Die Unangreifbare: Wie Viola Amherd zur populären Bundesrätin und zum Idol für Frauen wurde

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NZZ am Sonntag – Rafaela Roth –

Sie ist pragmatisch, vernetzt und tritt bescheiden auf – wie die deutsche Bundeskanzlerin. Getragen von Netzwerken und geschützt durch 36 Kampfjets wurde Viola Amherd zum Idol vieler Schweizerinnen.

Beim Regieren zählen manchmal die kleinsten Zeichen.

Es ist ein Sommertag im Juni, als Elisabeth Joris am Briger Bahnhof ihren Rucksack schultert und langsam in Richtung Altstadt geht. Ihr Ziel ist eine Alphütte oberhalb von Simplon Dorf. Plötzlich verlangsamt ein kleiner, blauer Toyota Prius Hybrid neben der 75-jährigen Historikerin, Publizistin und Feministin. Joris lebt schon lange nicht mehr im Wallis. Zum Wandern kommt sie noch hierher.

Wer will nun was? Auf Augenhöhe angekommen, winkt ihr durch das Fenster jemand zu. Es ist Bundesrätin Viola Amherd, die am Steuer sitzt.

Die beiden Frauen lächeln, nicken, sie leben weit voneinander entfernte Leben: Eine steht links und eine in der Mitte. Eine ging nach Zürich, und eine ging nach Bern; eine schrieb Bücher über die Geschlechtergeschichte, und eine schrieb diese Geschichte selber. Man kennt sich kaum, respektiert sich nur – und man winkt sich zu. Es sind diese diskreten Zeichen unter Frauen, die Viola Amherd zum Erfolg gebracht haben. Die 59-Jährige sendet sie schon jahrelang.

Das klingt simpler, als es ist. Für ihren Weg bis ganz nach oben brauchte Amherd das widerständige Naturell einer Berglerin: Schritt für Schritt ging sie voran, einen Fuss vor den anderen, stoisch eigentlich. So beschreibt es ein alter Weggefährte. Sie bereitet sich gut vor, sie wählt solide Pfade. Sie weiss, dass sie das Wetter im Auge behalten muss, dass jeder Umbruch ihr rasch gefährlich werden könnte. Sie beisst sich durch, wenn sie müde wird, und sie weiss immer, wer ihr im Notfall helfen würde.

Dann läuft sie los bis auf den Gipfel, wo irgendwann aus der Bergwanderin eine Bundesrätin geworden ist, die genau zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort zu stehen scheint, die Freundinnen nah, die Feinde noch näher, gesichert durch ein stabiles Netz. Sie sitzt an der Macht, ohne zu mächtig zu scheinen, und wirkt dabei eigenartig frei. Wie konnte eine Bundesrätin, die nicht einmal die eigenen Parteikollegen richtig wollten, in drei Jahren so erfolgreich werden?

Frühes Netzwerk

Auftritt Viola Amherd, letzte Woche in Basel: Im Garten der Kulturkirche Paulus platzen gelb-blaue Ballone in der Hitze. Es gibt Lachs auf Salatgurke, Sommerkleider aus Satin und Stoffbänder an geflochtenen Hüten. Das hier sind Soroptimistinnen, ein internationaler Serviceklub für Frauen. Wer hinein will, braucht erst eine Einladung und dann eine Patin. Im Gegensatz zu Rotary kennt die Öffentlichkeit den Klub kaum. Und im Gegensatz zu Rotary servieren die Frauen hier den ersten Apéro selber. Zu elitär soll es nicht wirken. Frausein ist in den meisten Zusammenhängen etwas komplizierter.

Amherd begründete einen Ableger der Soroptimistinnen in Brig bereits 1993 mit. Der Klub engagiert sich auch für Projekte gegen Gewalt an Frauen, als Anwältin sah Amherd viele Fälle davon. Bevor sie nun fast dreissig Jahre später als Ehrengast bei der Jubiläumsfeier die Bühne betritt, bückt sie sich kurz und zieht sich die Hosenbeine lang. Mehr Eitelkeit ist bei Amherd nicht drin. Sie trägt heute ausnahmsweise Absätze, die sind aber immer noch drei Zentimeter tiefer als die der meisten anderen. Das hier ist ein Treuebesuch, fast mehr als in diese Kulturkirche passt Amherd in eine Kaserne der Schweizer Armee.

Sie hat seit Jahren keine Zeit mehr für die monatlichen Treffen der Soroptimistinnen, aber es geht jetzt ums Prinzip. Freundinnen vergisst man nicht. Und auf welche Art eine Frau Frau ist, ist Frau Amherd auch egal. Auf der Bühne lobt sie Frauennetzwerke, sie, die Frauen, müssten da immer noch aufholen, auch in der Armee. Ob Frauen da genug gefördert würden, fragt die Klubpräsidentin. «Jetzt schon», sagt Viola Amherd, und dann lacht sie, zieht den Kopf leicht ein, als hätte sie etwas ganz Freches gesagt und als gäbe es dafür vielleicht gleich einen Klaps auf den Hinterkopf. Das ist süss, natürlich lacht das Publikum mit ihr.

 

Eine steile Karriere

1992 ………….

Es ist die Art, auf die man in der Schweiz eine Feministin sein darf: pragmatisch, immer mit Witz, charmant, nicht gefährlich. Amherd packt Gleichberechtigung genau gleich an wie Verkehrsprobleme oder Tourismusfragen. Frauenförderung als pure Pragmatik. Allein der Zufall will es so, dass diese Haltung in der heutigen politischen Landschaft gut funktioniert und dass Amherd sich dafür nicht zu verstellen braucht. «Ja, das würde ich schon sagen», sagt Amherd später beim Interview, darauf angesprochen, ob sie Feministin sei. «Oft ist der Begriff negativ behaftet. Für mich ist das aber jemand, der sich für Frauenförderung und Gleichstellung einsetzt. So gesehen bin ich ganz klar eine. Es ist eine Frage der Gerechtigkeit.»

Für eine Mitte-Frau ist es trotzdem recht mutig, das zu sagen. Amherd nimmt sich die Freiheit und sagt es in aller Selbstverständlichkeit in ihrem warmen Walliser Dialekt, dessen Singsang am Ende jedes Satzes etwas höher wird, so dass alles wie eine Frage klingt und man beim Zuhören unweigerlich zu nicken beginnt. Und bei Amherd scheinen immer mehr mitzunicken: Die neusten Kampfjets, Frauen in der Armee, alle drei Olympia-Medaillen in einer einzigen Disziplin – plötzlich liegt das alles irgendwie drin.

Kritiker lauern

Natürlich gibt es Kritiker. Amherd schaffe sich im Verteidigungsdepartement eine männer- und militärfreie Zone, schreibt Hans Rickenbacher, Präsident der Gruppe Giardino, in seinem aktuellen Newsletter. Die Gruppe von Offizieren setzt sich für eine starke Milizarmee ein. Man müsse heute Walliser, weiblich und bei der Mitte-Partei sein, um im VBS noch Karriere machen zu können. Offiziere seien nicht mehr erwünscht. Amherd solle zu weit nicht gehen, denn in der Vergangenheit hätten es gestandene Generäle bereits geschafft, erfolgreich am Stuhl eines Bundesrats zu sägen. Welcher das war, sagt er nicht.

Amherd hat den Newsletter noch nicht gesehen, «aber das isch öi gliich», sagt sie. Es mache ihr jedenfalls keine Angst. Sie mache hier einen Job und versuche das so gut wie möglich zu tun. Und sie tut es, indem sie eine umweltfreundlichere Armee präsentiert und laut über die Möglichkeit einer Wehrpflicht für Frauen nachdenkt. Sie ersetzt den Armeechef durch einen neuen und entlässt den NDB-Chef nach Mobbing-Vorwürfen. Sie macht eine Frau zur Chefin der Sicherheitspolitik und eine andere zur Kommandantin der Höheren Kaderausbildung. Sie droht, Sportverbänden die Subventionen zu kürzen, wenn sie keine Frauen in die Kader nehmen, und Kommissionspräsidenten die Kommission aufzulösen, wenn sie keine Frauen vorschlagen.

Momentan ist sie schlicht schlecht angreifbar. Als agiere sie unter dem Schutz von 36 Kampfjets. Sie hat geschafft, was ihr Vorgänger Guy Parmelin nicht erreichte. Das Geschäft ist nach Jahren deblockiert, das Volk hat fast mehr zu ihr als zum Kostendach Ja gesagt, die Offiziere müssen dankbar sein, und jetzt kann Amherd handeln. Sollte der amerikanische F-35 doch durchfallen, ist sie vielleicht schon in einem anderen Departement.
Ein Wurf ist das schon – obwohl man ihr genau das nicht so nachsagt. Als Stadtpräsidentin von Brig galt sie einigen eher als Verwalterin. Sie führte die Stadtregierung elf Jahre lang. Die Gemeinde steht finanziell sehr gut da, etwas richtig Grosses machte sie damit nicht. Amherd baute Hochwasserschutzmassnahmen auf, Kreisel, Ausfahrten, ein Migros-Einkaufszentrum – und wurde eine Zeitlang Verwaltungsrätin bei der Migros im Wallis. Als Nationalrätin und Vizepräsidentin der CVP-Bundeshausfraktion fiel sie später nicht sehr auf.
Heute sagen Kritikerinnen, das Verteidigungsdepartement beantworte Fragen nicht mehr so gut wie auch schon und dass sie nicht auf europäische Kampfjets setzte, sei nicht Amherds Handschrift. Etwas viele Walliser gebe es langsam im VBS. Wenn man sich über Amherd umhört, ziehen viele einen Vergleich zur Deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel. Wie sie lange unterschätzt wurde, um dann die Macht zu ergreifen. Wie sie ihre Weiblichkeit unter Blazern fast schon kaschiert. Wie wenig Raum sie einnimmt, aber wie plötzlich Herzlichkeit und Ironie durchschimmern. Das Oberwallis war eine gute Politschule.
Kein Netz aus Intrigen

Es ist 2018. Die Mitte, die noch CVP heisst und im Wallis bis heute CVPO für CVP Oberwallis, verliert ihre populärste Bundesrätin Doris Leuthard und auch alle vier Jahre Mitglieder. Das Kandidatenkarussell dreht, die Frauenfrage schwingt mit, und im Oberwallis herrscht miese Stimmung. Man wurde hier letztens wieder konservativer, die «Schwarzen» gewinnen gegen die «Gelben» am sozial-liberalen Flügel. Es dürfe auch wieder einmal ein Mann sein, findet man, ein Starker im Bundesrat, der die Mitglieder zusammenhält.

Da taucht der Name Viola Amherd auf – und das Tal bricht mit einem selbst auferlegten ungeschriebenen Gesetz, das heisst: Wenn jemand von hier da draussen etwas werden kann, dann unterstützen ihn alle. «Einer von uns», heisst es dann normalerweise. Für «eine von uns» gilt das jetzt aber nicht. Ausgerechnet der einheimische «Walliser Bote» verwirft frühzeitig die Relevanz der Frauenfrage für die Bundesratskandidatur. Einige Zeit später betitelt die Zeitung Amherd als «Mauerblümchen» und schiebt Enthüllungen über einen Mietstreit nach, den sie vor Zivilgericht austrug. Amherd sollte stürzen.

Sie war vorbereitet. Seit sie 2005 in den Nationalrat nachrutschte, knüpfte sie in Bern an ihrem Netz. «Wir haben einander getragen», beschreibt es Elvira Bader, ihre erste Sitznachbarin im Parlament. Ida Glanzmann, Chiara Simoneschi-Cortesi, Thérèse Meyer-Kaelin, Elvira Bader, Viola Amherd – es war eine Gruppe von CVP-Frauen, die jede Neue auf Solidarität einschwor. Das Netz basierte nicht auf Intrigen gegen aussen, sondern auf Zusammenhalt nach innen. Die Frauen taten das diskret, zu viel Frauensolidarität wirkt immer noch schnell verdächtig. Amherd wurde Vize-Fraktionspräsidentin, strahlte aus bis nach links, liberal in Wirtschaftsfragen, etwas sozialer in gesellschaftlichen.

Die «schwarzen» Kollegen aus dem Wallis hatten das völlig übersehen. Als wären Frauennetzwerke unsichtbar. Nach erfolgreicher Wahl gratulierten alle herzlich. Amherd zog an ihnen vorbei in den Bundesrat, trat bald aus dem Windschatten von Karin Keller-Sutter, und heute sind die Kollegen wieder ganz nah: Der Walliser Beat Rieder ist Mitte-Ständerat, Philipp Matthias Bregy aus Naters ist Mitte-Fraktionschef. Halte die Freundinnen nah und die Feinde noch näher. Die beste Feindschaft ist wahrscheinlich eine zivilisierte. Dem «Walliser Boten» gab die Bundesrätin nie wieder ein Interview. Jetzt muss sie auch nicht mehr.

Amherd lacht, wenn man sie auf Oberwalliser Politik anspricht: «Ja, wenn man in der Walliser Politik die Lehre macht, hat man schon viel erlebt.» Ohne Netzwerk kommt man zu nichts. Die Frauen hatten wenig. Keine Krippen, keine Kontakte, keine Fristenlösung. Es war Brigitte Hauser-Süess, die sich als CVP-Frauen-Präsidentin dafür einsetzte. Eine Plakatkampagne zierte bald darauf das Oberwallis: «Babymörderin», stand da, dazu ein Bild von ihr und: «Jede Gesellschaft hat den Schmutz, den sie verdient.» Sie klagte bis vor Bundesgericht und gewann. Eine junge Anwältin stritt das durch: Es war Viola Amherd. Hauser-Süess wurde später für den Prix Courage nominiert.

Der ganze Artikel auf NZZ am Sonntag

Illustration; Noyau

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