Magersucht ist eine schwerwiegende Krankheit, die leider immer noch bagatellisiert wird

Fokus

WATSON – Gabriella Milos leitet seit 2006 das Zentrum für Essstörungen am Unispital Zürich.

Sie sagt, Magersucht werde noch immer zu wenig erforscht, weil sich die wenigsten Ärztinnen und Ärzte mit dieser hochkomplexen Krankheit beschäftigen wollen.

Frau Milos, Sie helfen schwer kranken Patientinnen und Patienten, gegen die Magersucht zu kämpfen. Wie schwierig ist Ihr Job?
Gabriella Milos: Es ist eine Herausforderung. Meine Patientinnen, es sind übrigens zu einem grossen Teil Frauen, haben verlernt zu essen.

 

Als Aussenstehende ist das schwierig zu verstehen. Es ist ja nicht so, dass ihr Körper nicht mehr funktioniert.
Genau da liegt das Problem. Laien, aber auch Personen aus der medizinischen Welt, verstehen nicht, wo die Hürden der Patientinnen liegen. Es heisst oft: «Die Frauen müssten ja nur essen!»

 

Lassen Sie mich raten: Es wäre schön, wäre es so einfach.
Es ist sehr schwierig, dieses Verhalten des Nicht-Essens rückgängig zu machen. Körper und Hirn machen nicht mehr mit. Man kann diese Krankheit nicht einfach so wegwischen. Es gibt Patientinnen, die sterben daran. Magersucht ist die psychiatrische Krankheit mit der höchsten Mortalität.

 

Nimmt man Patientinnen mit Magersucht zu wenig ernst?
Anorexia Nervosa, wie es in der Fachsprache heisst, ist eine schwerwiegende Krankheit, die schwierig zu verstehen ist und leider immer noch bagatellisiert wird. Zudem wissen wir viel zu wenig darüber. Ich denke, viele Ärztinnen und Ärzte sehen die Magersucht als eine rein psychische Krankheit. Eine genetische Studie von 2019 hat aber zum ersten Mal gezeigt, dass es sich bei Magersucht um eine metabolisch-psychische Erkrankung handelt.

 

Metabolisch: Das heisst, dass nicht nur das Hirn, sondern auch der Körper einen daran hindert, wieder essen zu können?
Lassen Sie mich es so erklären: Metabolisch bedeutet, dass der Stoffwechsel bei Menschen mit dieser Erkrankung Auffälligkeiten zeigt. Unsere evolutionäre Entwicklung spielt dabei eine wichtige Rolle. Die Menschheit überlebte immer wieder grosse Hungerperioden. Diese Überlebensstrategie ist ein Relikt aus früheren Zeiten und in unserem Körper gespeichert. Sobald wir merken, hoppla, da kommt weniger Nahrung rein, wechselt unser Körper in den «Survival Mode». Das passiert auch bei unseren Patientinnen, nur dass sie es ohne Hilfe nicht mehr aus diesem Überlebensmodus rausschaffen.

 

Könnte das auch ein Grund sein, warum viele an Magersucht erkrankte Personen trotz ihres geringen Körpergewichts noch immer sehr aktiv sind?
Ja. Während Hungerzeiten musste die Menschheit über längere Zeit mit wenig Nahrung auskommen. Dabei stellte man sich aber nicht in eine Ecke und hoffte zu überleben. Man blieb in Bewegung, suchte nach Nahrung und hielt sich warm, weil die Körpertemperatur durch das fehlende Essen sinkt. Ähnliche Mechanismen beobachten wir auch bei vielen Patientinnen und Patienten mit Magersucht. Stellen Sie sich vor, wir haben immer wieder schwer untergewichtige Menschen, die immer noch Sport machen und sich sehr viel bewegen. Das ist auch für uns eindrücklich zu sehen, wie lange sie noch weiter «funktionieren». Aber irgendwann geht es einfach nicht mehr und die Situation kann schnell kippen und lebensbedrohlich werden.

 

Gut auszusehen, schlank und sportlich zu sein ist in unserer Gesellschaft enorm wichtig. Aber wo hört das «gesund essen» auf und wo fängt die Magersucht an?
Der Grossteil aller Menschen hat sich wahrscheinlich schon einmal vorgenommen, gesünder zu leben oder weniger zu essen. Unsere Gesellschaft ist sehr auf das Essen fokussiert. Eine ungute Entwicklung, wie ich finde. Auch bei unseren Patientinnen beginnt es häufig mit einer Diät. Man treibt Sport, will ein paar Kilos loswerden. Viele schaffen das auch problemlos. Andere verlieren immer mehr Gewicht und rutschen in die Magersucht. Plötzlich dreht sich dann alles nur noch ums Essen und Kalorienzählen.

 

Ich stelle es mir schwierig vor, den kritischen Punkt rechtzeitig zu erkennen. Sie sagen es, die Ernährung ist in unserer Gesellschaft omnipräsent. Sind die Übergänge zwischen einem normalen Essverhalten und dem «zu viel ans Essen denken» nicht fliessend?
Die Grenzen zwischen dünn oder schlank und untergewichtig sind tatsächlich fliessend. Vielen Patientinnen ist anfangs gar nicht klar, dass sie sich in einem schwer unterernährten Zustand befinden. Sie sind sich nicht bewusst, dass sie sehr ungesund leben. Aber Untergewicht ist ungesund, wie Fieber, es muss weg. Beim Untergewicht schaltet der Körper in den Sparmodus. Die Knochen werden brüchiger, das Herz schlägt langsamer und der gesamte Stoffwechsel passt sich an diese Situation an. Bei Frauen fällt die Periode aus.

 

Dagegen hilft also nur mehr Gewicht.
Richtig. Das Körpergewicht muss in einer gesunden Spannbreite sein. Und mit Gewicht sind nicht nur Muskeln, sondern allen voran auch ein gesunder Fettanteil gemeint.

 

Moment. Fett ist gesund?
Fett ist ein wichtiger Bestandteil von unserem Körper.

 

Sie müssen Ihren Patientinnen also irgendwie beibringen, dass sie nicht nur Muskeln, sondern auch Fett aufbauen müssen, um wieder gesund zu werden?
Diese Erkenntnis fällt vielen schwer zu verstehen. Ein Körper ganz ohne Fett ist ungesund. Die Fettzellen sind hormonell aktiv und produzieren Leptin. Dieses Hormon ist bei der Regulierung des Energiehaushalts beteiligt und trägt dazu bei, dass sich die Hormonausschüttung im Körper wieder normalisiert. Das sehen wir beispielsweise ganz deutlich bei Frauen: Untergewicht führt dazu, dass die Periode ausfällt. Sobald Patientinnen wieder zunehmen und einen gewissen Fettanteil im Körper erreichen, kommt die Mens zurück. Das hängt vom Fett ab, nicht von den Muskeln.

 

Aber Fett ist wahnsinnig verpönt.
Tatsächlich wird sinnvollerweise im Kampf gegen Übergewicht viel getan. Denn auch eine ungesunde Kondition hat viele negative Gesundheitsfolgen. Aber dass es auch ins andere Extreme kippen kann, davor wird kaum gewarnt. Untergewicht wird nicht thematisiert.

 

Warum sind es vor allem junge Frauen, die an Magersucht erkranken?
Das weiss man nicht. Ich vermute, dass Hunger- und Sättigungsgefühle mit dem weiblichen Hormonhaushalt eng zusammenhängen. Dass viele Frauen kurz vor ihren Tagen mehr Hunger haben, könnte ein Hinweis dafür sein. Das zeigt, dass die Sexualhormone einen Einfluss auf unser Essverhalten haben. Der Hormonhaushalt von Frauen ist viel komplexer als bei Männern. Ich gehe davon aus, dass er auch störungsanfälliger ist und leichter aus der Bahn gebracht werden kann.

 

Das heisst, das ganze System ist fragiler und wenn man plötzlich weniger isst, gerät es ausser Kontrolle?
Das ist eine Theorie.

 

Wieso weiss man das nicht mit Sicherheit?
Magersucht ist noch zu wenig erforscht. In den über 20 Jahren, in denen ich nun in diesem Bereich tätig bin, ist noch nicht viel passiert. In den letzten Jahren scheinen sich Forschende aber vermehrt mit dieser Thematik auseinanderzusetzen.

 

Das heisst, auch die Therapiemöglichkeiten sind begrenzt?
Für Schwerkranke reicht eine ambulante Behandlung meisten nicht aus. Störungsspezifische stationäre Therapien sind noch wenig verbreitet. Man muss sich vorstellen, in der Regel beginnt die Krankheit in der Jugend: Es gibt 25-Jährige, die schon zehn Jahre oder länger krank sind und mehrmals hospitalisiert waren. Bei Menschen, die es nicht schaffen, das Untergewicht zu besiegen droht eine Invalidisierung.

 

Die Therapien sind begrenzt und es fehlt an Wissen. Woran liegt das? Der Bedarf wäre ja da. Gemäss dem Bundesamt für Gesundheit erkranken 3,5 Prozent der Schweizer Wohnbevölkerung einmal im Leben an einer Essstörung.
Ärztinnen und Psychologen behandeln Magersucht oft ungern. Viele empfinden die Krankheit als absurd, zu komplex und riskant, weil nicht nur auf psychischer, sondern auch auf körperlicher Ebene sehr viel passiert. Es fehlt an spezifischen Ausbildungen und Expertise. Deshalb versucht unser Zentrum für Essstörungen derzeit gemeinsam mit der Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie der Schweizerischen Gesellschaft für Essstörungen ein Weiterbildungsangebot auf die Beine zu stellen, das auf Essstörungen ausgerichtet ist.

 

Sie sind eine der Expertinnen auf dem Gebiet. Erklären Sie uns, was im Kopf ihrer Patientinnen anders ist als bei gesunden Menschen.
Die Gedanken kreisen nur noch ums Essen. Kalorien werden berechnet, man überlegt sich, ob man das und das noch essen darf oder ob man dafür zuerst Sport machen muss. Kontrolle spielt dabei eine grosse Rolle. Das Belohnungssystem funktioniert genau umgekehrt: Magersüchtige belohnen sich, in dem sie auf das Essen verzichten. Ein Beispiel: Wir hatten eine Patientin, der es zwar besser ging, die aber bei der Arbeit ihren Zvieri auf der Toilette ass. Sie dachte, wenn andere sie essen sehen, werde sie für einen Fresssack gehalten. Oder sie treffen jemanden und diese Person sagt: «Oh, du siehst aber gut aus!» Die Patientin übersetzt das dann aber und hört nur: «Oh, du hast zugenommen, du bist dick.» Das ist die Denkweise vieler Patientinnen. Wenn man das nicht kennt, kann man es sich kaum vorstellen.

 

Was raten Sie ganz konkret dem Umfeld einer Betroffenen, wie es am besten reagieren soll, falls sich ein krankhaftes Verhalten abzeichnet?
Am besten immer aus der Ich-Perspektive sprechen. Man könnte sagen: ‹Ich mache mir Sorgen, es wäre vielleicht gut, wenn du einmal eine Fachperson, eine Hausärztin oder eine Anlaufstelle für Essstörungen kontaktieren würdest.› Wichtig ist aber: Schauen Sie nicht weg. Auch wenn die Konfrontation unangenehm ist. Ansprechen ist immer besser als schweigen und wegschauen.

 

Der ganze Artikel auf WATSON von Helene Obrist

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