Wirtschaftsverband Advance: «Unternehmen nutzen ihr Riesenpotenzial an qualifizierten Frauen zu wenig»

Fokus

annabelle – Helene Aecherli

In der Arbeitswelt sind wir noch weit weg von Gendergerechtigkeit. Ein Businesstalk über den Wendepunkt Mutterschaft – und einen sehr unrühmlichen Weltmeistertitel.

annabelle: Alkistis Petropaki, Anna Mattsson, achtzig Prozent der Frauen in der Schweiz sind erwerbstätig, davon aber nur gut 42 Prozent Vollzeit, also in mindestens einem Neunzig-Prozent Pensum. Damit belegt die Schweiz von allen europäischen OECD-Ländern den vorletzten Platz. Wie ordnen Sie das ein?
Alkistis Petropaki: Die Zahlen sind ein Reality Check: Frauen gehen mit derselben Motivation an die Universitäten wie Männer. Sie bilden sich aus, wollen arbeiten, Karriere machen und Geld verdienen. Aber letzten Endes machen vor allem die Männer Karriere und viele hochausgebildete, talentierte Frauen landen zuhause …

Anna Mattsson: … und werden damit der Chance beraubt, die Arbeit auszuüben, für die sie qualifiziert wären. Und das ist für den Wirtschaftsstandort Schweiz eine verpasste Chance – gerade in Zeiten des Fachkräftemangels. Hätten Frauen hierzulande eine ähnliche Beschäftigungsquote wie in Schweden würde sich das Bruttoinlandprodukt gemäss aktuellem PwC Women in Work Index um gut 34 Milliarden Franken pro Jahr erhöhen.

Bleiben wir bei den Statistiken: Gemäss des neusten Gender Diversity Index von European Women on Boards ist die Schweiz auch in Bezug auf den Anteil Frauen im Top-Management auf dem untersten Teil der Liste – ist also gleich im doppelten Sinne ein Schlusslicht Europas.
Alkistis Petropaki: So ist es. Mit einem Anteil von 17 Prozent im Topmanagement und 22 Prozent im mittleren Management sind Frauen in den Führungsetagen stark unterrepräsentiert. Interessant ist aber, dass auf der untersten Karriere-Stufe, im sogenannten Non-Management-Bereich, der Frauenanteil sehr hoch ist. Er beträgt 44 Prozent. Das zeigt uns zwei Punkte, an denen wir ansetzen müssen: Die Unternehmen verfügen über ein Riesenpotenzial von gut ausgebildeten, qualifizierten Frauen, nutzen es aber zu wenig. Und: Viele Frauen nehmen sich quasi selbst aus dem Rennen, sobald sie Kinder haben. Sie unterbrechen ihre Karrieren, reduzieren ihre Pensen oder scheiden ganz aus.
Viele Frauen nehmen sich selbst aus dem Rennen, sobald sie Kinder haben
Alkistis Petropaki, Geschäftsführerin Advance

Eines der Hauptargumente dafür ist, dass sich ihre Erwerbstätigkeit kaum mehr lohnt, da ein Grossteil ihres Lohns in die Kinderbetreuung geht.
Alkistis Petropaki: Genau, das höre ich sehr oft – ist meiner Meinung nach aber ein Riesenfehler und eine komplett falsche Sicht auf die Welt.

Anna Mattsson: Es ist vor allem eine kurzfristige. Denn diese Frauen riskieren nicht nur, dass ihr Fachwissen irgendwann nicht mehr auf dem neusten Stand ist, sondern nehmen auch einen massiven finanziellen Verlust in Kauf, der sie möglicherweise lebenslang finanziell von ihrem Partner abhängig macht. Laut Berechnungen des Bundesamts für Statistik ist das Lebenseinkommen von Frauen in der Schweiz gut 43 Prozent tiefer als jenes der Männer, was sich bekanntlich auch auf die Altersvorsorge auswirkt: Frauen haben im Vergleich zu Männern über ein Drittel weniger Geld in der Pensionskasse – ein Fakt, den man gemeinhin als Gender-Pension-Gap bezeichnet.

Okay, aber das Argument der hohen Kosten für die Kinderbetreuung ist nicht falsch. Zumal verheiratete Zweitverdienende – und das sind in den allermeisten Fällen Frauen – steuerlich übermässig belastet werden. Ihr Zusatzeinkommen wird durch die hohe Steuerlast und die Kinderbetreuungskosten aufgefressen.
Alkistis Petropaki: Das Steuersystem der Schweiz zementiert das traditionelle Rollenmodell: Der Mann bringt das Geld nachhause, die Frau betreut die Kinder. Die Kosten für die Kinderbetreuung sind hierzulande gemäss einer Studie von Unicef die höchsten der Welt. Hat man zwei Kinder, die Vollzeit versorgt werden müssen, verschlingt dies knapp die Hälfte des Familieneinkommens. Da muss jemand den Kürzeren ziehen, und das ist meist die Frau. Letztlich sind aber nicht nur die Kosten der Kinderbetreuung ein Problem. Auch die vielerorts noch immer fehlenden Ganztagesschulen machen es für Eltern schwer, dass beide in einem hohen Pensum erwerbstätig sein können. Aber das sind Themen, die seit Jahren bekannt sind.

Das Mutterwerden ist nach wie vor der Game-Changer in der Karriere einer Frau. Würden Sie dem zustimmen?
Alkistis Petropaki: Zu hundert Prozent!

Anna Mattsson: Zumindest in der Schweiz. Es gibt weltweit kaum ein Land, in dem Frauen so lang unbezahlt der Arbeitswelt fernbleiben, sobald sie Mutter geworden sind. Das bestätigen auch die Erfahrungswerte in unserem neuen Whitepaper: Wir haben dafür 600 Frauen befragt. 97 Prozent haben einen Universitätsabschluss, 85 Prozent eine Managementposition, über drei Viertel sind Mütter. Gemäss unserer Umfrage hatten 83 Prozent mindestens einmal in ihrer Karriere eine Unterbrechung von mehr als drei Monaten. Siebzig Prozent dieser Unterbrechungen passierten nach der Geburt. Im Schnitt waren die Frauen danach zwölf Monate von ihrem Job weg – acht Monate länger als der gesetzlich festgelegte, bezahlte Mutterschaftsurlaub. In der breiten Bevölkerung bleiben Mütter ihrem Beruf sogar bis zu fünf Jahre fern. Das zeigen Zahlen der Schweizerischen Arbeitskräfteerhebung. Fünf Jahre – das ist in einem beruflichen Kontext eine sehr lange Zeit!

Alkistis Petropaki: Zudem erfolgen diese Unterbrüche oft gerade im Alter zwischen dreissig und vierzig, dann, wenn in der Regel die meisten Beförderungen anstehen. In dieser Zeitspanne heben die Karrieren der Männer ab, während die Frauen verschwinden. Jede siebte Frau kehrt nach der Geburt ihres Kindes überhaupt nicht mehr ins Berufsleben zurück.

Die durchschnittliche Unterbrechung von zwölf Monaten zeigt doch nichts anderes, als dass die gesetzlich festgelegten 14 Wochen Mutterschaftsurlaub viel zu kurz sind, um den Bedürfnissen der Frauen und auch vieler Männer gerecht zu werden. Im Vergleich: Norwegen hat eine 59-wöchige, Schweden eine 96-wöchige Elternzeit.
Alkistis Petropaki: Aus diesem Grund braucht es eine längere Elternzeit, die nicht nur Frauen, sondern beiden Partner:innen zur Verfügung steht. Ausserdem hilft es, wenn sie während der Elternzeit mit ihrem Arbeitgeber im Austausch sind, um so am Ball bleiben zu können. Die Elternzeit ist jedoch das eine, die Frauen nach der Babypause zu halten, das andere. Gerade in den ersten Jahren, wenn die Kinder sehr klein sind, braucht es von Seiten der Arbeitgebenden mehr Flexibilität. Das heisst etwa keine rigiden Präsenzzeiten oder keine Sitzungen vor neun oder nach 17 Uhr. Doch eine solche Flexibilität sehen wir erst in wenigen Unternehmen.

Anna Mattsson: Darüber hinaus spielen kulturelle Vorurteile mit. So geben in unserer Studie drei Viertel der Frauen an, sich als «working mother» in der Schweiz stigmatisiert zu fühlen. Sie hören von ihrem Umfeld, dass sie als Mutter zuhause bei den Kindern sein sollten, da sie die beste Bezugsperson seien, oder werden mit dem Vorwurf konfrontiert: «Wieso willst du arbeiten, wenn du Kinder hast?» Und noch immer wird darüber diskutiert, ob es gesellschaftlich vertretbar ist, seine Kinder in die Obhut anderer zu geben. Es wird jedoch kaum darauf hingewiesen, dass sich eine erfüllende Berufstätigkeit nicht nur positiv auf das Wohlbefinden der Mutter auswirkt, sondern gemäss Studien der Harvard Business School auch auf die Entwicklung der Kinder, gerade der Töchter.

Für Frauen kommt erschwerend hinzu, dass sie sich vor besondere Herausforderungen gestellt sehen, wenn sie nach einem längeren Karriereunterbruch wieder in ihren Beruf einsteigen.
Anna Mattsson: Leider, ja. Das grösste Problem ist die Work-Life-Balance: 43 Prozent der Frauen geben an, ihr Familienleben nicht mehr mit ihrem Berufsalltag vereinen zu können. Schwierig ist auch die Abwertung ihrer Kompetenzen: So haben gut zwanzig Prozent Verantwortlichkeiten abgeben müssen, jede Dritte hat ihre Führungsposition verloren, jede Fünfte die Unterstützung durch Mentor:innen. Das wirkt sich oft negativ aufs Selbstwertgefühl der betroffenen Frauen aus.

 

In unserer Studie gaben drei Viertel der Frauen an, sich als «working mother» in der Schweiz stigmatisiert zu fühlen

 

Job-Rückkehrerinnen müssen also nicht selten eine bittere Pille schlucken: Entweder sie akzeptieren eine andere Funktion, eine tiefere Position und damit einen niedrigeren Lohn, oder sie suchen sich einen anderen Job.
Alkistis Petropaki: Das ist es, was wir sehen, ja. 46 Prozent der Befragten nehmen nach der Rückkehr innerhalb des Unternehmens eine andere Funk- tion ein. Mehr als jede Fünfte wechselt das Unternehmen oder sogar die Bran- che, um eine Stelle zu finden, die ihren Bedürfnissen entspricht.

In der Studie wird festgehalten, dass dreimal so viele ausländische Frauen beruf lich aufsteigen wie Schweizerinnen. Ausländerinnen sind also eher bereit, die Extrameile zu gehen?
Alkistis Petropaki: Sie scheinen ihre Karriere mit einer weniger stark angezogenen Handbremse anzugehen. Schweizerinnen neigen eher dazu, eine niedrigere Position oder ein geringeres Erwerbspensum zu wählen – die meisten reduzieren auf achtzig oder sechzig Prozent –, mit dem sie alles unter einen Hut bringen können. Dies, um dem Anspruch zu genügen, auch für Familie und Hausarbeit verantwortlich zu sein.

Ist die Reduktion von Arbeitspensen aber nicht letztlich ein Wohlstandsphänomen? Man kann es sich leisten, nicht Vollzeit erwerbstätig zu sein.
Anna Mattsson: Kann man das tatsächlich? Wenn ich mir die Statistik zum Lebenseinkommen und zum Gender-Pension-Gap ansehe, würde ich sagen: Nein!

Frauen verdienen in vielen Positionen noch immer weniger als Männer. Wie stark fällt die Lohnungleichheit in Bezug auf Lebenseinkommen und Gender-Pension-Gap ins Gewicht?
Alkistis Petropaki: Die geringere Erwerbskraft der Frauen ist ein Fakt. Doch ist die unerklärbare Lohndifferenz mittlerweile der kleinste Faktor. Berufswahl und Karriereentwicklung sind die beiden relevanten Punkte und viel entscheidender als die Lohnungleichheit.

Sie rufen Frauen also dazu auf, beruflich mehr Gas zu geben?
Alkistis Petropaki: Natürlich können die Frauen auch noch etwas dazu tun, das ist ganz klar. Aber wissen Sie, bis jetzt hat man immer gesagt, die Frauen würden nicht gleich bezahlt, weil sie nicht genauso gut verhandeln können wie Männer. Die Frauen würden nicht befördert, weil sie nicht klar ausdrücken, dass sie befördert werden wollen. Und so weiter. Man hat stets den Fehler bei den Frauen gesucht und nicht im System. Doch genau dort muss man ansetzen und sich zum Beispiel mal die Beförderungsprozesse ansehen; also die Art und Weise, wie Frauen befördert oder eben nicht befördert werden.

Sie sagen, dass Frauen schon früh auf der Karriereleiter eine Position übernehmen sollten, die unmittelbar mit dem Geschäftsgeschehen verbunden sind. Was meinen Sie damit?
Alkistis Petropaki: Frauen bleiben sehr oft in Expertinnenrollen stecken ohne Budget- und Ergebnisverantwortung; unterstützende Aufgaben also, die keinen direkten Einfluss auf das Geschäftsgeschehen haben und somit auch nicht relevant sind für eine Beförderung. Einfluss erhält man in einem Unternehmen erst, wenn man Verantwortung über Personal oder Finanzen innehat.

Anna Mattsson: Das Thema «Diversität und Inklusion» wird zum Beispiel von Frauen vorangetrieben. Das verbessert zwar die Unternehmenskultur, wird aber kaum wertgeschätzt. Das heisst, es gehört in den meisten Betrieben nicht zu den lohnrelevanten Zielvereinbarungen des Managements.

Sie haben beide zwei Kinder. Ihre, Frau Mattsson, sind erst neun und elf Jahre alt – trotzdem waren Sie nie weniger als hundert Prozent erwerbstätig: Wie haben Sie das gemacht?
Anna Mattsson: Der Vater meiner Kinder ist sehr in die Kinderbetreuung mit eingebunden, und heute teilen wir uns die Betreuung fünfzig zu fünfzig.

Alkistis Petropaki: Ich hatte eine Tagesmutter und eine Haushaltshilfe – und ein konstant schlechtes Gewissen. Lief alles nach Plan, funktionierte das wunderbar. Aber wenn eines der – inzwischen erwachsenen Kinder – krank war oder eine Geschäftsreise anstand, wurde es oft schwierig. Zum Glück hatte ich ein Netzwerk von lieben Nachbar:innen, die im Notfall helfen konnten, und ein gutes Verhältnis zu anderen Müttern und Vätern in der Schule, mit denen wir kreative Lösungen gefunden haben, wie etwa einen alternierenden Mittagstisch. Doch das alles konnte ich nur stemmen, weil ich einen Partner habe, der zuhause gleichwertig Verantwortung übernahm.

Haben Sie nie damit geliebäugelt, das Arbeitspensum zu reduzieren?
Anna Mattsson: Doch – trotzdem habe ich mich dagegen entschieden: Meine Arbeit ist zwar sehr intensiv, bietet aber auch grosse Gestaltungsmöglichkeiten. Das schätze ich sehr – und am Ende geht es darum, was ich leiste, und nicht darum, wie viele Stunden ich im Büro verbringe. So schaffe ich es, Job und Familie unter einen Hut zu bringen. Ich habe aber lernen müssen, mir Grenzen zu setzen, zu priorisieren und Hilfe zu holen.

Alkistis Petropaki: Ich habe mir sehr oft überlegt, ob ich nicht reduzieren soll. Ich war damals, mit zwei kleinen Kindern und einem Hundert-Prozent- Pensum, oft sehr müde. Ausserdem hörte ich – wie so viele andere Frauen – Kommentare wie «Rabenmutter», «die armen Kinder», oder «Warum hast du Kinder bekommen, wenn du sie weggibst?» Mein Mann war nie ein Rabenvater, obwohl auch er hundert Prozent gearbeitet hat. Meine Karriere war mir aber wichtig, zudem wollte ich unabhängig bleiben. Und dafür braucht es eine finanzielle Basis.

 

Ich hatte eine Tagesmutter und eine Haushaltshilfe – und ein konstant schlechtes Gewissen

 

Alkistis Petropaki

Mit anderen Worten: Wer Karriere machen und finanziell unabhängig bleiben will, muss bereit sein, Vollzeit zu arbeiten.
Alkistis Petropaki: In der heutigen Businesswelt, ja. Bei einem Durchschnittspensum im Management von 97 Prozent herrscht eine Kultur der Vollzeit. Trotzdem glaube ich nicht, dass die Pensen per se das Problem sind, sondern die Tatsache, dass es hauptsächlich Frauen sind, die Teilzeit arbeiten. Und solange das so ist und Männer bis zu 150 Prozent weiterarbeiten, werden Frauen in Teilzeit nicht die gleichen Aufstiegschancen haben.

Nun sieht es hierzulande bezüglich Teilzeitarbeit bei Männern düster aus. Wie die International Labor Organisation erhoben hat, arbeiteten im ersten Quartal 2022 nur etwa 17 Prozent der Männer Teilzeit, aber eben rund sechzig Prozent der Frauen. Damit verzeichnet die Schweiz den europaweit grössten Gap zwischen männlicher und weiblicher Teilzeitarbeit.
Alkistis Petropaki: Gemäss internationalem Datenmaterial ist die Schweiz sogar Teilzeitarbeit-Gendergap-Weltmeisterin. In den Niederlanden beispielsweise arbeiten Frauen zwar noch etwas mehr Teilzeit als in der Schweiz, allerdings sind dort auch Männer viel mehr in Teilzeitpensen erwerbstätig. Laut dem Gender Intelligence Report, der auf Daten von 385 000 Mitarbeitenden aus 104 Schweizer Unternehmen und Organisationen basiert, sind es bei den Schweizer Männern übrigens gerade mal fünf von hundert, die in Pensen unter achtzig Prozent arbeiten. Das ist ein verschwindend kleiner Anteil.

Was ist zu tun?
Alkistis Petropaki: Unternehmen müssen Männern – ebenso wie Frauen – flexiblere Arbeitspensen und einen verlängerten Vaterschaftsurlaub anbieten, und vor allem: sicherstellen, dass sie diese Massnahmen auch nutzen. Ich höre immer wieder, dass Männer befürchten, es könnte ihre Karriere negativ beeinflussen, wenn sie ihr Pensum reduzieren – gerade im Hinblick auf Beförderungen.

Was ja angesichts der Tatsache, dass man ein Neunzig- bis Hundert-Prozent-Pensum haben muss, um befördert zu werden, nicht falsch ist.
Anna Mattsson: Neunzig oder hundert Prozent sind nicht in Stein gemeisselt. In einer idealen Businesswelt könnte man auch mit sechzig oder achtzig Prozent befördert werden, es würde dann einfach etwas länger dauern. Ausunserer Sicht wäre ein Modell erstrebenswert, in dem Mütter wie auch Väter eine Zeitlang sechzig oder achtzig Prozent arbeiten könnten, während die Kinder klein sind, so dass sie später wieder die Möglichkeit haben, Vollzeit zu arbeiten.

Alkistis Petropaki: Genau, das Ideal ist es ja nicht, dass alle sechzig Prozent arbeiten – das wäre wirtschaftlich auch nicht tragbar –, sondern dass es zu gewissen Zeiten mehr Flexibilität gibt. Jede zehnte der für unsere Studie befragten Frauen würden gern wieder Vollzeit arbeiten, hat aber nicht die Möglichkeit dazu. Sie bleiben in der Teilzeit stecken.

In die Teilzeitfalle tappen aber auch Männer, wenn sie nicht Vollzeit arbeiten. Ist das nicht ein Widerspruch? Einerseits sagen Sie: «Frauen raus aus der Teilzeitfalle!» Und andererseits, dass die Männer hinein sollen?
Anna Mattsson: Streichen Sie den Begriff Falle! Es geht schlicht darum, dass Frauen wie Männer zu gewissen Zeiten weniger arbeiten, dann ihr Pensum aber wieder hochfahren können. Teilen sich Elternpaare auf, gehen beide Karrieren stetig voran. Das Total dieser beiden Karrieren ist dann mehr, als wenn ein Teil komplett auf hört. Man passt sich an und unterstützt sich gegenseitig. Ein Indiz dafür, dass dies funktionieren kann, zeigen Daten von gleichgeschlechtlichen Paaren mit Kin- dern. Lesbische Paare kommen nach der Babypause beruflich wie finanziell schneller wieder auf dasselbe Niveau zurück als heterosexuelle. Der Grund liegt wohl darin, dass sie Job und Hausarbeit paritätischer aufteilen.

 

Unternehmen müssen Männern – ebenso wie Frauen – flexiblere Arbeitspensen und einen verlängerten Vaterschaftsurlaub anbieten

 

Alkistis Petropaki

Laut einer Studie der Unicef sind Väter eine der besten, aber die am wenigsten genutzte Ressourcen für die Entwicklung der Kinder. Wie bringt man diese Kunde Männern näher?
Anna Mattsson: Über Rollenmodelle: Das heisst, Bilder von Vätern zeigen, die erwerbstätig sind und gleichzeitig Kinder betreuen. Corona hat einen Wandel in Gang gesetzt: Früher waren Väter sehr versteckt. Dank der Zoom- Meetings wurden sie sichtbarer, oft gar regelrecht zelebriert, wenn die Kinder ins Bild hüpften. Es gibt heute viel mehr Männer, die offen sagen: «Ich muss jetzt meine Kinder abholen.»

Heute ist ein Wertewandel in Gang: Viele junge Menschen – Frauen wie Männer – finden, Zeit für eigene Projekte sei wichtiger als ein Vollzeitjob. Wunschdenken oder Blauäugigkeit?
Anna Mattsson: Ich denke, die Jungen schauen sich die Unternehmen genau an: Checken ab, wie divers sie aufgestellt sind, mit wem sie zusammenarbeiten würden, wie flexibel sich der Job gestalten lässt und vor allem: Wie sinnhaft ihre Aufgabe ist. Ich glaube nicht, dass die Jungen weniger arbei- ten wollen, sie wollen anders arbeiten. Flexibilität ist also nicht nur aus Gründen der Gleichstellung wichtig, sondern auch, um die nächste Generation anziehen zu können. Und die werden wir brauchen, um die komplexen Probleme dieser Welt anzugehen.

Alkistis Petropaki: Denn in spätestens zehn Jahren wird sich die Generation der Babyboomer aus dem Erwerbsleben zurückziehen. Das heisst konkret, dass wir in der Schweiz zehn Prozent der gesamten Workforce verlieren werden. Unternehmen, die weiterhin auf den traditionell männlichen Mitarbeitenden setzen, werden nicht genügend qualifizierte Leute finden. Firmen hingegen, die es schaffen, ihre Positionen vermehrt mit Frauen zu besetzen und flexible Arbeitsmodelle anzubieten, werden erfolgreicher sein. Unsere Leben brauchen in Zukunft ohnehin mehr Flexibilität. Denn es geht ja nicht nur um Mutter- und Vaterschaft, sondern ganz grundsätzlich darum, auf Lebensumstände reagieren zu können: etwa dann, wenn man Angehörige pflegen muss oder eine zusätzliche Ausbildung macht.

Anna Mattsson: Für Unternehmen lautet die Devise: Wer jetzt nicht auf diesen Zug aufspringt, verliert. Zu glauben, dass die Welt so bleibt, wie sie heute ist – das ist blauäugig.

Der Artikel von Helena Aecherli

Illustrationen: Niels Blaesi

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