Was uns der Ukraine-Krieg über Rassismus lehrt

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annabelle.ch – Sandra Huwiler

Ob an den Grenzen oder hier in der Schweiz: Der Ukraine-Krieg offenbart tief verankerten Rassismus. Wir haben mit Sozialanthropologin Serena Dankwa und Aktivistin Selam Habtemariam gesprochen.

annabelle: Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie erfuhren, dass Schwarze Menschen aus der Ukraine an ihrer Flucht gehindert wurden?
Selam Habtemariam: Für mich ist das als Person, die selbst mit Alltagsrassismus konfrontiert wird, überhaupt nicht verwunderlich. Struktureller Rassismus funktioniert unterschwellig, ohne dass wir ihn wirklich wahrnehmen, und zeigt sich in solchen Situationen wie an der ukrainischen Grenze – ist aber nicht nur in Ausnahmesituationen präsent.

Serena Dankwa: Rassismus hat eben auch Auswirkungen auf die Migrationsgesetze und das Verhalten von Grenzbeamt:innen, die gelernt haben, Schwarze Menschen als Bedrohung anzusehen und sie davon abzuhalten, in die EU einzureisen. So funktioniert auch Racial Profiling, mithilfe von Strukturen Menschen auszugrenzen und vorzuverurteilen.

Wie Medienschaffende und Politiker:innen über ukrainische Flüchtende sprechen, entlarvt rassistische Vorurteile gegenüber Flüchtende aus anderen Ländern. Wie beurteilen Sie dies?
Serena Dankwa: Das Bild der Ukrainerin, die beschützt werden muss, weil sie blond, blauäugig und (plötzlich) europäisch sei, hat fatale Auswirkungen. Wenn die Justizministerin sagt, Flüchtende aus der Ukraine seien jetzt eben keine Terrorist:innen, impliziert das doch, dass andere, nicht-weisse Flüchtende per se bedrohlich und eher gewaltbereit sind.

 

«Es gab immer schon erwünschte und unerwünschte Geflüchtete in der Schweiz»

 

Die Schweiz vergibt erstmals den Schutzstatus S an Flüchtende. Was sagen Sie dazu?
Selam Habtemariam: Die Vergabe des Schutzstatus S für ukrainische Flüchtende ist von historischer Bedeutung. Als Person mit Fluchterfahrung finde ich es wichtig und richtig, dass die Solidarität jetzt so gross ist. Doch die Durchreise sollte auch für alle Personen und immer offen sein, dort fehlen der politische Wille und eine klare Regelung.

Serena Dankwa: Wir sind alle einverstanden, dass Ukrainer:innen Flatrates und ein GA erhalten, privat unterkommen und sofort arbeiten gehen. Wir können uns aber fragen, wieso es nun plötzlich geht – und endlich sehen, dass Fluchtrouten offen sein können und Menschen nicht um ihre Rechte, Würde oder Lebensperspektive kämpfen müssen.

Sie sprechen darauf an, dass Flüchtende aus anderen Ländern grosse Hürden überwinden müssen. Wie erklären Sie sich diese Ungleichbehandlung?
Serena Dankwa: Es gab immer schon erwünschte und unerwünschte Geflüchtete in der Schweiz. Der Historiker Patrick Kury sprach kürzlich darüber in der NZZ. In den Fünfzigerjahren nahm die Schweiz Ungar:innen auf, verwehrte aber einer viel kleineren Gruppe jüdischer Ägypter:innen ihre Unterstützung. Oder 1968 nahm sie Flüchtende aus der Tschechoslowakei auf, jedoch keine aus dem gleichzeitig herrschenden Chile-Konflikt. Das hat viel mit kommunistischen Feindbildern zu tun. Wer vor dem Kommunismus – oder heute vor dem «bösen Russland» – flieht, ist eher willkommen. Und es hat mit Rassismus zu tun, wer als «kulturell nah» und daher als unterstützungswürdig gilt und wer nicht.

Es gab auch Aussagen, dass die Ukrainer:innen «Menschen wie wir» sind.
Serena Dankwa: Klar ist eine Identifikation übers Aussehen naheliegend, aber genau dieses internalisierte rassistische Denken müssen wir verlernen. Dass nicht nur Menschen, die scheinbar so aussehen wie wir, unsere menschlichen Bedürfnisse haben.

Wo zeigt sich diese Ungleichbehandlung besonders?
Serena Dankwa: Zum Beispiel in gewissen Asylunterbringungen, die man den Ukrainer:innen nicht zumuten möchte, weil die Platzverhältnisse zu eng, die Ausstattungen desolat und die Zustände menschenunwürdig sind. Das suggeriert, dass andere Flüchtenden weniger menschlich sind und dies ertragen müssen.

 

«Es gilt als normal und notwendig, Flüchtende zu illegalisieren»

 

Woher rührt diese Auffassung?
Serena Dankwa: Da spielt der Kolonialrassismus mit hinein, der auch die Schweiz geprägt hat, wo Menschen aus den Kolonien bis weit ins 20. Jahrhundert in Zoos zur Schau gestellt wurden. Diese Entmenschlichung setzt sich fort in der Zweiklassenlogik des Asylsystems und der Kriminalisierung von Menschen aus dem globalen Süden. Sie sorgt dafür, dass stereotype Denkmuster gar nicht erst hinterfragt werden.

Selam Habtemariam: Struktureller Rassismus basiert auf Denkmustern. Es gilt als normal und notwendig, Flüchtende zu illegalisieren.

Wie meinen Sie das?
Selam Habtemariam: Wir haben kein GA erhalten und waren an abgelegenen Orten untergebracht, hatten keinen Kontakt ausserhalb der Asylzentren. So hatten wir keinen Zugang zur Sprache. Ausserdem durften wir nicht arbeiten. Wir mussten zuerst jahrelang auf Papiere warten.

Serena Dankwa: Das ist die totale Zermürbungstaktik, damit sich ja niemand wohlfühlt und ja niemand auf die Idee kommt, bleiben zu wollen.

 

«Es gibt jetzt ein Muster, wie man in Zukunft mit Flüchtenden umgehen könnte – mit allen»

 

Haben Sie Hoffnung, dass die aktuelle Situation für die Zukunft etwas am Umgang mit Flüchtenden ändern könnte?
Selam Habtemariam: Die aktuelle Situation macht es einfacher, Menschen zu erklären, was Rassismus ist, denn der Unterschied zum Umgang mit Flüchtenden anderer Herkunft ist frappant. Und es gibt jetzt ein Muster, dem man folgen könnte, wie man in Zukunft mit Flüchtenden umgehen könnte – mit allen.

Serena Dankwa: Es wird künftig hoffentlich schwieriger zu argumentieren, warum der Schutzstatus S bei anderen Flüchtenden nicht zum Einsatz kommen soll. Das würde die Ungerechtigkeiten im Asylsystem noch nicht abschaffen, aber es zeigt, was möglich ist, wenn man will. Denn es wird immer mehr Krisen geben, nicht weniger. Der Druck wird grösser. Die aktuelle Asylpolitik kann schlussendlich nicht funktionieren.

Was fordern Sie?
Serena Dankwa: Mein Lösungsansatz wäre, endlich einmal diese Logik von «falschen» und «echten» Flüchtenden abzubauen.

Selam Habtemariam: Wir sind nicht automatisch Flüchtende, wir werden zu Flüchtenden gemacht. Aber es gibt zurzeit eine Kategorisierung in würdig und unwürdig. Und da spielt die Hautfarbe eine grosse Rolle, wer als weiss gelesen wird. Weiss sein hilft, Privilegien zu teilen.

 

«An den Aussengrenzen Europas schwinden die Chancen auf Schutz»

 

Wer bestimmt darüber, wem Privilegien zustehen?
Selam Habtemariam: Europäer:innen sehen sich als Schützer:innen der Menschlichkeit von Flüchtenden. Doch das gilt nicht für alle Flüchtenden. Migration wird als Bedrohung dargestellt und die Antwort der EU ist leider die Militarisierung der Grenzsicherung. An den Aussengrenzen Europas schwinden die Chancen auf Schutz. Frontex macht die Grenzen dicht, Menschenrechte werden systematisch verletzt. Es gab zahlreiche Fälle, in denen Menschen abgeschoben, inhaftiert, gefoltert oder gar ermordet und Boote zurückgeschickt wurden.

Wer trägt dafür die Verantwortung?
Selam Habtemariam: Frontex ist eine Agentur. Dadurch ziehen sich die einzelnen europäischen Länder, darunter auch die Schweiz, aus der Verantwortung an den Vorfällen. Doch die Schweiz unterstützt Frontex finanziell, personell und durch politische Legitimität. Würde das aufhören, wäre es zumindest ein Anfang für eine gerechtere Welt, in der die Festung Europa gelockert würde.

Welche Rolle spielt der Kapitalismus ganz grundsätzlich in der Debatte um Flüchtende?
Serena Dankwa: Es hat viel mit einer kapitalistischen Logik zu tun, welchen Leben wie viel Wert beigemessen wird. Wir müssen Rassismus noch viel stärker zusammen mit Kapitalismus denken. Flüchtende aus ehemals kolonialisierten Ländern müssen für das Wachstum der Produktion des globalen Nordens ausbeutbar bleiben. Dafür müssen sie dortbleiben. Europa braucht das tiefe Lohnniveau des globalen Südens. Davon profitieren wir alle, auch wir Schwarzen Schweizer:innen – ob wir wollen oder nicht.

Selam Habtemariam: Kolonialismus ist immer noch präsent. Doch geht die Unterdrückung auch von grossen Organisationen aus, die Arbeiter:innen ausbeuten und durch ihre Repression in ärmeren Ländern die Preise in die Höhe treiben und Menschen so zur Flucht zwingen.

Wie sehr hat die Black-Lives-Matter-Bewegung auch auf die Situation von Flüchtenden in der Schweiz aufmerksam gemacht?
Serena Dankwa: Anfangs lag der mediale Fokus mehr auf dem Rassismus gegen Schwarze Schweizer:innen. Der nächste Schritt ist jetzt aber auch zu sehen, welche Auswirkungen Rassismus auf Menschen ohne Schweizer Pass hat – schon nur, dass in den Netzwerken Schwarzer Schweizer:innen jetzt auch mehr an Flucht gedacht wird, Petitionen unterschrieben werden, Solidarität mit Migrant:innen und Flüchtenden gelebt wird. Auch wir sind von rassistischen Denkmustern geprägt, die es abzubauen gilt.

Selam Habtemariam: Black Lives Matter hat stark mobilisiert, Frauen haben die Bewegung mitgegründet. Das sind für mich gute Voraussetzungen, etwas zu erreichen. Aber um soziale Gerechtigkeit zu erreichen, braucht es politische Veränderungen, sonst hat die Bewegung nur Symbolcharakter.

Können Sie das noch ausführen?
Selam Habtemariam: Es braucht kollektiv andere Verhaltensweisen. Repräsentation allein reicht nicht.

Serena Dankwa: Es gibt auch bei uns Ansätze für Reformen, damit die Politik diverser wird und die Universitäten etwas offener werden beispielsweise. Inklusion kann ein erster Schritt sein – aber nur, wenn die Personen of Color in ihren Ämtern kritisch sein und bleiben können.

«Wir müssen uns von der Logik verabschieden, dass wir anderen helfen, die dann dafür dankbar sein müssen»

Welche Veränderungen würden Sie sich wünschen?
Serena Dankwa: Es braucht rassismuskritische Bildung, um die Zusammenhänge besser zu verstehen. Und lebensbejahende, gemeinschaftliche Alltagsstrukturen. Wir müssen erkennen, dass unser Planet nur gemeinsam erhalten werden kann. Dafür müssen wir uns von der Logik verabschieden, dass wir anderen helfen, die dann dafür dankbar sein müssen. Nein, wir sitzen alle im selben Boot.

Selam Habtemariam: Die Pandemie, die Klimakrise, das sind nicht nationale Probleme, sondern globale. Sie schaffen für Menschen im globalen Süden zurzeit noch mehr Probleme. Das wird aber nicht ewig so bleiben. Probleme aus nationalistischer oder sogar individueller Perspektive anzuschauen, bringt nichts. Wir müssen langfristig umdenken, strukturelle Hindernisse abschaffen und alle Leute mit einbeziehen.

Zum Artikel auf annabelle.ch 

 

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