Frauen im Krieg

Medien

Ladies Drive – Gulnaz Partschefeld – 

„Ich wünschte, ich könnte ein Buch über den Krieg schreiben, solch ein Buch, dass allein der Gedanke an den Krieg einen Würgereiz auslösen würde, richtig ekelhaft wäre. Ein Wahnsinn wäre. Dass selbst die Generäle angewidert wären…“ – schrieb in ihrem Roman „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“ die weissrussische Schriftstellerin und Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch. Sie hat mehrere Hundert Frauen interviewt, die im zweiten Weltkrieg gekämpft hatten, und einen Atlas der menschlichen Tragödie zusammengeschrieben. Durchdrungen von Hunger, Gewalt, Angst, Tod, Neid, Abschied, Scham, Konformismus, Lügen, Erniedrigung.

Während des Kriegs und auch nach dem Krieg. Geschildert von Pilotinnen und Krankenschwestern, Scharfschützinnen und Köchinnen, Partisaninnen und Wäscherinnen. Es waren ganz andere Geschichten über den Krieg, ohne pathetischen Kriegsethos.


Olena schiebt den Buggy vorsichtig vor sich her, zieht die Bremse an und setzt sich auf einen noch leeren Platz am Fenster. Der 4-jährige Matwej klettert auf den Schoss, die 2-järige Violetta schläft im Buggy, zugedeckt mit einem Schal. Den Koffer verstaut Olena unter dem Sitz, der Rucksack neben ihr auf dem Sitz. Sie winkt ihrem Ehemann und ihrem Onkel, die auf dem Perron stehen, ihr Mann ruft sie an. Der Zug fährt noch nicht los, sie wechseln die Blicke und Worte, muntern sich gegenseitig auf. Fast hätte sie ihn auch ohne Handy besser verstanden, der Ton kommt verzögert, und es ist auch immer wieder dasselbe, was er sagt. Alles wird gut. Hauptsache, sie ist bald in Sicherheit und die Kinder sind es auch. Er hole sie ab, sobald der „Scheisskrieg“ vorbei ist, ganz sicher, ganz bald. Sie habe doch schon immer eine Europareise machen wollen, was weine sie denn jetzt, macht er einen Witz. „Ja schon, doch nicht so!“ – erwidert sie lächelnd und zeigt auf die grosse Packung Windeln, für die es im Koffer keinen Platz gab. Im nächsten Moment werden sie beide auf einmal ernst. Warum steht bloss der Zug immer noch. Onkel Sawwa schaut sich auch unruhig um. Minuten und Sekunden des Wartens, die einen noch mehr verzweifeln. Olena möchte winken und zeigen, dass die beiden jetzt doch gehen sollen. In diesem Moment wird der Buggy von einem vorbeifahrenden Koffer berührt, das Kleine erschrickt und fängt an zu weinen. Das Abteil in ihrem Waggon ist inzwischen voll, zwei weitere Frauen mit Kindern sitzen Olena gegenüber. Der Zug fährt endlich los. Nun sind sie sechs Kinder, drei Frauen, zwei Kinderwagen und drei Koffer – gemeinsam auf einem Weg, auf dem im Gegensatz zu aller Logik des Reisens nicht das „WOHIN“, sondern einzig das „WOHER“ wichtig ist.

 

Marina hat die Tickets extra so gebucht, dass die an ihre Dienstreise noch ein paar entspannte Tage in Kiew dranhängen kann. Für den 24. Februar waren noch ein Meeting und ein Interview geplant, der Wecker stand auf 7 Uhr, um vor den Terminen noch ein paar E-Mails zu beantworten. In den frühen Morgenstunden jenes Donnerstags wurde sie von Sirenen wach, laute Sirenen ertönten anstelle des Weckers. Schnell zog sie den Jogginganzug und ihre Winterjacke an, nahm das Handy mit und rannte zur Hotellobby. Ist das alles überhaupt wahr? Von unterwegs blickte sie kurz auf die News. Verrückt, nein, das kann es nicht sein. Doch, das ist es. Von der Lobby aus wurden die Hotelgäste in den Schutzkeller gebracht, Frühstück gab es an dem Tag recht spät. Nur fünfzehn Gäste im ganzen Hotel, und da sich alle bereits im Schutzkeller kennen gelernt haben, wäre es nun unvorstellbar, allein an ihrem Frühstückstisch zu sitzen. Marina setze sich zur Familie mit einem kleinen Kind, zusammen haben sie im Schutzkeller den ganzen Morgen verbracht. Es wurde viel gesprochen. Man schreibt auf den Newsportalen, der Krieg habe angefangen, Russland ist mit dem Militär in die Ukraine einmarschiert. Sie tauschten sich aus. In russischen Medien kein Wort über den Krieg, anstelle dessen wird am Rande über eine „Sonderoperation“ in Donezk und Luhansk berichtet. Das Internet füllt sich mit Bildern, manche sind unglaubhaft, surreal. In Marinas Gedächtnis wechn die Bilder eine Erinnerung aus den Schul- und Jugendjahren, als sie im Geschichtsunterricht die Aufnahme der Stimme des sowjetischen Nachrichtensprechers Levitan gehört haben, der den Start des zweiten Weltkriegs am 22. Juni 1941 im Radio verkündet: „Achtung! … Wir verbreiten eine wichtige Regierungserklärung: Bürger und Bürgerinnen der Sowjetunion! Heute haben um 4 Uhr morgens die deutschen Streitkräfte ohne jegliche Kriegserklärung die Grenzen der Sowjetunion angegriffen. Der Grosse Vaterländische Krieg des Sowjetvolks gegen die deutschen Eroberer hat begonnen. Unsere Sache ist gerecht, der Feind wird zerschlagen. Der Sieg wird unser sein!“ Nachrichten und Ankündigungen werden gegenseitig vorgelesen, Bilder und Videos geschickt, weitergeleitet. Wie die zum Leben erwachten Szenen aus den Kriegsfilmen. Familienchats sind zu Kriegschats geworden. Wo bist du? Bist du in Sicherheit? Der Krieg, der Krieg ist ausgebrochen. Russland hat die Ukraine um 4 Uhr morgens angegriffen. Was wird jetzt kommen? Was nun? Wann und wie fährst du weg? Wird es evakuiert? Marina rief ihre Mutter in Moskau an. Sie solle nicht in Panik geraten, das wäre bestimmt eine ukrainische Provokation, sagte die Mutter zu ihr, war ja abzusehen, dass sie das tun. „Mama, du verstehst nicht, hier ist der Krieg!“ schrie Marina ihr Smartphone an. Sie legte auf.

 

Anna sortiert ihre Sachen. Alles aus dem Schrank auf den Boden, das eine oder andere probiert sie nochmals vorm Spiegel an. Auch das Snowboardequipment sowie zwei Kisten mit Riesenpuzzles, die letzteren sammelt sie. Eigentlich muss sie nun aus allem zwei Stapel machen: Sachen für ihre Cousine und für ihre Mutter. Just in case. Das hat ihr Darina empfohlen, die sie erst vor ein paar Wochen im Vorbereitungskurs für Zivilisten kennen gelernt hat und mit der sie sich sehr angefreundet haben. „Aber natürlich muss du auch ein Testament machen, ohne das geht es nicht“, sagte ihre 29-jährige Freundin, die sich bereits vor einigen Jahren für die Kampfeinheit gegen die aufständischen Separatisten angemeldet hat. „Du willst doch nicht, dass sich alle danach um dein Zeug streiten. Wenn etwas wäre. Auch einen Brief musst du an deine Familie schreiben. Es gibt eine Checkliste, an was man alles denken soll, ich schicke dir den Link. Man muss an alles denken, weisst du.“ Der Krieg verändert alles, dachte Anna. Und auch sie will nicht nur im Krankenhaus sein, wenn es zum Krieg kommt. Sie hat sich daher für einen Kurs angemeldet. Wenn ihre Heimat tatsächlich angegriffen wird, will Anna nicht nur an der „medizinischen Front“ ihren Dienst leisten. Der Gedanke, sie würde ihr Land verteidigen, und zwar kämpfend an der Front und nicht als eine Krankenschwester (was eigentlich ihr Beruf war), beschäftigte Anna seit langem. Inzwischen hat sie durch Darina auch weitere Frauen kennen gelernt, die seit 2014 den ukrainischen Kampfeinheiten beigetreten sind. Von der Gesellschaft werden diese Frauen immer noch nicht ganz akzeptiert, sie werden als etwas Exotisches in den Medien dargestellt, der Grossteil wundert sich über sie und teilt die Ansicht, dass Frauen im Krieg nichts verloren hätten. Anna ist das egal, sie hat beschlossen und der Familie beigebracht, dass das für sich das Richtige ist. Ihr Papa ist stolz auf sie, und die Mutter fängt auch nicht mehr zu weinen, wenn es zum Thema kommt.

Der ganze Artikel auf Ladies Drive

Text & Foto: Dr. Gulnaz Partschefeld  (Leiterin Events Office Universität St.Gallen)


Die Autorin hat drei Frauen porträtiert. Die Namen wurden auf geändert.
Olena und ihre zwei Kinder sind inzwischen in der Schweiz angekommen. Für sie, Matweij und Violetta wurde eine kleine Wohnung organisiert, die Gemeinde und Vertreter der ukrainischen Diaspora kümmern sich um die Einrichtung und das Equipment für Kinder.
Marina hat beschlossen, in Kiew zu bleiben, auch wenn sie russische Staatsangehörigkeit hat. Sie ist in Russland medial bekannt und nützt ihre Kanäle, um die russische Bevölkerung über den Krieg aufzuklären und das zu zeigen, was in russischen Medien, welche den Krieg immer noch als eine „militärische Sonderoperation“ nennen, nicht gezeigt wird. Für ihre Aussagen droht ihr in Russland eine Strafe bis zu 15 Jahren Haft.
Anna ist nur selten online und hat mit ihrer Einheit den dritten Standort seit dem Beginn des Kriegs. Wenn sie sich meldet, dann mit einem lustigen Bild oder einem Spruch. Heute kam von ihr eine Karte mit der Gratulation zum 8. März. Das Gelb der Sonnenblumen und das Blau des Himmels, mit der Überschrift „Ich wünsche den friedlichen Himmel und all die Blumen zu Füssen unserer tollen Frauen“. Unten auf der Karte steht „Ukrainian women are brave and strong, but need your support“.

 

Sponsoring