«Wir sollten den Tod beim Namen nennen»

Fokus

Fritz und Fränzi – Virginia Nolan

Die Trauerexpertin Franziska Bobillier sagt, dass der Tod zum Tabu wurde, weil wir ihn aus dem Alltag verdrängt haben. Eltern sind deshalb bei Todesfällen oft überfordert, weiss die Psychologin – und erklärt, wie wir mit Kindern übers Sterben sprechen können.

Frau Bobillier, Sie begleiten Kinder und Jugendliche in Trauer ­psychologisch. Wie kommt so eine Begleitung typischerweise zustande?

Mein Spezialgebiet sind Trauerfälle innerhalb der Kernfamilie, also der Verlust eines Geschwisters oder Elternteils. Es sind in der Regel Väter oder Mütter, die sich melden, weil sie sich Sorgen machen, ob die Art und Weise, wie ihr Kind mit dem Tod des Familienmitglieds umgeht, normal sei. Kinder zeigen nach einem Verlust oft Verhaltensweisen, die nicht dem Bild entsprechen, das wir vom trauernden Kind haben.

Wie sieht dieses Bild denn aus?

In den Medien sehen wir meist dieselben Fotos zum Thema: Kinder, die ihre Hände vors Gesicht schlagen, mit tränenerfülltem Blick ins Leere starren – das ist Trauer, wie sie Erwachsene erwarten.

 

„Kinder können ins Spiel vertieft sein und urplötzlich von ihrer Trauer ­überwältigt werden.“

Neulich meldete sich eine seit Kurzem verwitwete Mutter, weil die Kindergärtnerin der Tochter Bedenken geäussert hatte: Das Kind spiele normal und weine nie, womöglich verdränge es seine Trauer. Das ist typisch: Erwachsene haben eine bestimmte Vorstellung von Trauer, und wenn Kinder sich nicht danach verhalten, denken sie, etwas stimme nicht.

Was unterscheidet kindliche von erwachsener Trauer?

Sie ist lebhafter. Kinder können ins Spiel vertieft sein und urplötzlich von ihrer Trauer überwältigt werden – ebenso rasch nehmen sie ihr Spiel wieder auf. Die deutsche Autorin Gertrud Ennulat prägte in diesem Zusammenhang den Begriff der Trauerpfützen, in die Kinder hineinstolpern und wieder heraushüpfen. Es handelt sich um eine ge­sunde Art, Gefühle zu regulieren.

Auch trauernde Erwachsene schwanken zwischen verlustorientierten Mo­men­ten und solchen, in denen sie sich dem Leben zuwenden. Kinder tun dies aber viel sprunghafter, was Erwachsene ihnen oft als Unreife auslegen. Wenn sie ein Kind an einer Beerdigung spielen sehen, denken sie, es sei eben zu jung, um das Geschehene zu verstehen.

Wann begreift ein Kind den Tod?

Die meisten wissenschaftlichen Publikationen nennen vier Aspekte in der Entwicklung des Todeskonzepts, die ein Kind mit der Zeit zu verstehen lernt. Erstens: Der Tod bedeutet völligen Stillstand der Körperfunktionen. Zweitens: Er ist nicht rückgängig zu machen. Drittens: Alle Lebewesen müssen einmal sterben. Viertens: Die Ursachen des Todes sind biologisch. Mit zunehmendem Alter begreifen Kinder diese vier Dimensionen meist in entsprechender Reihenfolge.

Wann ist ein Kind so weit?

Das hängt vom Entwicklungsstand ab. Durchschnittlich fangen Kinder ab etwa zwölf Jahren an, auf abstrakter Ebene zu denken und Annahmen zu treffen, die über ihre eigenen Erfahrungen hinausgehen. Sie beginnen, hypothetisch zu überlegen. Zum Beispiel: Alle Lebewesen müssen sterben. Meine Mutter ist ein Mensch. Daraus folgt: Auch meine Mutter muss einmal sterben.

In dieser Lebensphase begreift das Kind, dass nicht nur alte Menschen sterben können, es weiss, dass mit dem Tod alle Körperfunktionen enden, dass er irreversibel ist und biologisch bedingt, also nicht die Folge von Zauberei. Bei jungen Kindern ist dagegen das sogenannte magische Denken sehr ausgeprägt.

Wie äussert es sich?

Im Vorschul- und Kindergartenalter beziehen Kinder fast alles auf sich selbst. Sie denken oft, dass sie Geschehnisse mit ihren Gedanken beeinflussen könnten. Das kann dazu führen, dass ein Kind sich für einen Todesfall verantwortlich fühlt, etwa, weil es einmal böse auf die verstorbene Person war. ­Diese Ich-Bezogenheit und das magische Denken nehmen mit steigendem Alter ab, mitunter neigen aber auch junge Schulkinder noch dazu.

Was ist in diesem Fall wichtig?

Zunächst sollte jedes Kind, das jemanden verliert, ungefragt darüber aufgeklärt werden, dass es am Tod der verstorbenen Person keine Schuld trägt. Auch über die Todesursache sollten Kinder Bescheid wissen. Im Fall einer Krankheit kann man ihnen erklären, dass es leichte bis schwere Erkrankungen gibt, dass die meisten davon heilbar sind, man durch sehr schwere Krankheiten aber auch sterben kann.

„Die Vorstellung von Endgültigkeit kann Kinder ­verängstigen, weckt aber auch ­Nervenkitzel.“

Ist etwa jemand an Krebs gestorben, sollten Kinder unbedingt erfahren, dass diese Krankheit nicht ansteckend ist und sie sich keine Sorgen machen müssen, weil sie die erkrankte Person besucht haben. Kinder wollen abschätzen können, unter welchen Umständen jemand sterben kann. So stellen sie manchmal sehr direkte Fragen.

Zum Beispiel?

Es kann sein, dass ein Kind nach einem Unfalltod Details wissen will: Wurde die Person im Auto zerquetscht? Quoll das Blut aus dem Fenster? War der Arm noch dran? Im Primarschulalter, also etwa ab sieben, entwickeln viele Kinder ein Gefühl für die Zeit und verstehen, dass der Tod endgültig ist. Die Vorstellung von Endgültigkeit kann sie belasten oder verängstigen, weckt aber auch Nervenkitzel. In diesem Alter ist es etwa typisch, dass Kinder sich für Gruselgeschichten und Details eines toten Körpers interessieren.

Wie reagieren Erwachsene auf solche Fragen?

Indem sie sachlich und unaufgeregt antworten: «Ja, der Arm war noch dran. Das Blut war im Auto und draussen.» Und sie sollten den Tod beim Namen nennen, eine Person für tot oder verstorben erklären, nicht davon sprechen, dass sie eingeschlafen sei oder der liebe Gott sie zu sich geholt habe. Solche Aussagen können Einschlafstörungen auslösen, weil kleine Kinder befürchten, sie könnten nicht mehr aufwachen. Kindern, die den Tod kognitiv noch nicht verstehen, hilft es zudem, sich dem Thema über die Sinne anzunähern.

Wie zum Beispiel? 

Man kann dem Kind erklären: «Wenn jemand stirbt, sieht es zwar so aus, als würde die Person schlafen. Aber der Unterschied ist, dass ihr Herz nicht mehr schlägt. Das Herz, das Blut durch den Körper pumpt und macht, dass wir uns warm anfühlen und bewegen können.»

„Idealerweise darf ein Kind den Tod wortwörtlich ­begreifen, also die verstorbene Person anfassen.“

Dann kann man sich gegenseitig die Hand auf die Brust legen, den Herzschlag fühlen – und dem Kind anschaulich vermitteln: Wir leben, unsere Herzen schlagen, unser Körper ist warm und beweglich. Die Toten aber haben keinen Herzschlag mehr, ihr Körper ist kalt und kann sich nicht rühren. Idealerweise darf ein Kind den Tod wortwörtlich begreifen, also die verstorbene Person anfassen.

Eltern denken womöglich, das könnte ihr Kind überfordern. 

Indem sie es beim Abschied aussen vor lassen, nehmen sie ihm die Gelegenheit, den Tod einer nahestehenden Person so zu erleben, dass es ihn am Ende besser einordnen und verarbeiten kann. Deshalb sollten Kinder auch Abschiedsfeier, Grabstein, Sarg oder Urne mitgestalten dürfen.

Die Fähigkeit, Gefühle nachzuempfinden, hilft einem Kind, soziale Verbindungen zu knüpfen – und ist damit auch ein Glücks- und Erfolgsfaktor.

Für die verstorbene Person etwas zu tun, stärkt sie, weil sie sich dadurch weniger hilflos fühlen. Kinder gehen mit dem Tod meist recht natürlich um. Wenn Erwachsene Kinder solchen Erfahrungen nicht aussetzen wollen, tun sie dies – unbewusst – oft deshalb, um sich selbst zu schützen, da die Situation für sie selbst schwer auszuhalten ist.

Inwiefern? 

Wir haben im Lauf unserer Sozialisierung gelernt, dass der Tod ein Tabuthema ist. Früher war er im Alltag viel präsenter. Der medizinische Fortschritt, aber auch die Individualisierung haben den Tod an den Rand der Gesellschaft verdrängt.

Wenn er eintrifft, sind wir überfordert. Eltern sind bereits beim Tod der Grossmutter verunsichert, wie sie ihn den Kindern erklären sollen. Stirbt ein Mitglied der Kernfamilie, sind viele sprachlos. Die Todesursache Suizid spielt in diesem Kontext sicher eine Sonderrolle.

Der ganze Artikel von Virginia Nolan

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