Autorin Chimamanda Ngozi Adichie: «Ich bin so verdammt wütend auf den Tod»

Medien

annabelle – Jacqueline Krause-Blouin – 

Innerhalb neun Monaten verlor Chimamanda Ngozi Adichie Vater und Mutter. Die wohl bedeutendste afrikanische Schriftstellerin und Feministin über Wellen der Trauer und die richtigen Kondolenzworte.

Beyoncé sampelt ihre Texte, Dior druckt sie auf T-Shirts, all die Literaturpreise zu nennen, die sie gewonnen hat, würde diese Seite füllen. Chimamanda Ngozi Adichie ist eine der berühmtesten Schriftstellerinnen der Welt. Spätestens seit dem Ted-Talk «We Should All Be Feminists», in dem sie sich als «glückliche afrikanische Feministin, die Männer nicht hasst und gern für sich und nicht für Männer Lipgloss und Highheels trägt» beschrieben hat. Die 44-Jährige, die zwischen Nigeria und den USA pendelt, ist bekannt dafür, kein Blatt vor den Mund zu nehmen und mit Eloquenz und Charme auch die unangenehmen Themen nicht zu scheuen.

Die scheidende Bundeskanzlerin Merkel hat sie bei einem Podiumsgespräch in Düsseldorf dazu gebracht, sich zum ersten Mal in ihrer Karriere öffentlich als Feministin zu bezeichnen. Und als sie mit Michelle Obama über die Politik im Kontext mit den Haaren schwarzer Frauen diskutierte, wurden Tickets für den Event unter der Hand für über 5000 Franken gehandelt.

 

Aber seit einem Jahr hat sich die sonst so fröhlich strahlende Vorbildfrau in traurigen Nebel gehüllt. Sie verlor innerhalb neun Monaten Vater und Mutter. Und weil sie als Schriftstellerin vielleicht nicht anders kann, hat sie sich in «Trauer ist das Glück, geliebt zu haben» brutal ehrlich mit dem Tod beschäftigt. So ehrlich, dass man das Buch zuweilen weglegen muss, wenn man selbst schon einmal Erfahrung mit dem Tod machen musste. Ngozi Adichie liefert in diesem schonungslosen Werk nicht nur Antworten, vielmehr stellt sie einfach genau die richtigen Fragen zu diesem Thema, das für so viele noch immer tabu ist.

 

Zum Interview trägt sie einen metallisch glänzenden Turban und ein leuchtend grünes Top. Bevor das Gespräch beginnen kann, stellt sie der Interviewerin selbst einige persönliche Fragen. «Haben Sie schon mal einen geliebten Menschen verloren?» Man ist sich nicht ganz sicher, ob sie aus Empathie fragt, um von ihrem eigenen Schmerz abzulenken oder um herauszufinden, ob man der Thematik auch wirklich gewachsen ist.

 

Ab und zu kommen ihr die Tränen, manchmal muss man kurz bangen, dass es nun vielleicht zu viel geworden sein und sie das Gespräch abbrechen könnte. Aber just in solchen Momenten setzt sie sich aufrecht hin, entschuldigt sich nüchtern und erinnert sich selbst laut daran, dass sie sich ja freiwillig in diese Situation begeben habe. Trotzdem: Es muss selbst einem Medienprofi wie ihr einiges abverlangen, über das – wie sie sagt – schlimmste Jahr ihres Lebens zu sprechen.


annabelle: Chimamanda Ngozi Adichie, fiel Ihnen die Entscheidung schwer, über so ein persönliches Thema wie den Tod Ihrer Eltern zu schreiben?

Chimamanda Ngozi Adichie: Ich schreibe, um den Dingen einen Sinn abzugewinnen. Ich schreibe, wenn ich wütend bin, wenn ich traurig bin, ich schreibe, wenn ich glücklich bin. Aber in diesem Fall musste ich die Entscheidung treffen, ob ich das Geschriebene auch veröffentlichen will. Die Trauer überraschte mich, weil sie nicht so war, wie ich es erwartet hatte. Obwohl ich Ihnen nicht einmal sagen kann, was genau ich eigentlich erwartet hatte. Ich dachte, Trauer wäre dieser langsame, andauernde Nebel, aber sie kommt in Wellen: es gibt Tage, an denen es einem okay geht, und dann bricht man wie- der komplett zusammen. Ich hatte ja keine Ahnung, wie körperlich Trauer ist. Mein Herz raste ständig, ich hatte meinen Körper nicht im Griff. Und ich habe mich so unendlich schwer gefühlt. Das wollte ich mit den Menschen teilen. Wenn ich damit nur einer einzigen Person helfen kann, damit sie nicht so überrollt wird, wenn sie selbst in die Situation kommt, dann macht mein Schreiben Sinn.

 

Wenn man Mutter wird, sagt einem auch niemand so recht, wie einschneidend diese Erfahrung ist und was da alles auf einen zukommt. Ist das vergleichbar?

Oh ja! Man denkt, man weiss alles, weil man all diese Bücher gelesen, all diese Filme gesehen hat, aber niemand sagt einem, dass man es mit Depressionen, mit Panik zu tun bekommen kann. Und dass man sich manchmal wie eine totale Versagerin fühlt, weil das Baby nicht schläft, ständig schreit oder das Stillen nicht funktioniert. Die Trauer hat mich auf ähnliche Weise überrumpelt. Ich dachte, ich wäre einfach traurig. Aber ich wurde davon überrascht, wie wütend ich war. Ach was, ich bin es immer noch. Ich bin so verdammt wütend auf den Tod.

 

Können Sie benennen, auf wen oder was sich Ihre Wut richtet?

Es kommt auf den Tag an. Manchmal ist die Wut unfokussiert, dann bin ich wütend auf die ganze Welt. Und manchmal auf meine Freunde, meine Geschwister – die Leute, die mir am nächsten stehen. Ich habe gelernt, dass Trauer einen sehr dünnhäutig macht. Körperlich und psychisch. Dinge tun weh, die normalerweise nicht wehtun. Der kleinste Kommentar, den ich als unsensibel empfinde, kann eine Explosion auslösen.

 

«Die Menschen, die einen lieben, haben oft nicht sehr viel Geduld. Sie wollen, dass es einem wieder gut geht»

 

Wie lang darf man eigentlich trauern, bis man bitte schön wieder zu funktionieren hat?

Die Menschen, die einen lieben, haben oft nicht sehr viel Geduld. Sie wollen, dass es einem wieder gut geht. Und wenn es dann Tage gibt, an denen man lacht, denken sie, dass jetzt alles überwunden ist. Ich bin kürzlich so böse auf eine liebe Freundin geworden, weil sie zu mir sagte: «Du bist noch immer traurig wegen deines Vaters. Es ist schon ein Jahr her.»

 

Die Dinge, die Menschen zu einem sagen, wenn man trauert, sind ebenfalls Thema in Ihrem Buch. Kann man da überhaupt etwas richtig machen? Müssen wir unsere gesamte Kondolenz-Kultur überdenken?

Ich zumindest bereue sehr viele Dinge, die ich in der Vergangenheit zu Trauernden gesagt habe. Trauer ist so vielfältig, es gibt nicht den einen richtigen Satz. Gut gemeinte Phrasen wie «ich habe mal was Ähnliches erlebt» helfen jedenfalls nicht. (lacht)

 

Oder: «Sie waren alt und hatten ein gutes Leben!»

Also wenn ich das höre, möchte ich am liebsten jemandem eine reinhauen. Es geht doch nicht ums Alter. Ja, mein Vater war 88, aber er war verdammt lebendig. Selbst wenn er mit hundert gestorben wäre, wäre mein Herz in Stücke zerbrochen. Ich glaube, je simpler, desto besser. Ein einfaches «es tut mir leid» oder «ich weiss, dass du leidest» reicht. Es hilft schon, wenn Menschen anerkennen, dass man traurig ist. Ich kann es nicht leiden, wenn ich Sätze wie «oh, deine Eltern sind nun Engel» höre, oder «sie würden nicht wollen, dass du traurig bist». Ich bitte Sie! Ich habe meine Eltern angebetet, natürlich bin ich traurig. Wie könnte ich nicht? Aber die Erwartung ist, dass ich keine menschliche Reaktion zeige?

 

Vielleicht möchten die Leute einfach nicht mit ihrer eigenen Sterblichkeit konfrontiert werden?

Es ist schwer, eine trauernde Person zu sehen. Rational verstehe ich, dass es unangenehm ist, wenn jemand so entrückt ist. Man fühlt sich hilflos, weil man weiss, dass man ihr den Schmerz nicht ersparen kann. Wir leben in einer Welt, in der der Tod tabu ist. Wir verschleiern ihn mit blumiger Sprache, wir benutzen Euphemismen. Warum sagen wir nicht einfach «sterben», statt «aus dem Leben scheiden» oder «ableben»? Wir sehen der Ungeheuerlichkeit nicht ins Auge. Der Tod ist so final, so unverständlich.

 

«Manchmal glaube ich, dass das menschliche Bewusstsein nicht umsonst so grenzenlos sein kann»
Gab es einen Moment, in dem Sie Ihrer fünfjährigen Tochter vom Tod ihres Opas erzählt haben?
Sie hat mich gesehen. Ich war allein im oberen Stock, als mir mein Bruder am Telefon mitgeteilt hat, dass mein Vater tot ist. Als meine Tochter hochkam, soll ich komplett ausgerastet sein und mit den Fäusten auf den Boden geschlagen haben. Ich erinnere mich nicht mehr. Später habe ich es ihr versucht zu erklären, aber es ist so verdammt schwierig. Ich weiss doch auch nicht, wie man das macht. Einerseits will ich ihr nichts vormachen, andererseits möchte ich auch nicht, dass sie mich nur noch traurig und ausser Kontrolle sieht. Also tue ich an manchen Tagen so, als gehe es mir gut – das ist emotional wahnsinnig anstrengend.
Stellt sie viele Fragen?
Wenn sie mich weinen sieht, versucht sie immer, etwas zu unternehmen, damit ich mich besser fühle. Einmal hat sie mir Taschentücher in meine Hoodie-Tasche gestopft und gesagt: «falls du sie brauchst, Mama». Das hat mir das Herz gebrochen. Und kürzlich hat sie gefragt: «Ich sehe Oma also wirklich nie wieder?» und ich habe geantwortet: «Ja, leider stimmt das.»
Kinder haben einen ganz offenen Umgang mit dem Tod, finden Sie nicht? Meine zweijährige Tochter hat kein Problem damit zu sagen: «Mami, die Fliege ist tot.»
Vor dem Tod meiner Eltern war mir nicht mal bewusst, dass meine Tochter das Wort «tot» überhaupt kennt. Sie ist sehr sachlich, aber sie versteht die Sache auch nicht vollumfänglich, sie ist ja erst fünf. Kürzlich hat sie mich gefragt, wann ihr Opa wieder aufwachen wird. Das hat mich komplett umgehauen – ich wünschte, ihre Auffassung der Welt entspräche der Wirklichkeit.
Glauben Sie in irgendeiner Form an ein Leben nach dem Tod?
Ich denke nicht gern darüber nach. Manchmal glaube ich, dass das menschliche Bewusstsein nicht umsonst so grenzenlos sein kann. Es kann doch nicht einfach ins Nichts gehen, oder? Sie wissen schon, diese religiöse Idee der Seele. Aber mir fällt es schwer, Fragen zu stellen, für die es keine Antworten gibt. Und noch dazu habe ich Angst vor diesen Antworten.
Hat sich Ihre Einstellung dazu verändert, seit Sie den Tod so hautnah erlebt haben?
Seit dem 10. Juni 2020, dem Tag, an dem mein Vater starb, ist mir der Tod sehr vertraut. Meine Mutter starb am 1. März 2021. Ich denke seitdem eigentlich ständig über den Tod nach. Warum leben wir, warum sterben wir? Warum lieben wir überhaupt, wenn eh alles endet? Das kann sehr zermürbend sein
«Das Leben hat gleichzeitig an Bedeutung verloren und gewonnen»
Sie haben auch fatalistische Momente. In Ihrem Buch schreiben Sie: «Feinde, nehmt euch in Acht. Das Schlimmste ist passiert.»
Ich habe neulich gelesen, dass man ein anderer Mensch wird, wenn die Eltern sterben, und ich stimme dem zu. Um es ganz ehrlich zu sagen: Ich habe keine Lust mehr auf Bullshit. Ich war in meiner Familie schon immer die, die ein bisschen anders ist, die, die kein Blatt vor den Mund nimmt. Aber im Herzen war ich eine sehr pflichtbewusste Tochter. Ich habe alles getan, damit meine Eltern glücklich sind. Das Wissen darum, dass sie auf dieser Erde waren, hat mein Verhalten unbewusst beeinflusst. Jetzt wo sie nicht mehr da sind, muss ich mich neu fragen, was mir wichtig ist, welche Art von Verhalten ich hinnehme, wo meine Grenzen sind, wie ich leben will. Es ist nicht so, dass ich das bisher nicht getan hätte, aber jetzt ist es viel existenzieller. Das Leben hat gleichzeitig an Bedeutung verloren und gewonnen: Ich schwanke zwischen «was hat das alles noch für einen Sinn?» und «unsere Zeit hier ist so kostbar». Ich will mir sicher sein, dass ich sie nicht vergeude.
Haben Sie viele Momente des Bereuens?
In Bezug auf meine Mutter, ja. Ich habe mich furchtbar schuldig gefühlt, dass ich mich immer wieder mit ihr über Nichtigkeiten gestritten habe. Um ehrlich zu sein, ich bin noch immer voller Schuldgefühle.
Sie bezeichnen sich als Daddy’s Girl. Gab es mal eine Zeit, in der Sie gegen Ihren Vater rebelliert haben?
Ich habe mich erst im Teenager-Alter in meinen Vater verliebt. Als ich kleiner war, war er sehr viel weg oder sehr distanziert. Er war schon okay (lacht), aber er war halt der Typ im Arbeitszimmer. Ich habe damals vor allem meine Mutter vergöttert – sie war die coolste, wärmste, wundervollste Person und sie hatte alles im Griff. Meine Mutter konnte einen Raum mit Licht füllen. Als Teenager habe ich gemerkt, wie sehr ich meinen Vater mag, und ich habe begonnen, ihn zu bewundern. Da habe ich verstanden, dass wir sehr viele Gemeinsamkeiten haben. Aber natürlich war er ein viel besserer Mensch als ich, geduldiger und rechtschaffener.
Haben es Partner von Daddy’s Girls schwer, den enormen Erwartungen Ihrer Partnerinnen gerecht zu werden?
Mein Mann und mein Vater haben sich zum Glück sehr gut verstanden. Ich habe mich nicht bewusst für jemanden entschieden, der Ähnlichkeit mit meinem Vater hat, aber jetzt muss ich sagen: Die beiden haben ziemlich viel gemeinsam. Und mein Mann wusste von Anfang an, wie wichtig mir mein Dad ist. Er hat erst gar nicht versucht, sich mit ihm zu messen. (lacht)
Hat sich Ihre Beziehung zu anderen Männern seit dem Tod Ihres Vaters verändert?
Ich glaube nicht. Wir leben in einer Welt, die noch immer mehrheitlich von Männern gesteuert wird. Mein Vater hat meine Einstellung zu Männern und dieser männerdominierten Welt sehr geprägt. Ich hatte Zeit meines Lebens nie Angst, dass mein Verhalten einem Mann nicht passen könnte, hatte immer das Gefühl, dass mir Respekt gebührt.
Warum?
Weil mein Vater mich respektiert hat. Es gibt so viele Mädchen, die mit der Auffassung aufwachsen, dass sie sich für einen Mann verändern müssten. Dank meines Vaters ist es mir komplett egal, wenn ich einem Mann nicht gefalle. Das ist sein Problem, nicht meins. Mein Vater hat mir beigebracht, dass es sehr gute Männer auf dieser Welt gibt. Ich bin eine lautstarke Feministin. Aber aufgrund der Basis, die mein Vater gelegt hat, hatte ich immer gute Beziehungen zu Männern. Nun ja, zu guten Männer, meine ich. (lacht)
Haben sich Ihre Eltern als Feministen bezeichnet?
Wissen Sie was? Ich glaube nicht. Aber nur weil das Wort noch immer so negativ behaftet ist. In der Art, wie sie ihre Leben gelebt haben, waren sie feministisch. Sie pflegten eine respekt- volle Beziehung und waren Freunde – eine Seltenheit zu ihrer Zeit. Und überhaupt: Vor ihrem Tod, waren sie überall «die Eltern der Feministin», sie konnten gar nicht anders, als das zu akzeptieren. (lacht)
Ihre Mutter starb wenige Monate nach Ihrem Vater. Ausgerechnet an seinem Geburtstag. Können Sie dem ein wenig Poesie abgewinnen?
Nein, ich kann das noch nicht erkennen. Für mich ist es eher wie ein richtig schlechter Film.
Hat es Ihnen in dieser schwierigen Situation geholfen, Geschwister zu haben?
Ich war kürzlich sehr wütend auf einen Freund, der etwas Falsches gesagt hatte. Mein Bruder hat mich zur Seite genommen und gemeint: «Es ist unser Schmerz. Du kannst nicht erwarten, dass ihn jeder teilt.» Das hat mir sehr geholfen und ich glaube, so ehrlich können nur die mit einem reden, die in der gleichen Situation stecken. Es ist wunderschön, Geschwister zu haben, wir sind sechs und wir alle trauern anders. Ich hätte mir auch ein Geschwisterchen für meine Tochter gewünscht, aber es hat leider einfach nicht mehr geklappt.
«Ich mag den Gedanken, dass man sich auch optisch verändern will, wenn etwas so Einschneidendes passiert»
Mit dem Tod gehen oft Rituale einher. In Nigeria gibt es sehr klare Vorschriften für trauernde Frauen, für Männer hingegen nicht. Warum herrscht da – selbst in der Trauer – eine solche Ungleichheit?
Weil wir in einer misogynen Welt leben. Diese Welt findet immer Wege, es Frauen schwerer zu machen. Ich stamme aus der Igbo-Kultur, in der Frauen nach dem Tod ihres Mannes teilweise weggesperrt werden. Sie müssen ihre Köpfe rasieren, dürfen nicht duschen und nicht essen. Die Männer müssen nichts dergleichen tun. Als meine Mutter uns mitteilte, dass sie sich den Kopf rasieren wolle, protestierten wir. Sie ist gebildet und prominent, sie hätte das ohne Probleme ablehnen können, aber sie war fest entschlossen, also mussten wir es respektieren. Ich mag den Gedanken, dass man sich auch optisch verändern will, wenn etwas so Einschneidendes passiert. Ich verstehe jetzt, warum sich Menschen nach einem Schicksalsschlag tätowieren lassen. Etwas Katastrophales ist passiert, wie kann ich da noch gleich aussehen, wenn ich nicht mehr gleich bin? Das Problem war also nicht der rasierte Kopf, sondern die Ungerechtigkeit. Nun gut, eines Tages kamen die anderen Witwen aus dem Dorf und rasierten meiner Mutter die Haare ab. Ich muss sagen: Sie sah wunderschön aus (fängt an zu weinen). Es gibt noch weitere kulturelle Praktiken: Sie durfte das Haus für drei Monate nicht verlassen, nicht das gleiche Essen zu sich nehmen wie der Rest der Familie, und am Ende der drei Monate musste sie zu einem ganz bestimmten Fluss laufen, um Wasser zu holen.
Gibt es denn gar keine solchen Regeln für Männer?
Ausser möglichst schnell wieder zu heiraten, meinen Sie? (lacht) Hier ist es so: Die Frau ist kaum gestorben und schon sagen alle zum Mann: «Du kannst nicht allein sein!» Zu den Frauen sagt das niemand. Im Gegenteil: Wenn eine Frau nach dem Tod ihres Mannes zu schnell wieder eine Beziehung anfängt, sagt man ihr nach, dass sie ihren Mann wegen des Neuen umgebracht habe.
Die Sprache, in der wir über den Tod sprechen, ist sehr interessant. Wir fangen langsam an, über verstorbene Menschen in der Vergangenheitsform zu sprechen. Wir haben all diese Begriffe, mit denen man konfrontiert wird: Witwe, Waise. Sie haben das als die «Grausamkeit der Sprache» beschrieben.
Ein Onkel sagte neulich zu mir: «Willkommen im Club der Waisen.» Da stutze ich und merkte, ja, es stimmt, ich bin jetzt Waise. Aber das Schlimmste ist die Vergangenheitsform. Ich fühle mich schuldig, wenn ich über meine Eltern in der Vergangenheit spreche, weil das bedeutet, dass ich ihren Tod akzeptiert habe. Und sollte ich das wirklich?
Konnten Sie sich von Ihren Eltern verabschieden?
Ich war in den USA, als mein Vater starb. Aufgrund der Pandemie waren die Flughäfen in Nigeria monatelang geschlossen. Dass ich so weit weg war, machte die Sache noch surrealer für mich, ich konnte es nicht begreifen. Meine Mutter sah ich zwei Wochen vor ihrem Tod. Als sie gestorben ist, bin ich sofort in meine Heimatstadt gefahren und habe sie gesehen.
Wie wichtig ist dieser Moment des Verabschiedens in Ihren Augen?
Warum fragen Sie?
Ich frage, weil ich meinen eigenen Vater nicht mehr sehen konnte und mir seitdem nichts sehnlicher als eine Verabschiedung wünsche.
Es ist ein sehr schwerer Moment, aber ich empfand ihn als hilfreich. Ich muss zwar nun immer das Bild meiner toten Mutter vor meinem inneren Auge wegschieben, aber ich bin trotzdem dankbar, dass ich mich verabschieden durfte. Für mich war es unglaublich wichtig. Ich hatte furchtbare Angst, dass sie nicht mehr gleich aussehen würde. Aber das tat sie. Es war meine Mutter. Nur in einem grossen Sarg. (weint leise)
Es tut mir leid.
Es ist in Ordnung. Ich habe mich ja entschieden, über den Tod zu sprechen, also tue ich das auch. Meine Schwester und ich haben den Schmuck ausgewählt, den sie bei der Beerdigung trug und ihre liebste Perücke – eine rötliche Afro-Frisur. (lächelt) Ich habe den Bestatter angefleht, sie nicht zu sehr zu schminken. Und er hat sich daran gehalten. Sie lag einfach da und ich habe leise zu ihr gesagt: «Mami, es ist Zeit, aufzustehen.»
«Ich bin jetzt eine Kirchgängerin, wie ist das nur passiert?»
In der Igbo-Kultur drückt man seine Trauer sehr öffentlich, fast performativ aus. Wie war das für Sie?
Ja, so eine Beerdigung gleicht einer grossen Feier. Ich hatte Angst davor und ich war so genervt darüber, dass die Leute über Musik und Tanz und Essen reden wollten, während ich komplett unter Schock stand. Aber als ich dann da war, habe ich gemerkt, dass Trauer nicht nur etwas Persönliches ist. In der Igbo-Kultur glaubt man, dass man Trauer nicht in sich hineinfressen, sondern rauslassen sollte – begleitet von Menschen, die einen unterstützen. Ich musste also ein Foto meiner Eltern in den Händen halten und schreien, tanzen, singen und laut ihre Namen rufen. Nun kann ich die Schönheit eines solchen Trauerrituals erkennen. Ja, man ist eine trauernde Familie, aber der verstorbene Mensch war eben auch ein Mitglied einer grösseren Gemeinschaft.
Sie fragen sich in Ihrem Buch, ob man in der Trauer «besitzergreifend» sein kann. Haben Sie eine Antwort darauf gefunden?
Ich glaube, ja. Es gibt Momente, in denen will ich, dass meine Trauer nur mir gehört. Dann will ich mit ihr ganz allein sein und niemandem ein Stück davon abgeben. Unfair, ich weiss.
Sprechen Sie mit Ihren Eltern?
(Schüttelt den Kopf)
Träumen Sie von Ihnen?
Ich hatte einen Traum von meinem Vater und er war grausam: Mein Vater war gar nicht gestorben, und ich musste allen sagen, dass es sich um ein Missverständnis handelte. Als ich aufwachte, musste ich den Schock ein zweites Mal erleben. Aber es gibt Leute, die schönere Erfahrungen gemacht haben. Meine Cousine etwa, die Tochter meiner Lieblingstante, hat von einer wunderschönen Umarmung mit ihrer Mutter geträumt. Ich habe sie gebeten, ihrer Mama auszurichten, dass sie meine Mutter bitte auch in meinen Traum schicken soll.
Der nigerianische Bischof Kukah hat eine Rede zur Trauerfeier Ihrer Eltern verfasst. Er liess darin verlauten, dass die katholische Kirche bedeutend feministischer sei, als man denkt. Wie fanden Sie das?
Nun, das war sehr weit hergeholt, aber ich schätze die Geste. Als meine Eltern starben, fing ich an, wieder in die Kirche zu gehen, um mich zu beruhigen. Und das, nachdem ich ihr viele Jahre lang ferngeblieben war. Ich bin mir der Probleme der katholischen Kirche selbstverständlich bewusst, es gibt fundamentale Dinge, die ich nicht akzeptieren kann: Frauen werden systematisch aus allen Entscheidungsprozessen ausgeschlossen, Homosexuelle werden wie Aussätzige behandelt, Frauen dürfen nicht abtreiben, und verhüten soll man nur natürlich, was zur Hölle das auch immer heissen mag. Meine Eltern waren treue Katholiken und ich wurde katholisch erzogen. Ich bin nicht mehr zur Messe gegangen, weil ich ideologische Probleme mit der Kirche hatte. Aber dann kommt die Trauer und Dinge ändern sich. Ich hätte nie gedacht, dass ich nicht nur zum Gottesdienst gehen, sondern mich sogar darauf freuen würde. Trauer verändert einen für immer: Ich bin jetzt eine Kirchgängerin, wie ist das nur passiert? (lacht) Es bringt mich meinen Eltern näher und erinnert mich an meine Kindheit. Und ich bin sehr nostalgisch, was meine Kindheit, eine Zeit voller Geborgenheit und Sicherheit, angeht. Erwachsenwerden bedeutet auch, zu akzeptieren, dass man nie alles haben kann. Also wägt man ab. Ich gehe zur Messe und finde dort Trost, aber ich gehe mit offenen Augen. Langsam denke ich sogar darüber nach, wieder zu beten. Aber ganz so weit bin ich noch nicht. (lacht)
Chimamanda Ngozi Adichie, Sie haben in diesem Gespräch geweint, aber auch gelacht. Ist es nicht seltsam, wieviel Humor im Tod steckt?
Ja, mich hat das auch überrascht. Manchmal fühle ich mich fast schuldig, wenn ich über etwas Banales lache. Wie kann ich nur lachen? Aber wenn man sich an jemanden erinnert, den man geliebt hat, muss man nun mal auch lachen. Mein Vater war sehr lustig. (weint) Wenn ich über ihn spreche, lache ich oft und dann – Sekunden später, kommen die Tränen. Lachen und Weinen liegen sehr nah beieinander. Und wo Liebe ist, da ist auch Lachen.
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  • Bild: Manny Jefferson
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