Sinéad O’Connor (†56): «Seid gut zueinander»

Fokus

annabelle.ch – Heidi Rietsch

Die irische Sängerin Sinéad O’Connor ist mit 56 Jahren verstorben. Vor zehn Jahren sprach sie mit uns über mentale Gesundheit, die Bedeutung von Familie und gesellschaftliche Erwartungen.

Das Interview ist in der annabelle-Ausgabe vom Mai 2013 erschienen.

«Die hat meine Tochter selbst gemacht», sagt Sinéad O’Connor stolz und stellt mir ein Riesenglas Konfitüre hin. Dazu Scones und Butter. Über den Rand der «I love London»-Tasse beobachte ich die 46-jährige Sängerin, wie sie zwischen Kühlschrank, Kaffeemaschine und Besteckschublade hin und her hetzt. Die filigrane Gestalt hebt mal ein buntes Kinderspielzeug vom Boden auf, mal rückt sie eine kitschige Marienstatue ins rechte Sonnenlicht oder schiebt sich ein Stück Gebäck in den Mund. Dazwischen entschuldigt sie sich für ihren verwilderten Garten und verlegt für ein paar hektische Minuten ihr iPhone.

Doch plötzlich bleibt die Rastlose stehen und sieht mich an – wie vor mehr als zwanzig Jahren, als ich sie zum ersten Mal auf MTV sah, im Video zu «Nothing Compares 2 U». Ich war nur eine von Millionen, die in die grossen Augen des blassen Mädchens mit der Stoppelglatze starrte, jetzt sitze ich Sinéad O’Connor allein gegenüber. «Mein Sohn kommt um eins aus der Schule», sagt sie und lächelt etwas schief. «Sollen wir anfangen?» Und so lerne ich die andere Sinéad O’Connor kennen, die, die ein altmodisches Haus im Küstenstädtchen Bray bei Dublin zu ihrem Lebenshafen gemacht hat.

annabelle: Sinéad O’Connor, was hat Sie in diese dörfliche Idylle verschlagen?
Sinéad O’Connor: Ich habe fast zwanzig Jahre in London gelebt und es immer geliebt. Doch es wurde zu gefährlich für die Kinder. Überall Drogen und so ein Scheiss. Aus der Sicht einer Mutter mag ich Bray, aber natürlich ist es hier ultralangweilig – ausser du betrinkst dich. Aber ich bin allergisch auf Alkohol, mir kommt er sofort wieder hoch. Pf, pf, pf! (Sie lehnt sich nach vorn, so als müsse sie sich übergeben.)

Und das als Irin?
Fürchterlich. Ich bin in Glenageary aufgewachsen, zehn Minuten von hier mit dem Zug. Das ist noch kleiner. Es gibt dort nur ein winziges Geschäft. Sonst gar nichts.

«Für mich gab es neben der Musik nicht viel Hoffnung»

Hat Sie die Langeweile als Jugendliche nicht erfinderisch gemacht?
Ich habe viel gestohlen, Kleidung und so, und die Schule geschwänzt, wenn Sie das meinen. Deshalb steckten sie mich auch ins Magdalene Asylum, eine katholische Besserungsanstalt für Mädchen und ledige Mütter. Es war eine schmerzhafte Zeit, aber auch ein Wendepunkt in meinem Leben. Dort schenkte mir eine Nonne eine Gitarre. Sie hatte kapiert, dass es für mich neben der Musik nicht viel Hoffnung gab. Ich wäre sonst wohl im Gefängnis gelandet.

Es heisst, Ihre Mutter sei eine Kleptomanin gewesen.
Ja, und sie war auch gewalttätig. Ich war 17 oder 18, als sie starb. Ein Autounfall. Aber ich hatte immer schon eine engere Verbindung zu meiner Grossmutter. Sie besass diese magische Eigenschaft, schweigend zu kommunizieren. (Ihr Handy läutet. Auf dem Display steht «Dad Mobile».) Moment bitte … (Sie schaltet das Telefon auf stumm.)

War das Ihr Vater?
Ja, wir sind uns sehr nahe. Ich lebte auch einige Jahre bei ihm und seiner zweiten Frau. Wir waren eine grosse Familie: Ich hatte drei Brüder, eine Schwester und drei Stiefschwestern.

Heute haben Sie selbst vier Kinder – von vier verschiedenen Männern.
Zwei waren geplant, zwei eine Überraschung. Ein Mädchen hatte mir erklärt, dass der 14. Tag nach der Periode der einzige sei, an dem man nicht schwanger werden könne. Diese Fehlinformation bescherte mir meinen ersten Sohn. Ich war zwanzig, und mein Debütalbum kam drei Wochen nach seiner Geburt raus. Mein zweites Kind war geplant: Ich wusste schon immer, dass ich einmal eine Tochter haben und sie Róisín nennen würde. Shane war wieder eine Überraschung. Und der Letzte ein Wunschkind.

Sie haben auch viermal geheiratet – zuletzt im Dezember 2011 in Las Vegas – und sich zwei Wochen später wieder getrennt. Bedeutet Ihnen die Ehe nichts?
(Zündet sich die x-te Zigarette an und überlegt.) Manchmal, wenn du etwas vermisst als Kind, versuchst du es als Erwachsene selber zu kreieren – was selbstverständlich nicht funktioniert. Trotzdem projiziert man alles Mögliche in die Ehe. Sicherheit und all diesen Scheiss. Mein letzter Mann, Barry Herridge, wohnt gleich die Strasse runter. Wir leben getrennt, aber lassen uns nicht scheiden, damit ich nicht sofort wieder losrennen und heiraten kann. Mein erster Mann war übrigens mein Produzent und Manager. Wir waren wie Bruder und Schwester. Deshalb ging die Ehe auch schief.

«Ich bin nicht auf der Welt, um einen Beliebtheitswettbewerb zu gewinnen»

Sie hatten vor laufenden Kameras ein Bild des Papsts zerrissen, erklärten sich stolz zur Lesbe, nahmen es später wieder zurück und liessen sich zur Priesterin weihen. Was bezwecken Sie mit solchen Aktionen?
Ich bin nicht auf der Welt, um einen Beliebtheitswettbewerb zu gewinnen. Wenn du dir Sorgen darüber machst, was andere über dich denken, hast du ein Problem. Ich habe mich spirituell weiterentwickelt und scheiss auf alles, ausser auf die Kids und den Heiligen Geist. Der Titel meines Albums «How About I Be Me (and You Be You)» ist eine höfliche Art zu sagen: Fuck off!

Viele Sängerinnen unterstreichen ihre Weiblichkeit. Sie nicht.
Ich fühle mich eigentlich sehr männlich, ziemlich testosterongeladen. Ausserdem glaube ich an die Theorie, dass wir halb weiblich und halb männlich sind.

Stimmt es, dass bei Ihnen eine manisch-depressive Störung diagnostiziert wurde?
Ja. Während der Tour im letzten Jahr hatte ich meine Medikamente abgesetzt, weil sie mich total aufblähten. Aber ich konnte nicht schlafen, nicht essen. Nach drei Monaten fühlte ich mich wie im Delirium. Jetzt ist wieder alles in Ordnung. Ich nehme die richtigen Tabletten. Ausserdem hat meine Krankheit auch positive Seiten.

Welche denn?
Sie macht meine Beziehung zur Musik noch intensiver. Künstler sind besonders anfällig für Bipolarität, weil wir Orte in uns besuchen, wo andere Leute nicht einmal hinschauen würden. Dunkle Orte. Für mich gibt es auch nur einen Grund, warum man einen Song schreiben sollte: damit man nicht verrückt wird. Die Rasta-Leute verstehen Musik als Priesterschaft, das sehe ich genauso.

Und was predigen Sie den Menschen?
Seid gut zueinander!

Der Artikel von Heidi Rietsch

Bild: annabelle/ Alamy

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