WHISTLEBLOWING: AUS FEHLERN LERNEN

Fokus

Ladies Drive – Claudia Gabler

Im Zuge des Inkrafttretens der neuen EU-Whistleblower-Richtlinie hat die ZHAW unter der Leitung von Dr. Katharina Hastenrath ein Gutachten zu den Auswirkungen der Richtlinie auf die Unternehmenspraxis erstellt. Die Herausgeberin von zwei Standardwerken im Compliance-Bereich forscht und lehrt an der ZHAW. Der Schutz von Whistleblowern ist ihrer Meinung nach ein wichtiger Bestandteil der Unternehmenskultur. Insbesondere wenn es darum geht, aus Fehlern zu lernen.

Ladies Drive: Frau Dr. Hastenrath: Warum liegt Ihnen der Schutz von Whistleblowern am Herzen?

Dr. Katharina Hastenrath: Es ist für die Compliance-Arbeit wichtig, dass sich jemand, der ein ernsthaftes Problem sieht, dazu äussern kann und keine Repressalien befürchten muss.

Was sind die wichtigsten Erkenntnisse aus Ihrer Whistleblowing-Studie?

Das Thema wird positiver eingeschätzt als noch vor 10 Jahren. Das ist erfreulich. Damals sprach man oft von Denunziantentum oder Nestbeschmutzung. Die positivere Wahrnehmung liegt wahrscheinlich daran, dass grosse Unternehmen schon länger auf den Schutz von Whistleblowern setzten, unabhängig von der neuen EU-Whistleblower-Richtlinie. Sie haben festgestellt, dass es nur wenige Denunzianten gibt. Über 95% der Meldungen haben ein berechtigtes Anliegen. Die grosse Mehrheit der Meldungen sind ernsthafte Probleme, die offengelegt werden – und dies meist in gutem Willen. Eine weitere wichtige Erkenntnis aus der Studie ist, dass noch deutlich schneller gehandelt werden muss. Es vergeht viel Zeit zwischen dem ersten Gedanken ein Whistleblowing-System einzuführen und einem funktionierenden System. Grosse Unternehmen müssen hier eher in Jahren als in Wochen oder Monaten denken.

Was hat Sie besonders überrascht?

Mich hat positiv überrascht, dass ein Whistleblowing-System eingeführt wird, weil Unternehmen von der Notwendigkeit überzeugt sind, nicht nur aufgrund der Richtlinie. Diese Firmen wollen ihre Unternehmenskultur voranbringen und mit gutem Beispiel für ihre Mitarbeitenden vorangehen. Whistleblower zu schützen ist eine kulturelle Frage und nicht nur getrieben von der Keule des Gesetzes – zumindest in der EU. Die Schweizer:innen der ZHAW-Studie waren dem Thema gegenüber eher verhalten und wollen ein solches System erst in den nächsten Jahren einführen. Natürlich gilt dieses Gesetz der Whistleblower-Richtlinie, die zum 17.12.2021 von den EU-Mitgliedern in nationales Recht umgesetzt werden musste, nicht für die Schweiz. Aber die Schweiz ist keine Insel und für internationale Konzerne gelten die EU-Regeln auch. Wenn also die Tochtergesellschaft eines Schweizer Unternehmens seinen Sitz in einem EU-Land hat, dann ist das Thema genauso wichtig. Ich war überrascht, dass diese Angelegenheit mit so viel Ruhe angegangen wird. Unternehmen glauben noch viel Zeit zu haben.

In vielen Fällen werden Hinweise „überhört“. Welchen Beitrag kann ein Hinweisgebersystem leisten?

Die Antwort ist einfach. Mit einem anonymen Whistleblowing-System geniessen Hinweisgebende einen hohen Schutz: keine Repressalien, keine Kündigung, keine strafrechtliche Verfolgung und keine Verfolgung wegen zivilrechtlichem Geheimnisverrat. Dieser Schutz führt dazu, dass Hinweisgebende sich trauen, etwas zu melden. Ein gutes Whistleblowing-System führt also dazu, dass mehr Hinweise gemeldet werden.

Woran können Hinweisgebersysteme scheitern? 

An mangelndem Tone-from-the-top. Als Chefin oder Vorgesetzter ist es wichtig zu kommunizieren, dass Whistleblowing möglich und es sogar erwünscht ist, Fehler zu melden. Die Mitarbeitenden sollen aktiv darüber informiert werden, dass sie geschützt sind, wenn sie einen Hinweis geben und dass sie durch eine Meldung nicht nur sich, sondern auch alle anderen und die Firma schützen. Es hängt also sehr stark mit dem Willen des Top-Managements zusammen, ob Whistleblowing ernst genommen wird.

Was ist die Konsequenz von fehlendem Hinweisgeberschutz?

Wird Whistleblowing nicht gelebt oder ist es gar ungewolltes Verhalten, dann werden Verstösse irgendwann zu Bomben, die unkontrolliert explodieren, wenn beispielsweise Mitarbeitende das Unternehmen verlassen, oder externe Personen, zum Beispiel Mitarbeitende von Lieferanten, auf einen Missstand hinweisen. Wenn es so weit kommt, ist der Schaden oft irreparabel. Whistleblowing unterstützt die Früherkennung. Ein gutes System hilft dabei frühzeitig Gegensteuer zu geben. Wenn man keines hat, riskiert man Riesenskandale wie bei Wirecard oder Dieselgate. Das wird für die betroffenen Firmen sehr teuer, sowohl monetär wie auch was den Reputationsverlust betrifft.

Die meisten Fälle werden von Männern „verursacht“. Denken Sie, dass gemischte Gremien eher zu einer gelebten Kultur der Offenheit und Transparenz führen? 

Auf jeden Fall. Vielfalt in jeder Form, in dem Fall Geschlechtervielfalt, ist immer vorteilhaft, weil Männer und Frauen verschieden denken. Im Bereich der Wirtschaftskriminalität gibt es Studien, die belegen, dass der Wirtschaftskriminelle meistens männlich, weiss, gebildet und zwischen 40 und 50 Jahre alt ist. Ich glaube, dass Frauen im Grundsatz regeltreuer agieren, weil sie nicht den Nervenkitzel suchen, das System auszureizen und zu umgehen. Das ist ein häufiges Motiv, das zu Wirtschaftskriminalität führt. Dieses liegt nicht unbedingt in der Natur der Frau. Aus diesem Grund glaube ich, dass gemischte Gremien zu besserer Kommunikation und mehr Transparenz führen. Frauen kommunizieren ganz anders als Männer.

«Gemischte Gremien führen zu besserer Kommunikation und mehr Transparenz.»

Oft ist die Geschäftsleitung in die Fälle involviert. Einige sprechen sich daher für einen direkten Draht in den VR aus. Wie ist Ihre Meinung dazu?

Es wäre sinnvoll, wenn die Compliance-Abteilung ein direktes Eskalationsrecht an den Verwaltungsrat hätte, insbesondere bei Fällen, in welchen die Geschäftsleitung involviert ist.

Wo sollte der Hinweisgeberschutz Ihrer Meinung nach im Unternehmen angesiedelt sein?

Mein Wunschszenario hängt sehr vom individuellen Unternehmen ab. In der Best Practice führt das Thema aktuell die Compliance-Abteilung, weil sie im Gegensatz zu Sustainability, Corporate Social Responsibility (CSR) oder Human Resources (HR) über die Prozesse und die Kenntnisse von Investigationen verfügt. Wenn man einen Hinweis bekommt, ist man wochenlang mit diesem einen Thema beschäftigt. Bisher ist dies überwiegend die Compliance und ich glaube, dass Whistleblowing da auch ganz gut angesiedelt ist. Bei kleineren Unternehmen, die keine eigene Compliance-Abteilung haben, sollte sich eine Person oder Abteilung darum kümmern, die sich mit dem Thema Legal, aber auch mit Prozessen auskennt. Gerade bei solchen KMUs muss man mit viel Fingerspitzengefühl vorgehen, um nicht den Mitarbeitenden das Gefühl zu geben, dass es eine unnötige Kontroll- und Überwachungskultur gibt. Ziel ist es, Mitarbeitende über die Prozesse zu informieren, damit sie wissen, wo sie sich im Fall der Fälle melden könnten. KMUs können natürlich abwägen, ob eine Unterstützung durch externe Dienstleiser sinnvoll wäre. Die Compliance-Funktion kann man nicht outsourcen, aber es gibt Personen, die die Geschäftsleitung unterstützen und beraten können.

Beobachten Sie aktuell bei Firmen einen grossen Druck, der dazu führen kann, sich nicht compliant zu verhalten?

In der Pandemie sind die Einkaufspreise in manchen Bereichen geradezu explodiert, während der Absatz bei Produkten eingebrochen ist. Firmen stehen hier gegebenenfalls mit dem Rücken zur Wand – wer da mal nicht ganz «compliant» handelt, in etwa weil das Unternehmen nicht genug Ressourcen für eine externe Prüfung für 100.000 CHF aufwenden kann, ist deswegen nicht pauschal ein Schwerverbrecher. Das sind Unternehmen, die sich fragen, wie sie morgen noch ihre Mitarbeitenden bezahlen können, damit diese ihre Familien ernähren können. Man kann die Fälle nicht nur schwarz-weiss sehen kann. Ein gemeldeter Verstoss kann auch eine Lernchance sein – eine teure und schmerzhafte, aber immerhin eine Lernchance, an der die Firma wachsen kann. Nehmen wir Siemens: nach dem Grossskandal in den 2000er Jahren haben sie die Konsequenzen gezogen und bis heute viel in die Compliance investiert.

Was empfehlen Sie Firmen, Organisationen und Behörden, jetzt konkret zu unternehmen?

Die erste Überlegung gilt dem Reifegrad der Firma oder der Behörde hinsichtlich des Compliance-Management-Systems, konkret: gibt es eine Person in der Organisation, die sich um das wichtige Thema des Whistleblowings kümmert oder kümmern könnte? Das muss nicht ein Chief Compliance Officer sein. Wie sieht die aktuelle Prozesslandschaft im Unternehmen hinsichtlich des Whistleblowings aus, kann irgendwo angeknüpft werden? Meine Empfehlung ist bei der Person zu beginnen, die sich darum kümmert. Danach kann man sich über die Frage eines digitalen Tools zur Umsetzung des Whistleblowingprozesses unterhalten. Ohne Tool wird es schwierig, aber nicht unmöglich. Es gibt gute und bezahlbare Lösungen, auch für KMU, welche die Anonymität der Hinweisgebenden sicherstellen – eine wichtige Voraussetzung, dass die Kanäle dann auch genutzt werden.

Zum Artikel auf Ladies Drive

Fotos: ZHAW Presse & https://www.flickr.com/photos/carbonnyc/13739385305/ (David Goehring)

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