Wie ist es eigentlich mit 43 zu erfahren, dass man hochbegabt ist?

Fokus

annabelle – Eine Depression führte Anna Campagna zum IQ-Test. Das Ergebnis: über 130. Was bedeutet das Leben mit einer Hochbegabung? Was die Lehrerin durch ihre späte Diagnose über sich selbst gelernt hat, erzählt sie hier.

«Wie viele spät erkannte Hochbegabte ging ich zum IQ-Test, weil ich in einer Krise steckte. Ich hatte eine Depression. Mein Psychiater bat mich, eine emotionale Biografie mit relevanten Stationen meines Lebens zu verfassen.

Beim Schreiben stellte ich fest, dass ich schon mein Leben lang hadere und suche, dass ich immer Herausforderungen brauche.

In mir steckt das unersättliche Bedürfnis nach Neuem, nach Stimulierendem. Plötzlich dachte ich: Vielleicht solltest du mal einen IQ-Test machen. Als ich zwei Wochen später den Brief mit dem Ergebnis öffnete, war ich schockiert: IQ über 130 stand da.

Was mache ich mit dem Ergebnis?

Bis heute finde ich den Begriff irreführend. Er suggeriert, man sei voller Begabungen. Aber hochbegabt bedeutet lediglich, dass man über eine hohe kognitive Intelligenz verfügt. Man ist nicht automatisch ein Wunderkind. Das Resultat löste Fragen aus: Mit wem spreche ich darüber, spreche ich überhaupt darüber? Wie wäre mein Leben verlaufen, hätte ich nicht erst mit 43 davon erfahren? Was mache ich mit dem Ergebnis?

Muss ich ihm gerecht werden und etwas Besonderes leisten? Bis zum Test hatte ich mich kaum mit Hochbegabung beschäftigt, und wenn, dann in Stereotypen. Hoher IQ gleich männlich, Informatiker, kauzig, schwierig im sozialen Umgang.

„Unter Hochbegabten gibt es – wie unter allen Menschen – eine grosse Vielfalt. Die meisten entsprechen nicht dem Klischee“

Heute weiss ich: Unter Hochbegabten gibt es – wie unter allen Menschen – eine grosse Vielfalt. Die meisten entsprechen nicht dem Klischee. Ich selbst bin in keinem Bereich eine Ausnahmeerscheinung. Allerdings habe ich eine sehr schnelle Auffassungsgabe. Ich verstehe rasch, wie etwas funktioniert, bin in relativ kurzer Zeit und mit wenig Aufwand gut darin. Darum verfolge ich ständig kleinere und grössere Projekte. Derzeit probiere ich gestalterische Ausdrucksformen aus, Linoleumdruck, Silberschmieden, Töpfern, Zeichnen, Nähen.

Nach dem Test wirkte ich mit an einem Buch zum Thema Hochbegabung, absolvierte einen Zertifikatsstudiengang und renovierte eine Hütte. Davor studierte ich nebenberuflich Philosophie. Zudem bewirtschafte ich einen alten Weinberg. Blicke ich heute auf mein Leben zurück, merke ich, dass ich einen Anpassungsdruck spürte, das Gefühl hatte, mich verlangsamen zu müssen.

Als würde ich in einer Gruppe wandern, in der alle gemütlich spazieren, und ich muss als Einzige meinen Schritt verkürzen, um in der Gruppe zu bleiben. Das ist anstrengend. Auch heute gibt es warnende Stimmen, die mir sagen: Du machst zu viel, übernimmst dich. Dank meinem Testergebnis kann ich mit Überzeugung entgegnen: Ich brauche das.

Hochbegabte Kinder erkennen und abholen

Ich hätte mein Leben wohl nicht anders gelebt, wenn ich früher von meinem IQ erfahren hätte. Aber ich hätte mehr Verständnis gehabt, für mich, aber auch für meine Umwelt. Als Teenager schrieb ich in mein Tagebuch: «Was ist mit meinem Kopf los?!?!» Heute verstehe ich, warum ich Mühe habe, abzuschalten. Ich verstehe, warum mir andere manchmal langsam vorkommen.

Und ich weiss: Beides ist okay. Das Wissen versuche ich weiterzugeben. An der Schule, an der ich arbeite, habe ich ein Begabtenförderkonzept aufgebaut. Ich möchte, dass man hochbegabte Kinder erkennt und abholt. Nicht, dass sie erst mit vierzig aufgrund einer Depression erkennen, was mit ihnen los ist.» – Anna Campagna

Bein Beitrag von Samantha Taylor

Sponsoring