Sonntagszeitung – Simone Luchetta –
Die Stiftung Dfinity baut in Zürich an nichts Geringerem als einem neuen Internet. Das klingt gewaltig – scheint aber nicht unmöglich.
Die Revolutionäre der Neuzeit tragen Turnschuhe und Pullover, da hält es Dominic Williams mit Steve Jobs, dem verstorbenen Apple-Gründer, und mit Facebook-Chef Mark Zuckerberg. Wenn es nach Williams geht, wird er bald mit den beiden Techtitanen in einem Atemzug genannt werden: Mit seiner Kryptostiftung Dfinity will er nichts Geringeres, als das Internet neu erfinden und damit die Welt zu einem besseren Ort machen.
Im vierten Stock eines unscheinbaren Gebäudes an der Stockerstrasse am Hauptsitz in Zürich arbeitet der Grossteil der insgesamt 260 Mathematiker, Verschlüsselungsexpertinnen und Programmierer. Weitere Forschungszentren unterhält die 2015 gegründete Stiftung im kalifornischen Palo Alto und in San Francisco. Bis 2018 konnte Dfinity über 160 Millionen Dollar an Investorengeldern sammeln. Damit ist die Stiftung unter den Top Ten der höchstbewerteten der mehr als 1000 Start-ups im Schweizer Crypto Valley.
Internet Computer heisst die neue Art des Internets, die der 51-jährige Unternehmer Williams und seine Mitstreiter erschaffen: Ziel ist ein freies, offenes Internet, in dem jeder unter gleichen Bedingungen ein Geschäft aufbauen kann.
Funktionieren soll das so: Ein Netzwerk aus 53 unabhängigen Rechenzentren weltweit soll es Entwicklern ermöglichen, direkt eigene Apps und Dienste anzubieten und auf Techgiganten wie Amazon oder Facebook zu verzichten. Dabei setzt Williams auf die Blockchain – eine dezentrale, von den Nutzern gemeinsam betriebene Datenbank, die es ermöglicht, Informationen fälschungssicher und transparent zu übermitteln.
Mit seinem Chef-Kryptologen Jan Camenisch (53) hat sich Williams einen Topexperten mit an Bord geholt. Camenisch forscht seit über 30 Jahren am Problem, wie sich Benutzerinnen und Benutzer im Internet sicher ausweisen können, ohne dabei persönliche Daten preiszugeben. 19 Jahre davon verbrachte er als einer der führenden Wissenschaftler in der Forschungsabteilung für Verschlüsselung und Datenschutz bei IBM in Rüschlikon ZH. Er hält 120 Patente und erhielt für seine Leistungen in der Kryptografie verschiedene Auszeichnungen.
«Ziel ist es, das Internet in einen globalen Computer zu verwandeln, der alle Menschen miteinander verbindet.»
Als Camenisch Dominic Williams vor rund vier Jahren traf, war er fasziniert von dessen Vision eines Internet Computer: «Aufgrund meiner Erfahrung wusste ich, dass das möglich war. Weil Dominic neben dem technischen Know-how auch die Unternehmerseite kannte, war ich umso sicherer, dass wir das schaffen können», erzählt Camenisch. Seit 2018 leitet er die Forschungs- und Entwicklungsabteilung in Zürich.
Im Juni 2021 war es dann so weit: der Internet Computer ging an den Start – ein verteilter «Weltcomputer», wie Camenisch es ausdrückt. Dieser wird von einem Verbund mit derzeit 53 unabhängigen Rechenzentren in aller Welt betrieben und bilden gemäss den Forschern «die erste Blockchain, die in Webgeschwindigkeit läuft». Sie ist virtuell und transportiert nicht nur Daten wie das heutige Internet, sondern führt auch spezielle Blockchain-Software aus, sogenannte Smart Contracts. «Ziel ist es, das Internet in einen globalen Computer zu verwandeln, auf welchem irgendwann alle Software läuft», sagt Camenisch.
Um die beteiligten Datenzentren über das Internet zu einem verteilten virtuellen Computer zu verbinden, hat Dfinity einen neuen Standard entwickelt: das dezentrale «Internet Computer Protocol». Vereinfacht erklärt: Im heutigen Internet sind Daten und Software an bestimmte Computer und Geräte gebunden. Auf der einen Seite an sogenannte Cloud-Server, die Techgiganten wie Amazon oder Google gehören. Auf der anderen an Geräte von Nutzerinnen und Nutzern wie Laptops, Smartphones oder Game-Konsolen.
Wer einen Dienst wie Netflix nutzen will, muss ihn auf dem Handy installieren. Damit er funktioniert, müssen Daten zwischen dem Smartphone und den Netflix-Rechnern ausgetauscht werden. Dafür, dass die Daten den richtigen Weg im Internet finden, sorgt heute das Internetprotokoll TCP/IP.
Beim neuen Internet Computer von Dfinity gehören Infrastruktur und Apps der Gemeinschaft. Die Software ist nicht mehr auf einen Server von Google, Amazon oder Netflix angewiesen, sondern bewegt sich frei zwischen den vernetzten Rechnern. So soll die Vorherrschaft der Internetgiganten aufgebrochen werden.
Ein weiterer Vorteil sei, dass jede Zeile Code auf der Blockchain unveränderbar gespeichert sei und Rechenresultate nicht manipuliert werden könnten: «Da braucht es keine Firewall, und Cybersecurity-Abteilungen kann man sich sparen», sagt Camenisch. Hacker könnten durch keine Hintertür eindringen, weil es keine gebe.
Das bedeutet auch, dass alle Dienste immer verfügbar sein werden, weil kein Mensch, keine Firma oder Regierung sie abschalten kann. Die virtuelle Maschine würde laut den Wissenschaftlern sogar einen Atomkrieg überstehen, solange im Netzwerk eines der Rechenzentren läuft. Weil Daten und Software mehrfach vorhanden sind.
Ebenfalls eine Rolle spielt die Internet-Computer-Kryptowährung ICP: Anbieter, die dem Projekt Rechenleistung zur Ausführung der Software zur Verfügung stellen, erhalten Kryptogeld, sogenannte Tokens. Die netzwerkeigene Kryptowährung ist auch die Einnahmequelle der Stiftung: Wer in den Computer investieren will, kauft Tokens. Ihr Gesamtwert liegt derzeit bei 10,7 Milliarden Dollar – der Preis ist von 3 Cent im Jahr 2017 auf heute mehr als 15 Franken gestiegen.
Seit dem Start des Internet Computers können nun Entwickler überall auf der Welt Apps für den «Weltcomputer» programmieren. Wer sich dafür interessiert, lädt eine Art Starterkit herunter, grosse Startinvestitionen entfallen. 160’000 Kits wurden bislang herunter- und rund 50’000 Softwareteile hochgeladen. Bereits soll es über tausend Apps geben.
Eine davon ist Openchat, ein Konkurrenzprodukt zu Facebooks Messenger Whatsapp. Williams demonstriert sie vor Ort: Tatsächlich lässt sich in Webgeschwindigkeit via Blockchain chatten – ohne dass eine Cloud beteiligt ist.
Williams ist zudem überzeugt, dass seine Technologie dabei helfen könnte, den Ukraine-Krieg schneller zu beenden. Statt mit Propaganda will er die russische Bevölkerung mit Informationen versorgen, die nicht manipulierbar wären. Gelingen soll das mit der App «People Parties», mit der sich Teilnehmende in virtuellen Chaträumen anonym und genau einmal authentifizieren können.
Anders als bei Facebook würden so Fake-Profile und Bots verunmöglicht. Mit «People Parties» und dem Internet Computer könnte man die Propaganda unterbinden und gleichzeitig Informationen unter die Bevölkerung bringen. Als Anreiz, beispielsweise ein Video anzuschauen, würde Teilnehmenden zudem eine Belohnung von fünfzig Dollar in Form von Bitcoins und Ether winken. «Wir arbeiten mit Hochdruck an der Fertigstellung», sagt Williams.
Was am Internet Computer und seinen Möglichkeiten wirklich dran ist und ob er das heutige Internet einst im grossen Stil ergänzen wird, ist schwer einzuschätzen. Anklang findet das Projekt bei Roger Wattenhofer, Informatikprofessor an der ETH Zürich – einem der besten Kenner der Blockchain-Technologie und mit dem Projekt gut vertraut. Er hält die Pläne von Dfinity für realistisch.
Kritische Stimmen werfen der Stiftung hingegen vor, dass der Einsatz einer Blockchain für die meisten Anwendungen, die einst auf dem virtuellen Grossrechner laufen sollen, unnötig sei. Oder sie sehen in Dfinity nicht mehr als eine weitere Kryptowährung, mit der individuellen Eigenschaft, irgendwann einmal das neue Internet kontrollieren zu wollen.
Williams und Camenisch jedenfalls sind überzeugt, dass der Durchbruch bevorsteht. Die Zahl der heruntergeladenen Starterkits werde noch dieses Jahr exponentiell wachsen. Bisher haben fast zwei Millionen Menschen ein Identitätsprofil auf dem Internet Computer angelegt, Nutzerinnen und Nutzer soll es wesentlich mehr geben. Bis alle traditionellen Cloud-Anbieter, sozialen Netzwerke und Finanzdienstleister vollständig ersetzt seien, könne es allerdings durchaus noch ein Jahrzehnt dauern.
Foto: Ela Celik