Beängstigend war für mich die Radikalisierung der Gesellschaft. Nach meinen Äusserungen in den Medien erhielt ich sehr erboste Mails mit zum Teil sehr unpassender Wortwahl. Das war für mich eine neue Erfahrung.»
Probst-Hensch: «Ich frage mich oft, ob wir hätten verhindern können, dass sich die Gesellschaft in Extreme verrennt. Dass wir Diskussionen darüber führten, ob wir ungeimpften Menschen die Behandlung auf der Intensivstation verweigern, stimmt mich sehr nachdenklich. Genauso nachdenklich stimmt es mich, wenn wir Menschen nicht überzeugen können, dass Masken im öffentlichen Raum uns vor restriktiveren Einschränkungen bewahren.»
Der Gender Gap in den Medien ist letztlich auch ein Abbild des Geschlechtergefälles in den akademischen Führungspositionen. Gemäss dem aktuellen «She Figures»-Bericht der Europäischen Kommission beträgt der Frauenanteil bei den Professorinnen und Professoren an den zwölf Schweizer Universitäten 24 Prozent. Das ist tiefer als im EU-Schnitt.
Dieses Missverhältnis auf der höchsten Ebene dürfte auch in der Epidemiologie gelten, obwohl diese an sich eine Domäne der Frauen ist, wie Zahlen des Swiss TPH in Basel zeigen: In den letzten drei Jahren jedenfalls haben insgesamt 36 Personen einen Master in Epidemiologie abgeschlossen – davon drei Viertel Frauen.
In der EU ist der sogenannte Gender Equality Plan für Hochschulen und Forschungseinrichtungen seit diesem Jahr Pflicht. Das ist in der Schweiz nicht der Fall – trotzdem verfügen auch hierzulande fast alle Einrichtungen mittlerweile über detaillierte Gleichstellungsstrategien. Zu den Massnahmen gehören zum Beispiel Networking, Beratung oder Gender-Monitoring.
Probst-Hensch: «Ich rate Frauen und Männern, sich in der Forschung dort einzusetzen, wo man seine Passion hat. Dann kommt es gut – dann ist Sichtbarkeit nicht immer das oberste Ziel. In einer Pandemie kann es bei der Kommunikation nicht um persönliche Profilierung gehen. In meinem Fall habe ich dort beigetragen, wo es um die Frage der richtigen Balance an Schutz vor Infektionen versus Schutz vor zu rigiden Eindämmungsmassnahmen ging.»
Keiser: «Ich selbst habe in meiner Karriere keine merkbaren Nachteile erfahren. Aber es wäre sicher sinnvoll, zum Beispiel bei Anstellungen auch individuelle Lebensumstände zu berücksichtigen, wie zum Beispiel Kinder oder zu pflegende Angehörige. Auch finde ich es sinnvoll, möglichst diverse Teams zu haben. Dies nicht nur bezüglich Geschlechterverhältnis, sondern auch in Bezug auf Herkunft, Disziplinen, Kommunikationsstil usw. Wenn jemand eher zurückhaltend ist, heisst das sicher nicht, dass er oder sie schlechtere Arbeit leistet – aber solche Personen werden nach meiner Erfahrung bei Beförderungen oder Förderprogrammen zum Teil weniger häufig berücksichtigt.»