Alberta Schweitzer – Globetrotterin im Namen der Wissenschaft

Medien

Horizonte das Schweizer Forschungsmagazin – Astrid Tomczak-Plewka

Als Kind wollte sie Alberta Schweitzer werden, Ärztin wurde sie und engagierte sich am Krankenbett. Bald aber ging es Flavia Schlegel um die grossen gesellschaftlichen Zusammenhänge und sie wurde zur internationalen Wissenschaftsdiplomatin.

Den Weg von ihrer Wohnung im Osten Berns mitten ins Zentrum der Bundesstadt hat Flavia Schlegel mit dem Velo bewältigt. Sie erzählt, warum sie am liebsten auf zwei Rädern unterwegs ist – auch in den Ferien, etwa auf der Tour von Bern nach Marseille. «Das Tempo stimmt, nicht zu schnell, nicht zu langsam. Und die Sinne sind offen für viele Wahrnehmungen; Geräusche, Temperatur, Wetterstimmungen.»

Vielleicht ist diese Art der stetigen, nicht zu schnellen, nicht zu langsamen Fortbewegung Sinnbild für Flavia Schlegels Leben. Sie sagt: «Ich bin nicht jemand, der wahnsinnig plant. Ich habe auch keine Karriere geplant. » Sie habe einfach zugegriffen, wenn sich eine Chance ergeben habe – mit Erfolg, wie ihre Laufbahn als Wissenschaftsdiplomatin zeigt.

«Junge Menschen sind gestorben, weil sie keine sauberen Spritzen hatten oder weil ihr Sexualleben nicht der Norm entsprach.»

Schlegel ist in Sargans in einem «sozialdemokratisch-gewerkschaftlich orientierten SBB-Haushalt» aufgewachsen. Als Kind war sie oft krank, litt unter Asthma und war froh um den Arzt, der ihr helfen konnte. Diese Erfahrung sei prägend für ihre Berufswahl gewesen. «Ich hatte so Fantasien, eine Alberta Schweizer in Afrika zu werden», erzählt sie lachend. So studierte sie Medizin und arbeitete nach dem Studium im ersten städtischen Aids-Hospiz in Zürich. «Dort habe ich als junge Ärztin die Grenzen ärztlichen Handelns gesehen. Junge Menschen sind gestorben, weil sie keine sauberen Spritzen hatten oder weil ihr Sexualleben nicht der Norm entsprach», sagt sie mit einer Dringlichkeit, die auch aus der zeitlichen Distanz von fast 40 Jahren die Erschütterung noch spürbar macht.

Die junge Ärztin erkannte, dass sie sich anstatt mit Einzelschicksalen mit Fragen der öffentlichen Gesundheit auseinandersetzen wollte, mit dem Verhältnis des Staates zum Individuum, der Rolle der Wissenschaft im Gesundheitssystem, mit Fragen nach Gerechtigkeit und Ungleichheit bei der Gesundheitsversorgung. Diese Fragen führten sie ins Bundesamt für Gesundheit, wo sie unter anderem die Stop-Aids-Kampagne leitete.

 

Nach ein paar Jahren beim BAG wechselte die St. Galler Oberländerin 2002 den Kontinent und war drei Jahre als Wissenschaftsrätin an der Schweizer Botschaft in Washington tätig. Ihr Job war es, Werbung für den Wissenschaftsstandort Schweiz zu machen. Es war die unruhige Zeit nach den Terroranschlägen des 11. Septembers 2001. Im Fokus standen die Auswirkungen der Anschläge auf die US-Forschungsund -Bildungspolitik, wie beispielsweise Einreiserestriktionen. Die Schweizerin organisierte aber auch Besuche von US-Wissenschaftsdelegationen in der Schweiz und etablierte die Zusammenarbeit mit verschiedenen Wissenschaftsorganisationen.

Zur „Madame Vogelgrippe“ gestempelt

2005 kehrte Flavia Schlegel als Vizedirektorin ins BAG zurück – wieder mitten in einer Krise: Die Vogelgrippe gab einen ersten Vorgeschmack darauf, wie die Welt 16 Jahre später durch eine Pandemie aus den Fugen geraten sollte. «Der Druck von Politik und Medien war schon damals sehr gross», sagt Schlegel. Für ihren Auftritt in der SRF-Arena vom 14. Oktober 2005 wurde sie in den Medien heftig attackiert. So hiess es etwa im Sonntagsblick, Schlegel wolle «Madame Vogelgrippe» sein, könne aber ihre Botschaften nicht rüberbringen. In der Sendung selbst hatte sie sich jedoch nicht aus der Fassung bringen lassen, und innerhalb des BAG wurde ihr der Rücken gestärkt.

Auf die Frage, ob sie Krisen braucht, sucht Schlegel nach der passenden Antwort: «Ich brauche immer wieder Veränderung und neue Aufgaben. Aufbauen und Verändern liegen mir, steady state ist nicht mein Ding.» 2008 war wieder Aufbauarbeit angesagt: Flavia Schlegel kam als Leiterin zum neuen Wissenschaftshaus Swissnex in Schanghai – eine Vertretung der Schweizer Wirtschaft und Wissenschaft im Ausland. Und wieder herrschte Krisenstimmung: Die Pleite der US-Investmentbank Lehman Brothers erschütterte gerade die Finanzwelt. «Swissnex war zu zwei Dritteln fremdfinanziert, da wurden wir nervös», erinnert sie sich. Die Angst war unbegründet. Viele wollten in den neuen globalen Player China, der sich langsam öffnete, investieren.

«Auf meinem Schreibtisch lag die ganze Welt.»

 

Schlegel nutzte diese Öffnung, organisierte Events an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Kultur, etwa «Barbecue-Lectures» in einem Museum, eine Veranstaltungsserie mit chinesischen und schweizerischen Kunstschaffenden und Forschenden. Auch hier fungierte die Ostschweizerin wieder als Promotorin des Standorts Schweiz und trieb die Zusammenarbeit mit China in Forschung und Innovation voran. Rückblickend sagt sie: «Wir gerieten immer wieder in uns unbekannte und spannende Situationen, vor allem auch wegen sprachlicher Missverständnisse.» Sie habe sich zwar etwas verständigen können, «aber ich hatte ja keinen Sinologie- Hintergrund.»

Sprachlich war ihre nächste Station einfacher: Nach fünf Jahren in Schanghai wurde sie als Assistant Director General an die Unesco in Paris berufen – mit Unterstützung der offiziellen Schweiz. Inhaltlich kam hingegen eine neue Dimension hinzu: Schlegel vertrat nicht mehr nur die Interessen der Schweiz, sondern stand im Dienst aller Mitgliederländer der Unesco. «Auf meinem Schreibtisch lag die ganze Welt», sagt sie. Mit der Entwicklungsagenda rückten Themen in den Fokus wie Biodiversität, Wasser, Klima und schliesslich auch die digitale Transformation.

«Nach zehn Jahren im Ausland bin ich in der Schweiz ein bisschen fremd geworden.»

In Schlegels Pariser Zeit verschärfte sich die geopolitische Situation: Donald Trump wurde Präsident der USA, China stieg zur Weltmacht auf, Russland wurde autoritärer. «2014 waren unsere Sitzungen noch konstruktiv », erinnert sie sich. «Ab 2018 verhärteten sich die Fronten.» Sie beobachtete eine zunehmende Entsolidarisierung und Polarisierung. 2019 kam sie schliesslich in ihr Heimatland zurück, wo sie seither als selbstständige Beraterin für Universitäten, Behörden und NGOs tätig ist. «Nach zehn Jahren im Ausland bin ich ein bisschen fremd geworden», konstatierte sie.

Die Tochter einer Italienerin fühlt sich sowieso nicht zuerst als Schweizerin: «Ich sehe mich primär einfach als Bürgerin, vielleicht eher als Europäerin. Die europäische Musik und Literatur haben mich geprägt.» Und sie schiebt nach, dass sie es schätze, in einem Land zu leben, wo die Demokratie «einigermassen» funktioniert. «Ich bin froh, dass ich während der Pandemie in der Schweiz war», so die ehemalige Ärztin. «Ich war sehr dankbar, dass ich immer joggen gehen konnte.»

Jetzt noch Hackbrettspielen lernen

Stillstand ist für Schlegel keine Option: «Was mich antreibt, ist das Interesse an neuem Wissen, an einer Lebensgestaltung, die Gerechtigkeit und Gleichheit hochhält und nicht nur auf technologische Lösungen setzt.» Auf ihrem Nachttisch liegen derzeit mehrere Bücher: «Natur gegen Kapital», ein öko-kommunistisches Manifest des japanischen Bestsellerautors Kohei Saito, und «Why fish don’t exist» von Lulu Miller – eine Mischung aus Biografie, Autobiografie, Philosophie und Psychologie.

Auch im beschaulichen Bern mit Blick auf die geliebten Berge: Herausforderungen reizen sie immer noch. «Ich lerne gerade, Hackbrett zu spielen. Der Klang fasziniert mich, die Geschichte.» Und dann erklärt sie gleich noch, in wie vielen Kulturen das Hackbrett verbreitet ist. «Ein ästhetisches Erlebnis.»

Der Artikel wurde von Horizonte, dem Schweizer Forschungsmagazin zur Verfügung gestellt.

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