«Nicht jede muss Chefin werden – aber zumindest wissen, dass es möglich ist»

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Tagesanzeiger – Porträt einer Start-up-Gründerin

Die 32-jährige Melanie Gabriel ist eine von wenigen Gründerinnen in der männerdominierten Fintech-Branche. Jetzt will sie auch anderen Frauen helfen, dort Fuss zu fassen.

Bewusst geplant hat Melanie Gabriel ihre Karriere in der Techbranche nicht.

Neben ihrem Studium arbeitet sie im Marketing einer Techfirma, als ein Freund sie Anfang 2019 während einer Wanderung um Rat fragt. Er will ein Problem lösen, das viele Berufstätige auf die Palme treibt: die Spesenabrechnung.

Sein Ziel ist ein System, das die für Mitarbeitende und Firmen nervenaufreibende Buchhaltung mithilfe von künstlicher Intelligenz vereinfacht.

Die Idee für die neue Firma steht damals bereits, doch wie lässt sich ein sprödes Thema wie Spesenabrechnung an Kunden und Investoren verkaufen?

«Als er mir von Spesen und Fintech erzählt hat, habe ich gedacht: Langweiliger geht es gar nicht. Doch dann hat er gefragt, wie ich das Thema an die Frau und den Mann bringen würde. Da fand ich es eine coole Challenge. Da wusste ich: Das ist mein Ding», sagt Gabriel. Also entschied sie sich, bei dem Start-up einzusteigen.

 

Künstliche Intelligenz für die Spesenabrechnung

Seither sind etwas mehr als zwei Jahre vergangen. Heute ist Gabriel gemeinsam mit vier Kollegen im Gründungsteam des Start-ups Yokoy vertreten. Über 300 Kunden hat es mittlerweile, darunter namhafte Schweizer Firmen wie Stadler Rail oder die Schuhfirma On. Gabriel ist für das Marketing verantwortlich und hat angesichts des Wachstums der jungen Firma in Nachbarländern wie Österreich und Deutschland alle Hände voll zu tun.

Mit dem neu entwickelten System von Yokoy müssen die Mitarbeitenden ihre Spesen nicht mehr mühsam einzeln abtippen, sondern die Abrechnungen lediglich abfotografieren. Der Computer liest dann mithilfe künstlicher Intelligenz unzählige Datenpunkte aus einem Kassenbon oder einer Restaurantquittung und trägt automatisch ein, wo, wann, von wem und in welcher Höhe die Ausgaben anfielen.

Die Vorgesetzten müssen nicht mehr sämtliche Abrechnungen kontrollieren, sondern werden vom System auf verdächtige Rechnungen hingewiesen, die sie unter die Lupe nehmen sollten.

Bei den Investoren – darunter die Schweizer Börse SIX und Swisscom – kommt das neue Unternehmen gut an. Yokoy konnte in einer ersten Finanzierungsrunde 1,7 Millionen Franken einsammeln. Eine weitere ist geplant.

 

Wenig Gründerinnen in Tech-Start-ups

Gabriels Herz schlägt aber nicht nur für ihre Firma, sie will auch anderen jungen Frauen helfen, als Gründerinnen in der Techbranche Fuss zu fassen – etwa durch ihr Engagement in der Organisation We Shape Tech, die sich für mehr Diversität in der Tech- und Innovationsbranche einsetzt. Diese wird weiterhin von Männern dominiert. Nach Angaben der Schweizer Female Founders Initiative liegt der Anteil der Gründerinnen in wissenschafts- und techbasierten Start-ups erst bei 10 Prozent. Quer über alle Branchen hinweg sind immerhin 20 Prozent der Gründungsmitglieder von Start-ups Frauen.

 

Müller-Möhl und Thoma als Vorbilder

Ein wichtiger Wendepunkt kam mit der Bachelorarbeit, die Gabriel über weibliche CEO mit Kind geschrieben hat. Dabei habe sie unter anderen Carolina Müller-Möhl als Inhaberin eines erfolgreichen Family-Office und Verwaltungsrätin sowie BKW-Chefin Suzanne Thoma interviewt. «Ich habe gesehen, dass diese Frauen selber eine Familie haben und eine krasse Karriere gemacht haben. Allein der Punkt, dass ich mich wiedererkannt habe und gesehen habe, dass das eine Option für mich sein könnte – das kann dir kein Mann geben», erzählt Gabriel.

Durch die Erfahrung hat Gabriel erkannt, wie wichtig weibliche Vorbilder für den Karriereweg von Frauen sind. «Seeing is believing. Wenn man immer nur Krankenschwestern sieht als Frau, dann kommt es einem nicht in den Sinn, dass man auch Ärztin werden kann. Nicht jede muss Ärztin werden, nicht jede muss Chefin werden. Aber zumindest muss man wissen, was möglich ist», sagt Gabriel.

In ihrem eigenen Unternehmen setzt Gabriel auf Diversität – nicht nur zwischen Mann und Frau, sondern auch, was Herkunft, Ausbildung und Alter betrifft. Der Frauenanteil bei Yokoy liegt bei 33 Prozent. Gabriel sagt dazu: «Für ein Fintech ist das viel – aber Luft nach oben gibt es immer.»

Der Artikel im Tagesanzeiger

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