annabelle – Jacqueline Krause-Blouin
Sheila Heti verhandelte in ihrem Buch «Mutterschaft» die Frage, ob sie Kinder will – am Ende stand ein klares Nein. Wie sieht sie das vier Jahre später? Chefredaktorin Jacqueline Krause-Blouin hat die Autorin in Connecticut besucht.
Die kanadische Schriftstellerin Sheila Heti ist gewissermassen die Mutter der modernen Mutter-Bücher. Vor rund vier Jahren traf ihr Buch «Mutterschaft» einen Nerv. Schonungslos ehrlich und kompromisslos dokumentierte Heti ihren Prozess, ihre Suche nach einer Antwort: Will ich Mutter werden?
Die Antwort der Frau, die sich selbst als «absoluten Familienmenschen» bezeichnet: Nein. Kein Kind. Auf gar keinen Fall. So jedenfalls schliesst sie das letzte Kapitel in «Mutterschaft». Aber wie geht es ihr vier Jahre nach dieser lebensprägenden Entscheidung?
Ich treffe Sheila Heti in Connecticut, genauer im verschlafenen 3000-Seelen-Örtchen Niantic, ungefähr 200 Kilometer von New York entfernt. Sie wohnt in einem weissen Holzhäuschen mit Spitzengardinen. Eine Türglocke gibt es nicht. Dafür lautes Hundegebell, als ich klopfe. Das muss Sheila Hetis Rottweiler sein, von dem ich bereits gelesen habe.
Heti öffnet kichernd die Tür, der Rottweiler springt mich an. Ich unterschlage, dass ich Angst vor Hunden habe, um mich nicht gleich unsympathisch zu machen. Wir haben allerdings ein anderes Problem: «Oh, mein Gott. Wir tragen ja fast dasselbe Kleid», ruft Heti, die viel kleiner ist, als ich sie mir vorgestellt habe. «Ich muss mich umziehen, das ist mir zu krass, wenn wir uns so spiegeln.»
Schon ist sie die Treppe hochgehuscht, während ich dem grummelnden Rottweiler gut zurede. «Braves Hundchen.» Anhand der Einrichtung würde man hier keine 45-jährige Intellektuelle aus Toronto erwarten, sondern eine strickende, Guetsli backende Oma, die den ganzen Tag über viel zu laut amerikanische Talkshows schaut. Zu ihrer Verteidigung muss man festhalten: Heti wohnt nur temporär in Connecticut, weil sie an der hiesigen Eliteuniversität Yale unterrichtet.
«So, jetzt geht es mir besser», die Schriftstellerin steht nun in einem Jupe mit Blumenprint und weissem Tanktop vor mir. Sie schlägt vor, dass wir mit dem Hund spazieren gehen. Unterwegs zieht der riesige Rottweiler die zierliche Frau aber dauernd in Richtungen, in die sie nicht gehen möchte. Also verwirft Heti ihren Plan. Der Hund muss zurück ins Haus. Zum Glück. Aber zuerst müssen wir ihn austricksen. Ich muss mich auf die Couch setzen, damit der Hund meint, so Heti, wir würden ebenfalls im Haus bleiben. Das Ablenkungsmanöver dauert ungefähr zehn Minuten, bis wir unter lautem Gejaule endlich rausrennen können. Soll noch mal einer sagen, Hunde seien unkomplizierter als Kinder.
Heti macht allerdings auch draussen keine Anstalten, endlich mit dem Interview beginnen zu wollen. Sie will mir lieber einen Vintage-Laden zeigen, in dem zwei ältere Damen Broschen polieren. «Schauen Sie, das müssen sie unbedingt anprobieren!» – sie streckt mir ein grünes Samtkleid entgegen. Sheila Heti umgibt etwas Zauberhaftes, man möchte ihr unweigerlich gefallen. Selbst dann, wenn sie abgefahrene Sätze sagt wie: «Mein Körper ist eine uralte Kreatur, die nach Zeichen im Universum sucht.» Also probiere ich das Kleid an, obwohl ich bereits weiss, dass es mir nicht gefallen wird, so gar nicht meinem Stil entspricht. «Wow, wunderschön!», ruft Heti als ich zögerlich aus der Kabine trete. Ich kaufe das Kleid nicht.
Dieses Gefühl, ihr gefallen zu wollen, begleitet mich aber weiterhin. Ich sage Dinge wie: «Ich wollte auch nie Mutter sein.» Und tue so, als ob ich mir meiner Rolle gar nicht sicher wäre. Schliesslich soll sie sich ihrer Entscheidung wegen nicht schlecht fühlen. Mir hingegen wird unwohl, als ich merke, was hier gerade passiert. Mit mir. Obwohl ich es – rein rational – besser weiss, geht ein unbewusster Teil von mir offenbar noch immer davon aus, dass man als Frau nicht komplett erfüllt sein kann, wenn man wie Sheila Heti keine Mutter ist. Ich schäme mich dafür. Wir müssen dringend reden. In ihrem Lieblingscafé angekommen bestellt Heti Muffins und Eistee.
Sheila Heti: Das klingt jetzt verrückt, aber in dem Moment, als das Buch veröffentlicht wurde, dachte ich mir: «So. Jetzt kannst du ein Kind machen». Ich habe mir plötzlich vorgestellt, wie ich schwanger auf Lesereise gehe und darüber spreche, warum ich niemals schwanger werden wollte.
Ja, aber ich hatte die ganze Sache analytisch so durchdacht, dass ich danach eine andere Beziehung zum Thema bekam. Eine Beziehung, die nicht emotional war, sondern rein intellektuell. Ich hatte mich aktiv befreit von all diesen unbewussten Gefühlen, die uns die Gesellschaft bei dieser Frage aufdrängt – und von meinen Hormonen. Ich fühlte mich zum ersten Mal frei genug, eine bewusste Entscheidung zu treffen.
Genau. An diesem Punkt kommt es fast nicht mehr darauf an, wie man sich entscheidet. Ich war mir plötzlich sicher, dass ich als Mutter und als Nichtmutter glücklich sein kann. Es spielte keine Rolle mehr. Hauptsache, man ist frei. Und vorher spielte nur das Kinderbekommen eine Rolle. Nun, dieser Prozess hat vier Jahre meines Lebens in Anspruch genommen, aber ich bin eben jemand, der lieber über Dinge nachdenkt, als sie zu tun.
Nein, ich habe gemerkt: Ich will wirklich kein Kind. Einzig während der Pandemie hatte ich einen kurzen Rückfall, aber das war nur, weil mein Leben plötzlich stillstand und ich das Gefühl hatte, jetzt wäre es schön, ein Baby zu bekommen. Als ich mein Leben zurückhatte, war ich sehr froh, dass ich keine verrückte Entscheidung getroffen hatte! (lacht)
Ich weiss. Und danach kommt: «Wie sieht Miles aus?»
«Ich bin jemand, der lieber über Dinge nachdenkt, als sie zu tun»
… der natürlich total erfunden ist und überhaupt nicht mein richtiger Freund. (zwinkert mir zu) Wollen Sie ein Foto sehen? (lacht und kramt ihr Handy aus der Jackentasche) Hier ist er ein Teenager und so sieht er jetzt aus. (Sie zeigt ein Foto eines schwarz gekleideten, etwas gealterten Beatnik-Hipsters.) Wir sind schon 13 Jahre ein Paar. Wenn ich mit jemand anderem zusammen wäre, hätte ich vielleicht viele Kinder bekommen. Aber für uns als Paar passt es so.
Ja, zu Beginn dieser Beziehung. Aber das war mehr instinktiv, ich war einfach so verliebt und wollte alles von und mit dieser Person. Auch ein Kind. Aber das war mehr so eine romantische Überreaktion.
Nein, ich habe das gehasst. Ich habe immer nur gespielt, dass ich eine Lehrerin bin, die anderen etwas beibringt.
Von meiner Mutter. Ich habe ihre Leidenschaft für ihre Arbeit fehlinterpretiert. In meiner Wahrnehmung brannte sie für ihre Arbeit und interessierte sich nicht sonderlich für uns Kinder. Jetzt weiss ich, dass ein Mensch viele Dinge gleichzeitig lieben kann. Es war nur bei meiner Mutter nicht so. (hält inne und beginnt sich am Bein zu kratzen) Juckt es Sie auch so?
(Wir kratzen uns beide an den Beinen.) Keine Ahnung, Hilfe!
Ich wusste, dass ich anders war, aber ich wusste nicht, warum. Ich musste es anderen Menschen erklären, damit ich es mir selbst erklären konnte. Vom Druck der Gesellschaft und der ewigen Fragerei nach den Fortpflanzungsplänen von Frauen ganz zu schweigen. Aber ich glaube, dass sich das unterdessen bereits verändert. Ich bin mir nicht sicher, wie sehr sich eine 25-Jährige heute noch rechtfertigen muss, wenn sie keine Kinder will.
Nein. (denkt lang nach und fängt wieder an, sich am Bein zu kratzen) Aber ich glaube, meine Mutter lebte die Träume ihrer Mutter, meiner Grossmutter. Sie zog von Ungarn nach Kanada und widmete sich dort ihrer erfolgreichen Karriere als Ärztin. Ich glaube, sie hat das nie bereut.
Nein. Nur in Bezug auf Onlineshopping.
Körper und Kopf machen unterschiedliche Fehler. Man sollte beiden nicht trauen. Was wäre für Sie denn leichter zu ertragen: Die Fehler des Körpers oder diejenigen des Kopfes?
Stimmt. Wenn der Kopf den Fehler begeht, dann fühlt man sich stärker verantwortlich. Mir persönlich ist das lieber. Ich möchte Verantwortung für mein Tun übernehmen. Seit ich hier in Connecticut bin, wollte ich jeden Tag Yoga machen. Ich habe es genau einmal in zwei Wochen geschafft. Ist das nun ein Fehler des Körpers oder des Kopfes?
Aber der Körper war doch faul! Oder motiviert der Kopf den Körper nicht genug? – Aber ja, stimmt, der Kopf ist schuld!
Das Bedürfnis kommt aber vom Körper aus. Doch der Körper macht keine Fehler, weil er keine Moral kennt. Es gibt also nur Vergehen des Kopfes.
Ja, aber dann hat sich mein Kopf eingeschaltet und gesagt: Moment mal, was genau würde das denn bedeuten? Ich hätte einfach keine Freude daran, mich um ein Kind zu kümmern. Es steckt Freude darin, ein Kind lieben zu dürfen. Aber sich um eines zu kümmern, tagein, tagaus? Das ist einfach nur Arbeit. Früher war es eine körperliche Entscheidung, Kinder zu haben, heute ist es eine reine Kopf-Entscheidung. Wobei: Früher, und damit meine ich vor der Erfindung der Pille, hatte man als Frau auch gar nicht die Möglichkeit, sich gegen ein Kind zu entscheiden. Obwohl ich die Entwicklung natürlich begrüsse, ist es auch irgendwie einfacher, wenn man sich gar nicht entscheiden muss.
Schwer zu sagen, aber da ich schon als Kind sicher war, dass ich nie Mutter sein wollte, glaube ich, dass es nichts mit meinem Beruf zu tun hatte. Ich weiss nur, dass ich gern Erwachsenenspiele spiele. Und mit einem Kind spielt man nun mal Kinderspiele.
Bücher schreiben, Gespräche, Sex.
Ich glaube, ich wäre wie mein Vater geworden. Mein Vater hat mich bemuttert. Er hatte nicht viele Regeln, hat mich vor allem gelobt. Sein Hauptanliegen war, dass ich glücklich bin.
Ja. (lacht)
«Ich hätte einfach keine Freude daran, mich um ein Kind zu kümmern»
Der Bär wäre die offensichtlichste Antwort, aber er kann einen auch mit seiner Liebe erdrücken. Der Vogel ist zu sehr mit sich selbst beschäftigt und der Fisch zu sehr mit der Gesellschaft. Andererseits würde der Fisch gewiss kein narzisstisches Kind aufziehen.
(Lacht) Ja! Ich brauche einfach so viel Ruhe und Platz für meine Gedanken und Gefühle. Ich bin schnell überstimuliert. Ich glaube, ein Kind zu haben, wäre so, als könnte ich nachts nicht mehr träumen. Ich würde wohl irgendwie schlafen, aber der ganze Zauber wäre weg. Zumindest ein Teil von mir würde sterben und ich würde mich selbst vermissen. Aber ich kenne auch Künstler:innen, die durch die Elternschaft gar nichts verloren, sondern nur gewonnen haben. Aber bei mir wäre es nicht so gewesen, davon bin ich überzeugt.
Das klingt furchtbar, wenn Sie das so sagen. Aber ja.
Ich wollte, dass sich andere Frauen aufgefangen fühlen, falls sie auch solche Gedanken haben.
Das wusste ich nicht. (lacht) Aber das ist gut. Ich bin ein glücklicher Mensch und ich empfinde keinen Mangel. Also freue ich mich, dass ich für andere ein Vorbild sein darf.
Nein, weil es nicht für alle eine Falle ist. Und ich fühle mich niemandem überlegen. Vielleicht wäre ich auch als Mutter glücklich geworden, das kann ich nicht wissen. Ich weiss nur, dass ich jetzt glücklich bin.
Ja, vielleicht Virginia Woolf oder Oprah Winfrey. Frauen, die der Welt so viel gegeben haben, dass man ihnen verzeiht, dass sie ihre biologische Pflicht nicht erfüllt haben. (lacht)
Nun, in dem Moment, in dem jemand erfährt, dass du Mutter oder Nichtmutter bist, ändert sich die Art und Weise, wie du angesehen wirst. Es gibt als Frau keine neutrale Position. Du bist immer Mutter oder Nichtmutter. Das ist bei Männern anders. Sie sind einfach Mann. Elternschaft ist nicht so zentral für ihre Identität.
Ich bin bestimmt auch selbstbezogen.
Juckt es Sie auch immer noch? (lacht)
Also wenn ich mir selbst eine Mutter wäre, wäre ich wirklich eine miserable. Ich lasse mich zum Beispiel rauchen und viel zu viel Geld für Kleidung ausgeben (lacht). Nein, ich bin niemandem eine Mutter. Nicht mal mir selbst.
… zu viele Kinder zu haben, nur ein Kind zu haben …
Doch, die, für die man sich selbst entscheidet. Scham kommt von aussen. Und sie kommt von innen. Aber wenn sie innen keinen Platz findet, dann kann die Scham von aussen dir nichts anhaben. Ich kenne übrigens nur Männer, die ehrlich sagen, ich wünschte, ich hätte keine Kinder gehabt. Das hat zu mir noch nie eine Frau gesagt. Da frage ich mich – empfinden Frauen anders oder schämen sie sich zu sehr, so etwas zuzugeben?
Ja, ich glaube, daran ist mehrheitlich die Gesellschaft schuld. Mädchen wird schon früh eingetrichtert, dass sie sich um andere kümmern, dass sie helfen müssen, damit sie gemocht werden.
Ich glaube, das Kinderbekommen würde als wichtiger angesehen und es würden mehr Ressourcen zur Verfügung gestellt, um den Männern nach der Geburt zu helfen. Und Abtreibungen wären überall legal, selbst hier in den USA. (verdreht die Augen)
Ja klar, aber das ist doch auch lächerlich, nicht? Kinderfrei klingt so nach nackt auf der Strasse tanzenden Freiheitsköniginnen! (lacht) Schöner wäre es doch, wenn man diese Definitionen fallenlassen könnte. Mir ist es ein Anliegen, diesen Graben zwischen Frauen mit und Frauen ohne Kind zu überwinden.
Aber es wäre doch viel interessanter, wenn Mütter auch mal sagen würden, ich möchte als Nichtmutter identifiziert werden oder umgekehrt. Man kann doch in seiner tiefsten Seele eine Nichtmutter sein und trotzdem ein Kind haben.
Wir müssen demütiger sein. Wir müssen aufhören, unsere Entscheidungen, die wir getroffen haben, als die einzig richtigen zu verteidigen. Wenn man sich weniger über seine Entscheidungen definiert, ist man auch weniger absolut und grosszügiger anderen Lebensentscheidungen gegenüber. Ich mag es, wenn Menschen eine fluide Identität haben.
Die haben auch einen Mangel an Demut, und mir ist da viel zu viel Eitelkeit. Ich habe Instagram schon länger gelöscht, weil es mir mehr genommen als gegeben hat.
«Man kann auch Nichtmutter sein und trotzdem ein Kind haben»
Nicht für mich. Ich glaube, das passiert nur bei Frauen, die wirklich Kinder wollten und bei denen es nicht geklappt hat. Dann gibt es Trauer um das nicht gelebte Leben, Trauer um das ungeborene Kind.
Gesellschaftlich betrachtet ist eine cis-Frau biologisch gescheitert, wenn sie sich nicht fortpflanzt.
Der ist auch biologisch gescheitert, wenn er sich nicht fortpflanzt.
Und man kreiert weitere Konsument: innen. Natürlich! Man kann auch sagen, dass man biologisch scheitert, wenn man ein Kind in die Welt setzt. Zumindest wenn man das Ganze aus der Perspektive der Erde betrachtet.
Wessen Geschichte?
Ach so, die! (lacht) Sie würde nach Niantic ziehen und Ihnen ein Interview in einem Café geben, weil es natürlich eine total fiktive Protagonistin ist, die überhaupt nicht auf mir basiert!
Schicksal bedeutet ja, einen Weg zu gehen, den man sich selbst nicht ausgesucht hat. Und ich habe das Gefühl, dass es eigentlich immer tragisch endet, wenn das der Fall ist.
Das kann man nicht wissen. Genauso wenig, wie man wissen kann, ob es das Schicksal überhaupt gibt, wahrscheinlich gibt es kein Schicksal.
Ja.
Der Artikel von Jacqueline Krause-Blouin