Vive la révolution des Wertismus!

Fokus

elleXX – Daniela Hediger 

Es ist höchste Zeit für ein neues Wort, ein Pendant für «Feminismus», findet unsere Autorin. Eine Idee hätte sie bereits – und schreibt heute von einer Utopie, was ein neuer Begriff sonst noch auslösen könnte.

In meinem letzten Essay habe ich die Frage aufgeworfen, wie ein anderes Wort als Pendant zu «Feminismus» lauten könnte. Meines Erachtens ist es höchste Zeit, diesen Begriff im Kampf um Gleichberechtigung für viele, nicht ausschliesslich Frauen betreffende, feministische Themen zu überdenken. Es braucht eine Überführung in einen anderen Begriff, der losgelöst von einer Geschlechtsidentität funktioniert.

In einen Begriff, der für den springenden Punkt steht, der vielen herrschenden Ungleichstellungen zugrunde liegt. Nämlich der Wert, den wir Menschen und Tätigkeiten geben. Deshalb möchte ich folgenden Begriff vorschlagen: Wertismus. Wie ich dazu komme, erkläre ich nachfolgend.

 

Das Problem im aktuellen System liegt meines Erachtens nicht grundsätzlich beim Geschlecht, sondern in der damit verbundenen Abwertung.

 

Ich denke, um die Probleme zu verstehen, müssen wir auf einer tieferliegenden Ebene ansetzen als in der aktuell geführten Diskussion über die Geschlechter. Das Problem im aktuellen System liegt meines Erachtens nicht grundsätzlich beim Geschlecht, sondern in der damit verbundenen Abwertung. In der Abwertung des Weiblichen, der Abwertung des mit weiblich Assoziierten oder des nicht der vorherrschenden männlichen Norm Entsprechenden.

Das heisst zum Beispiel: Ein Mann, der seine weibliche Seite betont und sehr sanftmütig, einfühlsam und gefühlsbetont ist, wird häufig – hauptsächlich von anderen Männern – abgewertet, da er als ihresgleichen nicht würdig, also als nicht gleichwertig gesehen wird. Alles, was mit Frausein und Weiblichkeit zu tun hat oder nicht der «Norm» entspricht,  wird als weniger wert erachtet im Vergleich dazu, was weisse Hetero-Männer bisher waren und taten. Denn dies bestimmte die bisherige Norm. An ihr sollten wir uns im aktuellen System alle ausrichten.

Aber selbst wenn Frauen sich in ihren Tätigkeiten nach dieser Norm ausrichten, sich in Männerberufen behaupten und ihre Lebensläufe denen der Männer anpassen, finden sie weniger Beachtung und Repräsentanz. Sie werden nach wie vor weniger ernst genommen in Politik und Wirtschaft – und ihre Probleme dementsprechend genauso. Sie werden ernster genommen als Frauen, welche zu Hause die Kinder betreuen. Aber auch als erfolgreiche Berufsfrauen sind und bleiben sie Frauen und werden als solche gewertet.

 

Ebenso werden die typisch weiblichen Berufe oder Berufe, die feminisiert werden, nicht als gleichwertig anerkannt. Dies, obwohl sie oftmals systemrelevant sind, etwa im Bereich Pflege oder Kinderbetreuung. Da sie als Frauendomänen gelten, sind Männer da auch selten anzutreffen, und wenn, dann sind sie eine Ausnahme und werden von vielen mit grosser Skepsis betrachtet. Dies von Männern wie auch von Frauen. Denn wir sind ja in derselben Norm und derselben Werthaltung gross geworden.

Deshalb sollten wir eine Auflösung der aktuellen Normen und Rollen anstreben und ein neues gesellschaftliches Narrativ mit einer neuen Wertung schaffen.

Emilia Roig, eine französische Politologin und Autorin des Buches «Why We Matter» schreibt: «Existierende Unterschiede zwischen Menschen sind nicht das Problem, sondern die Wertung, die damit verbunden ist.» Sowie die unterschiedliche Wertung der Arbeit des ausführenden Menschen, würde ich hier gerne hinzufügen.

Und um eben dieser Wertung oder Abwertung und Hierarchie entgegenzuwirken und um alle Individuen, gleich welchen Geschlechts oder welcher Herkunft,  gleich zu bewerten und gleich zu stellen, schlage ich als neuen Begriff «Wertismus» vor.

Wertismus steht für «Wert» und hinterfragt in den tiefsten Tiefen unserer Strukturen, wieso etwas wie wertgeschätzt und dementsprechend bewertet wird. Dazu müssen wir einen neuen Wertungs-Katalog erstellen, nach dem wir anschliessend Menschen, Gegebenheiten und Handlungen neu bewerten. Zuerst müssen wir aber neue Wertschätzungen definieren.

 

Ist es «normal», dass gewisse Menschen als mehr wert gelten als andere? Wollen wir dieses «normal» weiterführen oder aufbrechen?

 

Dieses Hinterfragen nach dem Wert, nach dem «Was ist uns was wert in unserer Gesellschaft?»,  kann uns neue Antworten in Bezug auf unsere zukünftige Gesellschaftsgestaltung geben. Ist es «normal», dass gewisse Menschen als mehr wert gelten als andere? Wollen wir dieses «normal» weiterführen oder aufbrechen? Welches Narrativ vom Lebenslauf wollen wir unseren Kindern in Zukunft mitgeben?

Eine zentrale Frage sollte sein: Wie wollen wir in Zukunft leben und arbeiten? Was ist uns wichtig? Werten wir den Lebenslauf eines Mannes, der Karriere macht und in der Wirtschaft «etwas erreicht», als erfolgreicher und vielleicht wertvoller als den Lebenslauf einer Frau, die Teilzeit arbeitet und sich erfolgreich um die Kinder kümmert? Und wäre es dasselbe, wenn die Geschlechter die Rollen getauscht hätten? Ich denke schon.

Es  liegt demzufolge nicht am Geschlecht, dass diese Wertung anders ausfällt, sondern am Umstand, dass wir in unserer Gesellschaft Karriere und Erwerbstätigkeit generell mehr Wert beimessen als der Kinderbetreuung. Denn Kinderbetreuung generiert keinen direkten monetären Mehrwert. Aber sind gesunde Kinder nicht die Voraussetzung für eine prosperierende Zukunft?

 

Wollen wir weiterhin ein System, in dem sich nur Frauen der bisherigen Männervita anpassen können? Oder wollen wir nicht lieber ein System, in dem sich auch Männer einer Frauenvita anpassen können? Will heissen, dass auch Männer Teilzeit arbeiten können, sich somit auch mehr der unbezahlten, aber anderweitig bereichernden Familienarbeit widmen können? Sollten wir nicht vielmehr die Familienarbeit aufwerten, neu wertschätzen und neu bewerten?

Wäre es nicht wunderbar, ein System zu haben, das es zulässt, selbst zu wählen, wie das Leben gestaltet wird? Ohne Rollenzwänge? Frauen erlauben sich dies schon jetzt vermehrt, allerdings noch mit vielen Hürden. Nun braucht es eine Bewegung auf der Seite der Männer. Denn in der Familienarbeit ergibt sich durch die veränderten Lebensläufe der Frauen eine Lücke. Mittlerweile gibt es immer mehr Männer, welche ihre Lebensgestaltung ändern möchten, es aber nicht tun. Vielfach aus Angst davor, von den anderen Männern, der Familie und Freunden dafür abgestraft und abgewertet zu werden und als nicht ambitioniert und somit nicht als «richtiger» Mann gesehen zu werden.

Die neue Wertung der bisherigen Normen, der verschiedenen Individuen wie auch der bezahlten und unbezahlten Arbeiten würde meines Erachtens auch zu komplett anderen Entscheidungen in der Politik und Wirtschaft führen. Die Politik hätte bei einer neuen Bewertung beispielsweise schon lange mehr in Kinderbetreuung, Bildung und Pflege investiert. Somit hätten wir nun weniger Herausforderungen, Menschen für den Lehrer:innenberuf sowie für die Pflege zu begeistern. Und vielleicht würde sich mit einer neuen Wertung auch unsere eigene Lebensgestaltung ändern.

Ausserdem würde sich der Fokus in den Diskussionen mit einem neuen Begriff auf die ursächliche Ebene verlagern, nämlich auf die des Wertes und wie wir was bewerten. Dies würde hoffentlich die hitzigen Debatten rund um das Geschlecht etwas beruhigen.

Beheben wir die Probleme der Ungleichstellung also an der Ursache und benennen wir diese auch so, indem wir die Begrifflichkeit vom Geschlecht «femina» loslösen und vermehrt mit dem Begriff Wertismus argumentieren. Viele Probleme des Feminismus liegen nämlich nicht beim Geschlecht, sondern in der Wertung sowie der Abwertung, die in unserem patriarchalen System vorHERRschen. Und in diesem sind wir alle gefangen! Dieses System bedarf definitiv einer Revolution. Damit wir alle gemeinsam in einer neuen, gleichberechtigten Zukunft ankommen können.

Beginne gleich jetzt damit und finde in der Online-Galerie Werke von Künstlerinnen, mit denen sie auf ihre Weise aufrufen zu einer neuen Bewertung und Wertschätzung auf verschiedensten Ebenen. Vive la révolution des Wertismus!

Der Artikel von Daniela Hediger

Bild: Ansicht: Kunstmuseum Luzern

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