Katharina Ritz leitet IKRK-Delegation im Jemen: «Routine kann zum Sicherheitsrisiko werden»

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annabelle – Helene Aecherli – 

Ein Leben im Ausnahmezustand: Katharina Ritz ist Leiterin der IKRK-Delegation im umkämpften Jemen und organisierte einen der grössten Gefangenenaustausche der Geschichte. Eine Begegnung.

1081 Gefangene sollten ausgetauscht werden, das war der Deal, der letzten Herbst unter der Vermittlung der Uno in Genf ausgehandelt worden war. Die Konfliktparteien hatten gesagt: «Okay, aber unsere Gefangenen kommen zuerst.» Also choreografierten Katharina Ritz und ihre Teams den Gefangenenaustausch so, dass er für alle gleichzeitig über die Bühne gehen würde und sich keine Seite vor den Kopf gestossen fühlte. Zwei Tage waren dafür geplant, vier Flughäfen involviert, drei im Jemen, einer in Saudi-Arabien. Fünf Flugzeuge wurden gechartert, ihre Abflugzeiten synchronisiert.

An den Flughäfen kontrollierten erst die jeweiligen Autoritäten, ob alle Gefangenen eingetroffen waren, Teams des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (IKRK) doppelten nach, verteilten Hygienemasken und Desinfektionsmittel, liessen Informationsspots zur Pandemie laufen, denn viele der Freigelassenen hatten jahrelang im Gefängnis gesessen und wussten nicht, was Covid-19 ist. Am Flughafen von Sanaa hingen Katharina Ritz und ihre Teams ununterbrochen am Telefon, überprüften, wie weit die verschiedenen Parteien an den jeweiligen Orten waren, denn auch das Boarding musste gleichzeitig geschehen.

Friedensprozess gerät immer wieder ins Stocken

Und als Gerüchte zu kursieren begannen, dass man Leute wieder aus den Flugzeugen herausgeholt hätte, klärten sie ab, beschwichtigten, stellten richtig. Einmal nur mussten sie eine Maschine, die zu früh auf die Startbahn geschickt worden war, zurückrufen. Ein Schreckensmoment. Doch irgendwann, sagt sie, lief alles. Und man realisierte: Es passiert auch mal was Gutes. Katharina Ritz leitet seit knapp einem Jahr die IKRK-Delegation im Jemen, ihr Hauptarbeitsort ist Sanaa im Norden des Landes. 800 Mitarbeitende sind ihr unterstellt – 150 internationale, 650 lokale –, sie sind im ganzen Land verteilt, auch über die Frontlinien hinweg.

Der Gefangenenaustausch war der grösste während eines Konflikts seit dem Zweiten Weltkrieg, ein Meilenstein für sie selbst und ein kleiner Schritt vorwärts im Friedensprozess, der immer wieder ins Stocken gerät. Denn die Huthis, die im Frühling 2015 die Hauptstadt Sanaa überrannten und den Krieg auslösten, haben den gesamten Nord-Jemen fest im Griff. Sie liefern sich, unterstützt von den iranischen Al-Quds-Brigaden und der Hisbollah, ein zähes Ringen mit Saudi-Arabien, seit Monaten läuft ihre Offensive auf die ölreiche Provinz Marib. Im Süden des Landes bekriegen sich Stammesmilizen und islamistische Gruppierungen, darüber hinaus kämpfen Separatisten an der Seite der Arabischen Emirate gegen jemenitische Regierungstruppen für einen unabhängigen Staat Süd-Jemen.

Gelassenheit und Fürsorge

Weit über 200 000 Menschen sind seit Ausbruch des Kriegs getötet worden, 80 Prozent der Bevölkerung, etwa 24 Millionen Menschen, sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. «Die Menschen sind müde und enttäuscht darüber, dass die Verhandlungen trotz allem noch kein konkretes Ergebnis gebracht haben», sagt Katharina Ritz. «Wir setzen alles daran, die Hoffnung aufrechtzuerhalten.» Ihr Einsatz im Jemen ist der jüngste in einer langen Reihe von Missionen. Unmittelbar zuvor war sie vier Jahre im Irak, leitete dort die 1000-köpfige Delegation. Frühere Einsätze führten sie nach Libyen, Afghanistan, Eritrea, Ruanda, in die Zentralafrikanische Republik.

Katharina Ritz fiel mir auf, als sie in Fernsehinterviews über die Lage im Jemen sprach. Sie tat es mit einer Gelassenheit und gleichzeitig mit einer Fürsorglichkeit, die berührte. Während viele, Frauen wie Männer, selbst nach einer kurzen Zeit in der humanitären Arbeit erschöpft oder desillusioniert sind, scheint ihr Engagement selbst nach 25 Jahren im Feld ungebrochen. Wir begegnen uns im Frühjahr, als sie ferienhalber in der Schweiz weilt. Katharina Ritz ist 53 Jahre alt, zierlich, trägt Jeans, Pullover, das Gesicht ungeschminkt, sie hat eine warme, dunkle Stimme. Sie lädt zum Gespräch in ihre Wohnung.

Bilder von einem Gefängnisinsassen

Die Räume sind lichtdurchflutet, einfach möbliert und vor allem: kaum dekoriert. Sie bringe nur ganz spezielle Sachen von ihren Missionen mit, erklärt sie. Die Teppiche aus Afghanistan, zum Beispiel, und die beiden Bilder aus dem Irak, die ein Gefängnisinsasse gemalt und ihr geschenkt hat, weil sie sein einziger Kontakt zur Aussenwelt gewesen war. «Er hat zum Malen alles verwendet, was er im Gefängnis finden konnte: Zahnpasta, Kaffeesatz, Farben von aufgeweichten Kleidern», erzählt sie. Bei Gefangenenbesuchen sind sie und ihre Kolleginnen oft «Punching Balls», werden bespuckt und angeschrien. «Manchmal aber erfahren wir auch grosse Dankbarkeit. Diese Bilder zeugen davon.» Und sie stehen für ein Leben im Ausnahmezustand, das für Katharina Ritz längst zum Alltag geworden ist.

Der ganze Artikel auf annabelle.ch

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