Tolstoi begeht literarischen Femizid an seiner Frau. Sie rächt sich virtuos

Watson – Simone Meier

Wenige Tage vor der Hochzeit bringt der russische Dichter seiner Braut bei, dass er sex- und spielsüchtig ist und klare Erwartungen an sie hat. Die beiden quälen sich durch eine Ehe. Dann zieht er literarische Konsequenzen. Sie auch.

Ein Zugabteil voller Fremder unterhält sich. Über Männer, Frauen, Liebe, Sex, über den neumodischen europäischen Brauch der Ehescheidung, der noch nicht in Russland angekommen ist. Und über einen, der seine Frau ermordet hat. Einer der Reisenden, ein vornehm ergrauter Herr, redet sich in Rage, es gebe keine Seelenverwandtschaft, keine gemeinsamen Ideale zwischen den Geschlechtern, einzig körperliche Anziehung und diese könne sich unmöglich auf eine Person beschränken, das sei der Fluch.

Endlich stellt er sich vor: Er ist Posdnyschew, der Frauenmörder, über den die anderen geredet haben. Und Posdnyschew erzählt nun die Geschichte seiner Ehe und wir hören ihm widerwillig zu, die Geschichte eines verquälten, zutiefst eifersüchtigen Mannes mit religiöser Neurose und antisemitischen Tendenzen. Er und seine Frau führen ein triebgesteuertes «Schweineleben», das sich für ihn durch den Zweck der Fortpflanzung bestens rechtfertigen lässt.

Doch nach fünf Schwangerschaften verbieten die Ärzte seiner Frau eine weitere und geben ihr «ein Mittel, das zu verhüten». Jetzt traut er ihr alles zu. Wenn eine Frau verhütet, kann sie auch fremdgehen. Eines Abends findet er sie mit dem Musiklehrer bei Tisch, nicht etwa im Bett, und ersticht sie. Ein paar Seiten lang stirbt sie, ein paar Seiten lang gibt er ihr die Schuld an ihrem Tod, prototypisches Victim Blaming, dann stellt er sich der Polizei, kommt vor Gericht und wird freigesprochen.

16 Schwangerschaften

Als Sofja Tolstaja liest, was ihr Mann Leo Tolstoi da Ende der 1880er-Jahre unter dem Titel «Die Kreutzersonate» fabriziert hat, ist sie schockiert. Denn ganz klar ist der Puritaner Posdnyschew eine schrillere Version ihres Mannes, der in allem für Gerechtigkeit ist – für die Armen, die politisch und religiös Verfolgten, die Tiere – nur nicht für die Frauen. Beziehungsweise zunehmend nicht mehr für die Frauen.

Noch in «Anna Karenina» hatte er in den 1870er-Jahren äusserst realistisch und nicht verurteilend über das Schicksal einer Frau geschrieben, die es wagt, sich die sexuelle Freiheit der Männer zu nehmen und daran gesellschaftlich zugrunde geht. Mit dieser Grosszügigkeit ist nun Schluss. Und in seiner Ehe hat sie noch nie gegolten. «Ich bin Befriedigung, ich bin Kindermädchen, ich bin ein alltägliches Möbelstück, ich bin eine Frau», hat sie schon früh in ihr Tagebuch geschrieben.

Zudem erkennt Sofja Tolstaja in vielen Details der «Kreutzersonate» ihr eigenes Eheleben. Auch nach ihrer fünften und wie immer schweren Schwangerschaft verboten ihr die Ärzte eine weitere, doch der Patriarch Tolstoi drohte ihr mit Trennung, wenn sie verhüten würde, er nannte ihre angeschlagene Gesundheit eine «weibische Schwäche».

Insgesamt erleidet Sofja 16 Schwangerschaften und hat drei Fehlgeburten. Bis zu ihrem 44. Geburtstag ist sie entweder schwanger oder stillt gerade ein Baby oder beides. Auch die Szene mit dem Musiklehrer ist aus ihrem Leben gegriffen. Dass der reale Musiklehrer schwul war, konnte Tolstois Eifersucht nicht bremsen.

Befriedigung ist Befehl

1862 haben Leo und die 15 Jahre jüngere Sofja geheiratet, er war betört, weil sie jung und schön war (in der «Kreutzersonate» nennt er dies «eine Falle stellen» mit ihrem Liebreiz) und weil sie gebildet war und schreiben konnte. Sie war über alle Massen verliebt, weil er ein Schriftsteller und Graf war. Die Arzttochter und der Dichter hielten sich für Seelenverwandte. Ursprünglich hätte Tolstoi ihre ältere Schwester heiraten sollen, doch dann gefiel ihm Sofja, die er schon seit ihrer Kindheit kannte, besser. Es ist wie bei Sissi, Franzl und Helene.

Sofja ist ein Stadtkind, ihr Vater ist nicht nur Arzt, sondern Hofarzt, «die Winter über lebten wir in Moskau, im Kreml», heisst es zu Beginn ihrer «Kurzen Autobiografie». Als Frau durfte sie zwar keinen universitären Abschluss ablegen, aber einen als Hauslehrerin, was damals in Russland der höchste Bildungsgrad für Frauen war.

Leo ist ein Mann, der vor seiner Ehe viele Prostituierte frequentierte und die eine oder andere Bäuerin schwängerte (eine davon lebt mit ihrem Kind auf Tolstois Gut Jasnaja Poljana) und er will, dass seine junge Frau das alles weiss. Noch vor der Hochzeit gibt er ihr alte Tagebücher zu lesen, die die 18-Jährige nachhaltig verstören, sie erfährt darin, dass ihr idealisierter Mann spielsüchtig, sexsüchtig und alkoholsüchtig ist. Und sie begreift, dass «Befriedigung» zu ihren Kernaufgaben gehören wird.

Sie legt ihm ihrerseits vor ihrer Hochzeit die Erzählung «Natascha» vor: Zwei Schwestern lieben den gleichen Mann. Er zeigt sich begeistert. Doch er pflanzt den Samen ihrer literarischen Minderwertigkeit so geschickt in ihren Kopf, dass sie «Natascha» verbrennen will. Er hindert sie nicht daran.

Der Graf posiert als Bauer

Die beiden ziehen nach Jasnaja Poljana und Sofja wird seine dauerschwangere Privatsekretärin. Sie ist die Erste, mit der er die Konzepte seiner Bestseller «Krieg und Frieden» oder «Anna Karenina» bespricht, sie greift ein und schreibt abertausende Seiten wieder und wieder ins Reine, sechsmal, sagt sie, habe sie allein die über zweitausend Seiten von «Krieg und Frieden» überarbeitet. Sie stellt alles, was sie kann, in den Dienst seines «Genies», sie sieht darin ihre Berufung, ihr Anteil an seinem Ruhm ist riesig.

Tolstoi wird zum beliebtesten Schriftsteller Russlands und einem erfolgreichen Literaturexport, dem Zaren ist er immer wieder ein Dorn im Auge, weil der Graf immer wieder mit den Bauern in seinen Büchern sympathisiert und Reformpläne entwirft, doch er wagt nicht, gegen Tolstoi vorzugehen, weil er einen Volksaufstand befürchtet.

Nach zwanzig Jahren Ehe und Erfolg werden Tolstois Ideen zunehmend verstiegen, er inszeniert sich als der grosse Reformer mit dem weissen Bart, der sich als Bauer verkleidet, aber sich auf seinem Gut weiterhin als Graf gebärdet, schart Jünger, die ihn als Guru verehren, um sich, verschränkt religiöse Ideen mit Vegetarismus, Antialkoholismus und sexueller Enthaltsamkeit (jedenfalls auf dem Papier). Er schreibt Traktate, die im Gegensatz zu seinen Romanen zensiert werden, aber als Raubkopien im Umlauf sind.

Ein Roman als Demütigung

Auch die «Kreutzersonate» wird 1889 kurz nach ihrem Erscheinen verboten, Posdnyschews Reden über Intimität und Begehren und seine Fundamentalkritik der christlichen Ehe verletzen alle Regeln. Doch der Text existiert, und ganz Russland liest begierig die Raubkopien. Ganz Russland ist sich einig, dass es sich bei der literarischen Ehefrau um ein Porträt von Sofja Tolstaja handeln muss. Und dass eine wie sie den Tod verdient hat.

Sofja ist fassungslos. Seit bald dreissig Jahren stellt sie all ihre Zeit, ihren Geist, ihren Körper in den Dienst dieses Mannes, seit vielen Jahren verkrachen und versöhnen sie sich immer wieder, schreiben die gehässigsten, bösartigsten Dinge übereinander in ihre Tagebücher und lassen diese so herumliegen, dass der andere sie finden muss. Immer wieder droht er, sie mit einer gefügigen jungen Bäuerin zu verlassen, und sie verschwindet mit den Kindern nach Moskau, doch dann finden sie wieder zueinander, schreiben sich die zärtlichsten Liebesbriefe und brauchen einander.

Jetzt fühlt sie sich verraten. Die «Kreutzersonate» «hat mich vor den Augen der ganzen Welt gedemütigt und den letzten Rest von Liebe zwischen uns zunichtegemacht», schreibt sie in ihr Tagebuch. Doch sie darf sich nichts anmerken lassen, sie muss vor der Öffentlichkeit behaupten, nichts mit Posdnyschews Frau gemeinsam zu haben, ihr bleibt nichts anderes übrig, als sich für das Buch einzusetzen und es zu verteidigen. Sie fährt zum Zar und bittet ihn, die Zensur aufzuheben. Er kommt ihr entgegen. 1891 erscheint die «Kreutzersonate» ganz legal.

Die Sicht der Ermordeten

Sofja rächt sich. Sie schreibt die «Kreutzersonate» noch einmal neu, jetzt erzählt sie die Geschichte der Frau. Der jungen Anna, die von einem reifen Familienfreund und Fürsten, der sich für einen grossen Intellektuellen hält und immer irgendeinen manierierten Mist veröffentlichen muss, gepflückt wird. Sie versucht, mit ihm eine halbwegs kultivierte Beziehung aufzubauen, doch was auch immer sie sagt oder tut, er denkt nur an Sex. Sie hat Mühe, diesen zu geniessen, zu oft fühlt es sich an wie eine Vergewaltigung.

Sie ekelt und fürchtet sich vor ihrem Mann, weiss nicht, wie sie dem abhelfen kann und verhält sich «fügsam – doch das war schon alles». Lieber will sie unterrichten, zeichnen, Klavier spielen, sich über Kultur unterhalten. Ihr Mann will nichts von dem. Er geht jagen – Tiere und Frauen, eine seiner Geliebten verhöhnt Anna. Sie wird depressiv, welkt dahin, gebiert ein Kind ums andere, stirbt fast dabei, ihrem Mann ist sie egal, bis sie seinen alten Bekannten Bechmetew kennenlernt, einen sensiblen, kulturinteressierten Mann, der sie als Gleichberechtigte behandelt. Anna und Bechmetew verbringen viel Zeit miteinander, sie ist glücklich und ein wenig in ihn verliebt, er wird ihr bester, innigster Freund, macht ihr aber keine erotischen Avancen.

Gut möglich, dass Bechmetew ebenso schwul ist wie Sofjas Klavierlehrer, ausgesprochen wird nichts, alles ist in einer schönen, romantisch deutbaren Schwebe, doch natürlich droht das schlimme, grosse Finale. Der eifersüchtige Fürst liegt nach einem Jagdunfall grollend zu Hause, Bechmetew ist inzwischen todkrank, Anna und er unternehmen eine letzte melancholische Kutschfahrt, bei der sie ihn zum Abschied auf die Stirn küsst, mehr geschieht nicht. Als sie nach Hause kommt, wirft der Fürst einen Briefbeschwerer aus Marmor nach ihr und trifft sie an der Schläfe. Seitenlang stirbt sie. Unschuldig. Bechmetew folgt ihr einen Monat später. Der Fürst bereut.

Eine Ehe wird seziert

«Eine Frage der Schuld» nennt Sofja Tolstaja ihren Roman, der etwa so lange wie die «Kreutzersonate» ist und faszinierend und schmerzhaft exakt eine dysfunktionale Ehe seziert. Als Untertitel setzt sie «Anlässlich der ‹Kreutzersonate› von Leo Tolstoi» und schafft damit gleich Klarheit. Doch ihr Leben ist bereits unruhig genug, sie will ihre eigene Ehe nicht mehr öffentlich diskutiert sehen, sie will nicht, dass ihr 1893 vollendeter Roman zu Lebzeiten veröffentlicht wird.

Auf Russisch erscheint er 1994, 75 Jahre nach ihrem Tod, auf Deutsch 2008, er ist eine Sensation, natürlich wegen der autobiografischen Bezüge, aber auch, weil kaum ein derart radikales Stück Literatur von einer Frau aus jener Zeit überliefert ist. Und alles, was Tolstoi in der «Kreutzersonate» verloren hatte, sprachliche Eleganz, erzählerische Souveränität, diese Kraft, die macht, dass man mit glühendem Gesicht bis zum bittersten Ende liest, ist hier mit einer überragenden Leichtigkeit verhandelt. «Eine Frage der Schuld» ist ein kleines Meisterinnen-Werk über Gaslighting, eheliche Gewalt und nicht zuletzt die geistige Auslöschung und Instrumentalisierung einer Frau aus bester Gesellschaft.

Der schnellere Tod

Sie selbst harrt bis zu ihrem Tod 1919 auf Jasnaja Poljana aus. Am glücklichsten ist sie, als sie vor einer schweren Operation überzeugt ist, zu sterben. Und als Tolstoi 1910 im Alter von 82 Jahren eine seiner wilden Fluchten vor Frau und Familie unternimmt, weil diese seinem Genie angeblich im Wege stehen und immerzu Grosses verhindern, beschliesst sie aus Trotz, ein massives Zeichen zu setzen und versucht, sich in einem Teich zu ertränken. Doch er stirbt schneller: Während sie zuhause von einem Nervenarzt behandelt wird und Essen und Trinken verweigert, liegt er mit 40 Grad Fieber und einer Lungenentzündung im Haus des Bahnhofsvorstehers von Astapowo.

Sofja reist sofort nach Astapowo, der kleine Bahnhof wird von der Weltpresse belagert, einer von Tolstois Jüngern schirmt den Sterbenden ab, Sofja wird lange nicht zu ihm vorgelassen: «Die Türen wurden verschlossen, und wenn ich durch das Fenster nach meinem Mann sehen wollte, wurde dieses verhängt», schreibt sie in ihrer Autobiografie. «Zwei Pflegerinnen, die mir zur Seite standen, hielten mich an beiden Armen fest, so dass ich mich nicht frei bewegen konnte.» Minuten vor seinem letzten Atemzug darf sie zu ihm, danach bricht sie selbst mit einer Lungenentzündung zusammen.

Die Meinung der Öffentlichkeit ist klar: Sie hat ihn in den Tod getrieben. Sie hat sein Genie vernichtet. Die Literaturgeschichtsschreibung wird diese Sicht jahrzehntelang teilen. Bis «Eine Frage der Schuld» erscheint. Seither wird auch Sofja Tolstaja gefeiert.

Der Artikel von Simone Meier

Diesem Artikel liegt u. a. folgende Literatur zugrunde:
  • Sofja Tolstaja: Eine Frage der Schuld & Kurze Autobiografie der Gräfin Sofja Andrejewna Tolstaja. Manesse Verlag, 2008.
  • Ursula Keller, Natalja Sharandak: Sofja Tolstaja – ein Leben an der Seite Tolstojs. Insel Verlag, 2010.
  • Leo Tolstoi: Die Kreutzersonate. Diverse Ausgaben.
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