Vom Aufwachsen als «Schattenkind» und seinen psychischen Folgen

Fokus

watson.ch – Sandra Casalini

Am 3. Dezember ist «Internationaler Tag der Menschen mit Behinderungen». Ich habe lange mit mir gehadert, ob ich über dieses Thema schreiben soll. Es hat eigentlich nichts in einem Gesundheitsblog verloren. Menschen mit Handicap sind nicht krank. Aber es hat, wie ich über die Jahre realisiert habe, einiges mit psychischer Gesundheit zu tun – mit derjenigen des Umfeldes von Betroffenen. Diese Zeilen sind sehr persönlich. Es ist das erste Mal, dass ich darüber schreibe.

Kinder, wie ich eines war, nennt man in der Psychologie «Schattenkinder». Sie wachsen im Schatten eines chronisch kranken oder handicapierten Geschwisters auf und müssen deshalb in Sachen Aufmerksamkeit zurückstecken. Ich habe mich selbst nie so wahrgenommen, jedenfalls nicht bewusst. Ausser vielleicht, als ich mit sieben Jahren extra anfing zu lispeln, damit ich auch mal zu einem Therapeuten durfte. Der Logopäde hat den Fake ziemlich schnell bemerkt. Das war es dann mit der Therapie für mich.

Mein Bruder hingegen, zwei Jahre jünger als ich, hat in seiner Kindheit wohl so viele Therapeuten gesehen, dass er sie kaum mehr an zwei Händen abzählen kann. Er blieb bei seiner Geburt im Geburtskanal stecken, meine Mutter hatte drei Tage lang Wehen. Warum man damals keinen Kaiserschnitt machte, bleibt unerklärlich. Als er endlich hier war, hatte er schwere motorische Beeinträchtigungen, meine Mutter erzählt jeweils, er habe sich bewegt wie ein Roboter.

Der eine Teil brillant, der andere zu langsam

Die motorischen Störungen merkte man ihm allerdings – den vielen Therapien sei Dank – relativ bald kaum mehr an. Über die Prognosen der Ärzte bei seiner Geburt, er würde niemals einen normalen Kindergarten besuchen, geschweige denn selbstständig leben können, können wir heute lachen. Ziemlich früh wurde allerdings ziemlich schweres ADHS bei ihm diagnostiziert, gepaart mit Hochbegabung – mein Bruder hat einen gemessenen IQ von 132. Tönt cool, ist aber eine ziemlich verheerende Kombination, wenn der eine Teil deines Hirns brillant ist, und der andere in jeder Hinsicht zu langsam. Das Gymnasium hat nicht geklappt, weil er keine Prüfung in der geforderten Zeit zu Ende schrieb, und man seine Schrift kaum entziffern konnte. Die mündliche Berufsmatur hat er hingegen ein paar Jahre später als Bester des Kantons abgelegt, ohne eine Minute zu lernen.

 

«Ich wusste, dass ich genau diese Aufgabe zu erfüllen hatte. Funktionieren, möglichst keine Probleme machen. Denn den Trouble-Faktor gab’s schon in unserer Familie. Einen zweiten würde es nicht ertragen.»

War ich ein Schattenkind? Im Gegenteil. Ich war eine Lichtgestalt. Ich war seine Beschützerin. Wenn sie über den komischen Kleinen spotteten, den sie nicht richtig einordnen konnten – intellektuell weit voraus, emotional immer ein paar Jahre hintendrein – rieb ich auch mal den grösseren Nachbarsbuben das Gesicht mit Brennnesseln ein, mit blossen Händen, ausser mir vor Wut.

Über fehlende Aufmerksamkeit konnte ich mich nicht beklagen. Ich war ein herziges Kind. Gut in der Schule, gut im Sport, musikalisch. Ein Kind zum Vorzeigen, im Gegensatz zu meinem Bruder, der zwar super gescheit war, aber halt nicht so richtig alltagstauglich. Und ich wusste, dass ich genau diese Aufgabe zu erfüllen hatte. Funktionieren, möglichst keine Probleme machen. Denn den Trouble-Faktor gab’s schon in unserer Familie. Einen zweiten würde es nicht ertragen.

Bis nichts mehr von mir übrig war

«Wie konnte es nur so weit kommen? Wie konnte ich so weit kommen?» Dass die Antwort auf diese Fragen in meiner Kindheit liegt, scheint mir heute offensichtlich. Ich, die Lichtgestalt, die ich war. Die ich sein musste. Die ich sein wollte. Auch, als ich längst kein Kind mehr war. Denn es war die einzige Rolle, die ich gelernt hatte, in der ich mich wohlfühlte. Ich erwartete von mir selbst genau das, was ich aus meiner Kindheit kannte: Vorzeigbar sein, in jeder Hinsicht. Als Frau, im Job, als Partnerin, als Mutter. Mit jedem Fehltritt mochte ich mich selbst ein bisschen weniger. Bis ich mich nur noch hasste.

Und mit jedem Versuch, für alle anderen zu funktionieren, habe ich mich weiter selbst verloren. Bis nichts mehr von mir übrig war. Ich sah gut aus, war erfolgreich im Job, eine gute Partnerin, eine noch bessere Mutter. Ich war glücklich. Bis ich merkte, dass ich niemand war. Dass ich die Frage danach, was übrig bleibt ohne Job und Familie mit einem verstörenden Wort beantworten musste: nichts. Ich versuchte die Leere mit ganz vielen falschen Dingen zu füllen, von nächtelangen Partys über krasse Diäten (mein Körper war das einzige, das ich zu dieser Zeit kontrollieren konnte) bis hin zu selbstzerstörerischem Verhalten. Das Unglaubliche daran: Niemand hat was gemerkt. Ich war zu jeder Zeit die funktionierende Lichtgestalt, die ich immer war.

 

«Ich habe zu einem Ich gefunden, das ich selbst recht gern mag. Auch wenn das bedeutet, dass ich nicht mehr ganz so hell für andere leuchte wie auch schon.»

Ich weiss nicht mehr, was den Ausschlag gab, aber irgendwann war mir plötzlich klar: Der einzige Weg, ich selbst zu werden, war, mich mit mir selbst zu konfrontieren. Und da musste ich in meiner Kindheit anfangen. Es war ein langer, harter Weg. Er hat sich gelohnt. Ich falle heute zwar immer noch ab und zu in alte Muster zurück – die Wut auf mich selbst, wenn ich einen Fehler mache, ist zuweilen gigantisch – aber ich habe zu einem Ich gefunden, das ich selbst recht gern mag. Auch wenn das bedeutet, dass ich nicht mehr ganz so hell für andere leuchte wie auch schon. Ich kann damit leben. Und mein Umfeld auch.

Mir ist ganz wichtig zu sagen, dass diese Zeilen kein Vorwurf sind, weder an meine Eltern und erst recht nicht an meinen Bruder. Ich hatte eine glückliche Kindheit, und es war nicht so, dass ich die Erwartungen meiner Eltern erfüllen musste, sondern meine eigenen. Was unsere Seele aus Erlebnissen in unserer Kindheit macht, ist wahnsinnig schwierig einzuordnen, jemand anders wäre mit den gleichen Voraussetzungen einen ganz anderen Weg gegangen.

Ich bin unendlich stolz auf ihn

Mein Bruder hat übrigens eine Ausbildung inklusive Berufsmatura abgeschlossen, lebt allein und hat einen guten Job, der teilweise von der IV finanziert wird. Eine Beiständin von der Kesb hilft ihm, den Alltag zu bewältigen. Alle paar Jahre geht er auf eine grosse Reise, total selbstständig. (Ist natürlich ein Vorteil, wenn man jede Sprache innerhalb von ein paar Wochen so beherrscht, dass man sich durchschlagen kann.) Ich bin unendlich stolz auf ihn.

Dies ist meine sehr persönliche Geschichte. Ihr dürft sie gern kommentieren, wenn ihr mögt. Oder von euch selbst erzählen. Ich freue mich über beides.

Der Artikel von Sandra Casalini

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