So krass sind die sozialen Folgen einer unheilbaren Erkrankung

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watson.ch – Sandra Casalini

Über 2 Millionen Menschen in der Schweiz sind chronisch krank. Auch meine Freundin Andrea. Wie krass die sozialen Folgen einer solchen Erkrankung sind, bekomme ich an ihrem Beispiel mit. Wie schwierig es manchmal ist, Verständnis aufzubringen, sehe ich an mir selbst.

Schon wieder. Ich habe mich mit Andrea in einem Café verabredet, und sie taucht nicht auf. Obwohl sie vor einer Stunde noch getextet hat, es gehe ihr heute gut, sie würde es schaffen. Ich weiss, dass es nichts mit mir zu tun hat. Ich weiss, dass sie nichts lieber täte, als mit mir einen Kaffee zu trinken jetzt. Trotzdem bin ich hässig. Nicht auf sie. Auf diese verdammte Krankheit, die mir meine zuverlässige, loyale, lebenslustige Freundin genommen hat.

Nein, Andrea ist nicht tot, zum Glück. Aber sie ist eine andere, als sie vorher war. Bevor sie mehr oder weniger täglich Schmerzen hatte. Bevor sie eine Krankheit hatte, die man ihr nicht ansieht, aber die nie wieder weggehen wird.

Sechs Jahre bis zur Diagnose

2,2, Millionen Menschen in der Schweiz leiden laut Bundesamt für Statistik an einer unheilbaren Krankheit. Die häufigsten chronischen Erkrankungen sind Allergien, gefolgt von Arthrose/Arthritis. Auch Andrea hat eine rheumatische Erkrankung. Ihre Diagnose lautet Axiale Spondyloarthritis, besser bekannt unter dem Namen Morbus Bechterew. Vereinfacht gesagt handelt es sich dabei um eine chronische Entzündung der Wirbelsäule, die Knochenwucherungen auslöst und im schlimmsten Fall zur Versteifung der Wirbelsäule führen kann. Die Folgen sind Schmerzen in Rücken, Brust und Nacken. Zusätzlich können sich andere Gelenke wie Schultern, Knie oder Sehnen entzünden. Laut Schätzungen der Rheumaliga Schweiz haben gut 70’000 Menschen in unserem Land Morbus Bechterew. Eine korrekte Diagnose haben allerdings die wenigsten, da von den ersten Symptomen bis zur Diagnose im Schnitt sechs Jahre vergehen.

 

Die Diagnose war einerseits eine Erleichterung – endlich wusste man, was los ist – andererseits ein Schock. Nicht nur für Andrea, auch für ihr gesamtes Umfeld, mich inklusive.»

 

Auch Andrea hatte bereits vor zehn Jahren, mit Mitte 30, permanent Gelenkschmerzen. An eine rheumatische Erkrankung dachte niemand, auch sie selbst nicht. Auch nicht die Ärzte. Wer hat in diesem Alter schon Rheuma? Die Diagnose erhielt sie vor fünf Jahren. Da gab es schon lange Morgen, an denen sie so starke Schmerzen hatte, dass sie nicht mal aufstehen konnte. Und Tage, an denen sie nur weinte, oder schrie – auch die Kinder anschrie – oder beides. Dass ihre Ehe das aushielt, finde ich bis heute bewundernswert.

Die Diagnose war einerseits eine Erleichterung – endlich wusste man, was los ist – andererseits ein Schock. Nicht nur für Andrea, auch für ihr gesamtes Umfeld, mich inklusive. Meine witzige, laute, unternehmungslustige Freundin hat eine Krankheit, die unheilbar ist. Sie wird nie wieder gesund. Wie der Verlauf sich entwickeln würde, stand in den Sternen und tut es auch heute noch. Mit Medikamenten lässt sich die Krankheit zwar einigermassen in Schach halten. Aber wie lange? Und was sind die Konsequenzen?

«Die ist gar nicht so krank, wie sie tut»

Rheumatische Erkrankungen behandelt man meist mit einer niedrig dosierten Chemotherapie. Andrea verpasst sich die Spritzen selbst und timt sie so, dass alles vorbereitet ist für die 48 Stunden danach, wenn sie jeweils nur noch am Boden kriecht und das Bad vollkotzt. Wenn’s ihr dann besser geht, geht sie ins Fitnessstudio oder laufen oder auch mal Velofahren – möglichst viel Bewegung beugt der Versteifung vor. Aber es kostet sie jedes Mal Überwindung, seit ihre 12-jährige Tochter weinend erzählte, jemand habe sie auf dem Velo gesehen und zu ihr gesagt: «Deine Mutter fährt ja Velo, die ist doch gar nicht so krank, wie sie immer tut.»

Dieser Teil ihrer Krankheit schmerzt Andrea oft mehr als die Schmerzen selbst: die sozialen Folgen. Die Ausgrenzung, sogar in der eigenen Familie, wenn auch unfreiwillig. Ferien und Ausflüge macht ihr Mann allein mit den beiden Töchtern. Lange Reisen, langes Sitzen oder Stehen oder Laufen ist für sie unmöglich geworden. Von den Freundinnen und Freunden sind nur noch ein paar wenige geblieben. Denn gross etwas unternehmen kann man nichts mehr mit Andrea, und jedes zweite Mal wird man versetzt.

 

«Meine Angebote, zu kochen, Besorgungen zu machen oder zu den Kids zu schauen, werden mir oft als Mitleid ausgelegt, und vielleicht sind sie’s ja sogar ein bisschen.»

 

Auch ich muss mich immer wieder dran erinnern, dass hier die «normalen» Regeln einer Freundschaft nicht gelten. Dass ich mehr investiere als sie, weil sie nicht mehr investieren kann. Und dass der Grat zwischen Hilfsbereitschaft und Mitleid zuweilen ein sehr schmaler ist. Meine Angebote, zu kochen, Besorgungen zu machen oder zu den Kids zu schauen, werden mir oft als Mitleid ausgelegt, und vielleicht sind sie’s ja sogar ein bisschen, wenn auch nicht bewusst.

Wenn wir’s mal schaffen, einander zu sehen, drehen sich Dreiviertel der Gespräche um Andreas Gesundheit. Auch nicht gerade das, was eine Freundschaft sexy macht. Trotzdem möchte ich sie nicht missen. Nicht nur, weil trotz allem immer wieder die humorvolle, geistreiche Andrea durchblitzt, sondern auch, weil ich durch sie etwas Wertvolles gelernt habe: Manche Dinge kann man nicht ändern. Aber man kann das Beste aus dem machen, was ist, und zwar heute, nicht morgen. Oder, wie Andrea es ausdrückt: «Jede Minute, in der es mir gut geht, ist es wert, sie nicht mit Sorgen oder Putzen zu verbringen.»

Der Artikel von Sandra Casalini 

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