Warum die Medizin inklusiver sein muss

Fokus

Schweizer Illustrierte – Die medizinische Wissenschaft hat Männer über Jahrzehnte als Prototypen betrachtet und Frauen in der Forschung weitgehend aussen vor gelassen.

Bei Diagnose, Behandlung und Vorsorge kann dies für Frauen teils gravierende Folgen haben. Sie haben in vielen Bereichen das Nachsehen. Das XProject von Roche hat es sich zum Ziel gesetzt, auf dieses Thema aufmerksam zu machen und zu helfen, die Lücken in der Frauengesundheit zu schliessen.

Die Wahrscheinlichkeit, als Frau eine Fehldiagnose bei einem Herzinfarkt zu erhalten, ist um 50 Prozent höher als bei Männern1. Die Häufigkeit an Lungenkrebs zu erkranken, ist in den letzten 40 Jahren bei Männern um 36 Prozent gesunken, während sie bei Frauen jedoch um 84 Prozent gestiegen ist2. Diese Zahlen regen zum Nachdenken an und unterstreichen die Dringlichkeit, diese Fakten zu ändern.

Beide biologischen Geschlechter können bei ein und derselben Krankheit unterschiedliche Symptome entwickeln, und Medikamente können sich unterschiedlich auf den Körper auswirken. In der Vergangenheit wurde dies kaum berücksichtigt. «Frauen sind nicht einfach wie Männer, die sich lediglich durch andere Geschlechtsorgane unterscheiden. Und doch wurden sie lange genau so behandelt», sagt Stephanie Sassman, Leiterin Portfolio Frauengesundheit bei Roche. In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat die Wissenschaft in diesem Bereich grosse Fortschritte gemacht. Auch ist das Bewusstsein für diese Unterschiede in der Medizin und in der breiten Öffentlichkeit inzwischen stärker vorhanden.

Mit dem XProject engagiert sich Roche dafür, dass das Thema Frauengesundheit mehr Aufmerksamkeit bekommt und eine Trendwende einsetzt. «Das X im Namen der Initiative steht für XX, den weiblichen Chromosomensatz, der in vielen Bereichen der Gesundheitsversorgung zu wenig beachtet wurde», sagt Sassman. «Die Ursachen für die Ungleichheiten in der Gesundheitsversorgung von Frauen sind weitreichend. Unser Ziel ist es, dass Frauen weltweit eine auf sie zugeschnittene Gesundheitsversorgung erhalten und ihre Gesundheitsbedürfnisse in Zukunft stärker wahrgenommen und bewusst angegangen werden.» Die Mitarbeiter:innen von Roche arbeiten mit der Politik, privaten Institutionen, Nichtregierungsorganisationen und der Bevölkerung zusammen, um Ungleichheiten aufzuzeigen und die Forschung im Bereich der Frauengesundheit zu fördern.

Frauen fehlten lange in klinischen Studien

Heute wissen wir, dass Geschlechtshormone einen erheblichen Einfluss auf die verschiedensten Prozesse im Körper haben: Sie beeinflussen das Herz-Kreislauf-System, den Stoffwechsel, das Immunsystem und die Körperzusammensetzung. Die Aufnahme, Verteilung, Verstoffwechselung und Ausscheidung sowie die Wirkung eines Medikaments können zwischen Frauen und Männern unterschiedlich sein3. Entsprechend wichtig ist es, dass solche möglichen Unterschiede genau erforscht werden.

Doch bis Mitte der 90er Jahren wurden Frauen in klinischen Studien kaum berücksichtigt, da hauptsächlich Männer als Probanden rekrutiert wurden4. «Potenzielle Schwangerschaften oder der Hormonzyklus der Frau wurden als Erklärung genannt. Es hat aber auch damit zu tun, dass Frauen oft bevormundet wurden, wenn es darum ging, Nutzen und Risiko einer Teilnahme an klinischen Studien abzuwägen», erklärt Sassman. Heute sieht die Situation anders aus und die Teilnahme von Frauen an klinischen Studien ist stark gestiegen. 1993 veröffentlichte die FDA neue Richtlinien, die vor dem Hintergrund wachsender Bedenken entwickelt wurden, dass der Prozess der Medikamentenentwicklung keine ausreichenden Informationen über die Auswirkungen der Medikamente bei Frauen liefert.

Andere Symptome bei einem Herzinfarkt

Neben der unterschiedlichen Wirksamkeit von Medikamenten müssen Frauen teilweise auch viel länger auf eine korrekte Diagnose warten. Bei zahlreichen Erkrankungen unterscheiden sich Krankheitssymptome zwischen Frauen und Männern stark. So äussert sich  beispielsweise ein Herzinfarkt bei Frauen anders als bei Männern. Anstatt starker Schmerzen im Brustkorb und ausstrahlenden Schmerzen im linken Arm oder der linken Schulter zeigen Frauen Symptome wie Atemnot, Rückenschmerzen, Übelkeit, Erbrechen und Schmerzen im Oberbauch6. Frauen können zwar auch die «klassischen» Anzeichen eines Herzinfarkts aufweisen, häufig treten jedoch atypische Symptome auf. Sassman warnt: «Manche Frauen wissen deshalb auch gar nicht, dass sie einen Herzinfarkt hatten. Das kann verhängnisvolle Folgen für den Behandlungsverlauf haben.»

Ein anderer Grund für eine spätere Diagnose ist fehlendes Vertrauen in das Gesundheitssystem. «Eine mögliche Erklärung ist, dass Frauen später einen Arzt aufsuchen, weil sie häufig ihre eigenen Bedürfnisse hinten anstellen, oder die Erfahrungen gemacht haben, dass sie mit ihrem Anliegen nicht ernst genommen werden», sagt Sassman. Im Vergleich zu Männern beispielsweise kriegen Frauen, die unter Schmerzen leiden, weniger häufig und weniger starke Schmerzmittel verschrieben7.

Stigma Lungenkrebs

Bei der Krankheit Lungenkrebs haben viele das Bild eines rauchenden Mannes vor Augen. Aufgrund des mangelnden Bewusstseins für die Krankheit sprechen Frauen seltener als Männer mit ihren Ärzten über notwendige Untersuchungen, was häufig zu einer verzögerten Diagnose und weniger Beratung führt8. In den USA sterben mehr Frauen an Lungenkrebs als an jeder anderen Krebsart, was unter anderem darauf zurückzuführen ist, dass in den letzten Jahrzehnten mehr Frauen zu Raucherinnen wurden9. Doch das ist nicht der einzige Grund, denn die Krankheit ist sehr komplex. So erkranken beispielsweise Frauen, die in ihrem Leben nie geraucht haben, häufiger an Lungenkrebs, als Männer10. Sassman erklärt: «Es gibt viele verschiedene Arten von Lungenkrebs, darunter auch solche, die häufiger bei Frauen als bei Männern auftreten. Es ist dringend notwendig, dass wir Lungenkrebs nicht als eine einzelne Krankheit betrachten, und uns bewusst sind, dass die verschiedenen Formen Männer und Frauen unterschiedlich betreffen.»

Wachsendes Bewusstsein für Ungleichheit

Selbst bei frauenspezifischen Krankheiten wie Endometriose dauert es im Durchschnitt acht Jahre, bis die Erkrankung diagnostiziert wird (bei der Endometriose wächst Gebärmutterschleimhaut-ähnliches Gewebe ausserhalb der Gebärmutterhöhle)11. Im Falle von Endometriose sind die Gründe dafür häufige Fehldiagnosen, da sich die Symptome mit anderen Erkrankungen decken, und die Tatsache, dass für eine sichere Diagnose ein invasiver Eingriff nötig ist, weshalb Ärzt:innen diesen Schritt oft scheuen. Frauen teilen aber auch häufig die Erfahrung, dass ihre Symptome von ihrem Umfeld und medizinischem Fachpersonal ignoriert oder als normal für eine Frau abgetan werden12. Heute allerdings wächst das Bewusstsein für geschlechtsspezifische Krankheiten wie Endometriose und diese Erkrankungen erhalten auch in der Forschung mehr Beachtung.

In der Schweiz gibt es bereits Ärzt:innen, die sich vermehrt auf die biologischen Unterschiede in der Forschung und Diagnose konzentrieren. Ein Lehrstuhl oder ein Institut fehlt bislang jedoch. Das soll sich nun ändern: Ab 2024 wird beispielsweise an der Universität Zürich eine Professur für Gendermedizin geschaffen.

Frauengesundheit in den Fokus stellen

Die Wissenschaft hat gezeigt, dass Frauen und Männer bei Krankheiten unterschiedliche Symptome aufweisen und dass sich Medikamente im Körper von Frauen und Männern anders auswirken können. Das XProject baut auf diesem Wissen auf und möchte die Öffentlichkeit sensibilisieren. «Wir wollen mit XProject das Bewusstsein schärfen und die Gesundheitsbedürfnisse von Frauen ins Rampenlicht rücken», sagt Sassman. «Wir sind bestrebt, gegen die Ungleichheiten vorzugehen, die sich nachteilig auf die Diagnose, Behandlung und Pflege von Frauen auswirken. Alleine lassen sich diese systemischen Probleme jedoch nicht lösen. Es ist wichtig, dass wir mit allen Akteuren zusammenarbeiten, um gerechtere Gesundheitssysteme für alle zu schaffen.»

Zum Original-Artikel

Bild: Roche

Sponsoring