Wenn ich mal gross bin…

Fokus

elleXX – Céline Meier – 

Niemand ist völlig frei von Geschlechterstereotypen und Rollenbildern – auch nicht die Lehrer:innen. Damit das Geschlecht nicht zum Risikofaktor für Bildungsgerechtigkeit wird, gibt es neue Ansätze für Genderkompetenz im Klassenzimmer.

Blinde Flecken oder Biases, also unbewusste Überzeugungen und Erwartungen nicht nur in Bezug aufs Geschlecht, haben wir alle. Das mussten sich auch die angehenden Lehrpersonen eingestehen, nachdem sie an einem Pilotprojekt zum Thema «Intersektionale Genderkompetenz» teilnahmen, obwohl sie von sich selbst glaubten, dass sie frei von Geschlechterstereotypen denken.

Sabrina Lisi ist Dozentin für Bildungswissenschaften an der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW), hat zu Resilienz in der Schule promoviert und leitet das Pilotprojekt in der Lehrpersonenausbildung . Sie sagt: «Die Schule ist ein sehr prägender Ort für die Erziehung und Sozialisierung von Kindern und Jugendlichen. Die Haltung und Normen von Lehrkräften schwappen sehr einfach ins Klassenklima über. Deshalb ist es wichtig, sie auf Geschlechtergerechtigkeit – mit intersektionalem Fokus – zu sensibilisieren.»

 

Die Schule ist ein sehr prägender Ort für die Erziehung und Sozialisierung von Kindern und Jugendlichen. Die Haltung und Normen von Lehrkräften schwappen sehr einfach ins Klassenklima über. Deshalb ist es wichtig, sie auf Geschlechtergerechtigkeit – mit intersektionalem Fokus – zu sensibilisieren.

 

…werde ich Mathematikerin

Genderkompetenz ist vielschichtig und setzt sich aus unterschiedlichen Fähigkeiten zusammen. Um gleichstellungsorientiert zu handeln, braucht es spezifisches Fachwissen beispielsweise zur Konstruktion von Geschlechterrollen und Intersektionalität, also der Verschränkung verschiedener Ungleichheiten. Im Projekt von Sabrina Lisi wird solches Wissen von einer externen Expertin für Genderstudies vermittelt. Im nächsten Schritt geht es darum, dass die angehenden Lehrer:innen die Bereitschaft entwickeln, ihren Unterricht gendergerecht zu gestalten. Dazu gehört auch, die eigenen Werthaltungen und Normen in Bezug auf Geschlechterrollen kritisch zu hinterfragen. Lisi lässt ihre Student:innen kleine Feldforschungen in pädagogischen Einrichtungen machen, wobei diese selber wählen, welchen Beobachtungsfokus sie setzten.

Im diesjährigen Pilotprojekt hat sich eine Studentin auf Interaktionsprozesse im Unterricht konzentriert. Sie hat beobachtet, wie eine Lehrperson im Mathematikunterricht immer den gleichen Jungen angesprochen hat, auch wenn in der gleichen Reihe ein Mädchen ebenfalls die Hand oben hatte. «Solches Verhalten geschieht selten mit bösen Absichten, sondern hat damit zu tun, dass Lehrpersonen aufgrund von Stereotypen unterschiedliche Erwartungen an ihre Schüler:innen haben. Es kommt vor, dass Lehrpersonen unbewusst die Vorstellung haben, Buben seien begabter in Mathematik und deshalb beispielsweise schwierige Aufgaben auch eher an Buben richten. Somit fördern sie Buben unbewusst mehr», sagt Lisi.

Diese unbewussten Verhaltensmuster haben laut Lisi drastische Konsequenzen fürs Selbstkonzept der Lernenden: «Das Geschlecht wird in einem solchen Kontext salient. Bei den Mädchen wird der Stereotyp aktiviert, dass sie schlechter in Mathematik sind. Infolgedessen sinkt das Interesse, die Motivation und letztlich auch die Leistungen.» Zahlreiche Studien belegen, dass beide Geschlechter biologisch die gleichen Voraussetzungen haben für gute Leistungen in Mathematik und allen anderen Bereichen. Vielmehr sind es Erwartungshaltungen von aussen und geschlechtsspezifische Sozialisierung, die unterschiedliche Leistungen hervorrufen. Weitere Studien zeigen, dass diese impliziten Stereotypen gerade von Lehrerinnen und Lehrern zudem ein entscheidender Faktor für das Ungleichgewicht der Geschlechter in MINT-Berufen darstellen.

Das Geschlecht wird in einem solchen Kontext salient. Bei den Mädchen wird der Stereotyp aktiviert, dass sie schlechter in Mathematik sind. Infolgedessen sinkt das Interesse, die Motivation und letztlich auch die Leistungen.

 

Als letzter Schritt sollen die angehenden Lehrer:innen das erworbene Wissen in die Schulpraxis transferieren. Lisi erklärt, dass intersektional ausgerichteter Unterricht schon bei den Schulmaterialien beginne. Diverse Analysen von Lehrmitteln würden im Allgemeinen auf geringe Sichtbarkeit von Frauen und People of Color im Zusammenhang mit Kompetenz und Erfolg hinweisen. Hier möchte Lisi ansetzten: «Beispielsweise wäre es sinnvoll, im Unterricht zu behandeln, weshalb in der Geschichte von so wenigen Mathematikerinnen oder Künstlerinnen berichtet wird. Ein anderer Ansatz wäre es, dass man zeitgenössische Arbeiten von Mathematikerinnen im Schulunterricht mitbehandelt.» Nebst den Schulmaterialien sei vor allem die Veränderung der pädagogischen Haltung von grosser Bedeutung für einen inklusiven Unterricht. «Schon kleine Tricks wie das absichtliche Abwarten nach einer gestellten Frage im Unterricht, kann dazu führen, dass sich Schüler:innen, die unsicher sind, die die Sprache nicht fliessend sprechen oder sich aus sonstigen Gründen nicht melden, erst trauen, in den das Unterrichtsgeschehen einzusteigen. Wir ermöglichen damit mehr Bildungsbeteiligung für alle.»

 

…werde ich Primarschullehrer

Zu einem gendergerechten Schulkontext gehört auch eine vielfältige Schulhauskultur, die von weiblichen und männlichen Lehrpersonen mitgestaltet wird. Roger Gafner arbeitet bei der Fachstelle Jumpps, die sich für geschlechtersensible Pädagogik einsetzt. Ein Projekt von Jumpps hat zum Ziel, mehr Männer in die Primarschulen zu bringen. Deren Anteil geht seit 1964 drastisch zurück, heute sind knapp 17% der Lehrpersonen in den Primarschulen noch männlich.

 

Allerdings bin ich überzeugt davon, dass Männer und Frauen einen anderen Zugang zu Kindern haben. Insbesondere für Buben ist es wichtig, dass sie männliche Vorbilder im Schulkontext haben.

Diese Unterrepräsentation findet Gafner schwierig. Zwar sei die Unterrichtsgestaltung von Lehrperson zu Lehrperson sehr individuell, unabhängig vom Geschlecht. «Allerdings bin ich überzeugt davon, dass Männer und Frauen einen anderen Zugang zu Kindern haben. Insbesondere für Buben ist es wichtig, dass sie männliche Vorbilder im Schulkontext haben», sagt er. Ohne Männer als Vorbilder bestehe die Gefahr, dass sich Buben weniger mit der Schule identifizieren können und sie als «uncool» wahrnehmen würden. «Zusätzlich führt dies dazu, dass sich Buben ihre Vorbilder anderswo holen und beispielsweise lieber einem Fussballprofi statt ihrem Lehrer nacheifern. Dies reproduziert klassische Stereotypen – nämlich, dass Männer und die soziale Arbeit mit Menschen nicht zusammenpassen», sagt Gafner.

Der Rückzug der Männer aus dem Lehrerberuf hat für Gafner mit unserem Gesellschaftsbild zu tun, in dem der Mann noch immer als Hauptverdiener und Entscheidungsträger angesehen werde. «Früher war der Lehrer – häufig waren nur Männer erwerbstätig – im Dorf sehr angesehen. Über die Zeit ist die Arbeit der Lehrer immer vielschichtiger geworden mit mehr Betreuungsarbeit und Elternarbeit. Zudem ist die Attraktivität der Löhne im Lehrerberuf zurückgegangen. Dafür hat der Wirtschaftssektor immer mehr an Prestige gewonnen.» Aus seiner Sicht sei es deshalb besonders wichtig, männliche Teenager bei ihrer Berufswahl zu unterstützen: «Wir müssen weg von diesem Bild kommen, dass der Lohn oder Ansehen als wichtigstes Kriterium für die Berufswahl gesehen wird. Auch Buben sollen sich mehr damit auseinandersetzen, was ihren Bedürfnissen wirklich entspricht und diese wertfrei verfolgen können.» Die vielen jungen Männer, die sich im Vereinsleben als Trainer zur Verfügung stellten, zeigen für Gafner, dass Männer durchaus gerne mit Kindern arbeiteten, dies aber bei der Berufswahl oft ausser Acht liessen. Er betont:  «Es gibt keine Jungen- oder Mädchenberufe».

 

Es gibt keine Jungen- oder Mädchenberufe.

 

…stehen mir alle Wege offen

Die Notwendigkeit von intersektionaler Genderkompetenz an Schulen sei in der Forschung unbestritten, sagt Sabrina Lisi, allerdings mangle es in der Schweiz an verpflichtenden Fächern bei der Ausbildung von Lehrpersonen. «Momentan hängt es sehr stark von den Dozierenden ab, inwiefern das Thema behandelt wird.» Lisi hat für ihr Projekt, welches im Herbst 2022 offiziell starten soll, bereits mehrere Finanzierungsgesuche eingereicht – bisher ohne Erfolg. Sie leistet deshalb viele Stunden auf freiwilliger Basis, denn für die Projektleitung und Organisation rund um das Seminar wird sie nicht bezahlt. «Es wäre sehr wichtig, dass sich alle Lehrpersonen bereits in der Ausbildung damit auseinandersetzen, welche Faktoren Bildungsgerechtigkeit begünstigen», sagt sie.

Gemäss internationalen Studien schneidet die Schweiz in Bezug auf Bildungsgerechtigkeit nicht überdurchschnittlich gut ab. Faktoren wie Geschlecht aber auch sozioökonomischer Status der Eltern und Migrationshintergrund haben nach wie vor einen Einfluss auf die Bildungsverläufe von Kindern. «Es ist mir ein Anliegen, Genderkompetenz intersektional zu behandeln. Es gibt so viele unterschiedliche Risikofaktoren, welche die Bildungslaufbahn von Kindern beeinflussen können», sagt Lisi.

Für Lisi ist klar, dass Pädagog:innen unmöglich bei jedem Kind alle Risikofaktoren erkennen können. Deshalb sein ein sogenannter «promotiver» Ansatz erstrebenswert. «An Schulen sollen Ressourcen aufgebaut werden, die allen Kindern zugutekommen. Dazu gehören auch vermeintlich banale Ressourcen wie ein gutes Schulklima, in dem Fehler erlaubt sind und die Interaktion mit allen Kindern gefördert wird.» Auch Roger Gafner befürwortet intersektionale Herangehensweisen: «Jumpps wünscht sich im Allgemeinen mehr Vielfalt an den Schulen. Lehrpersonen sollten im Optimalfall unsere Gesellschaft abbilden und unterschiedliche Perspektiven vertreten. Das wirkt sich auch auf die Bildungsgerechtigkeit aus.»

Zum Artikel auf elleXX

Photo by CDC / Unsplash

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