Kinderarbeit, Hass & Einsamkeit: Das Leben der Influencerin Leoobalys

Fokus

watson – Simone Meier

Der herausragende Dokumentarfilm «Girl Gang» begleitet eine typische Karriere von heute.

Leonie treibt Leute in die Abhängigkeit. Zum Beispiel ihre Eltern. Oder Melanie. Die ist ein fanatisches Fangirl von Leonie. Melanie besitzt vier Handys, damit sie zwölf Stunden täglich ohne Akkuprobleme online sein kann, früher waren es siebzehn Stunden.

In diesen zwölf Stunden stalkt sie Leonie oder Leo oder Leoobalys, wie sie als Influencerin heisst – der Name wurde von einem Zufallsgenerator entwickelt und ist eine Kreuzung aus Leonie, ihrem Lieblingshobby Fussball und ein paar anderen Ingredienzien.

Über Melanies Bett hängt Christus am Kreuz, sie lebt auf dem Land, Leo in Berlin. Melanies Mutter ist alleinerziehend, Leo ist auf ihren Kanälen ständig mit ihren Eltern zu sehen. Wenn Melanie etwas Geld hat, kauft sie sich eins von den Produkten, die Leo bewirbt, zum Beispiel aufklebbare Fingernägel. Melanie sagt: «Leos Leben ist einfach perfekt.» Leo, die Prinzessin, die zu allem Zugang hat: Mode, Kosmetik, Glück. Leo ist 14 Jahre alt und hat eine halbe Million Follower auf Instagram.

Der Traumberuf schlechthin

Das war vor ein paar Jahren und vor der Pandemie und die deutsch-schweizerische Regisseurin Susanne Regina Meures entschied sich, die Leben von Leo und Melanie zu dokumentieren. Drei Jahre lang begleitete sie die Mädchen, vor allem Leo, und wurde Zeugin ihres Aufstiegs, der ebenso märchenhaft wie ernüchternd ist.

Heute ist Leo 18, hat 1,6 Millionen Follower auf Instagram und 1,4 Millionen auf TikTok. Das ist für den deutschsprachigen Raum enorm viel. Die omnipräsente Cathy Hummels etwa hat auf Instagram nicht einmal 700’000 Follower. Pro Beitrag verdienen Leo und ihre Eltern durchschnittlich 15’000 Euro. 86 Prozent der Teenager möchten heute gerne Influencer werden, lernen wir aus im Film gezeigten Statistiken. 48 Prozent sind sich sicher, dass ihr Social-Media-Idol sie besser versteht als ihre Freunde.

Freiheit vs. Reichtum

Leos Weg in den Olymp junger Bedeutungsmacherinnen ist ein sehr deutscher Weg, der in der DDR beginnt. «Wie anders alles war, als ich jung war, im Osten, an der Mauer», sagt ihr Vater und es klingt etwas auswendig gelernt, was es sicher auch ist, «wir träumten vom Westen, das war was Grosses, Glitzriges, unerreichbar weit weg. Wir haben alle davon geträumt, reich zu werden. Nein, wir wollten frei sein.»

Manchmal erschlägt einer der beiden Träume den anderen und in den seltensten Fällen gewinnt der Traum vom Freisein. Zu Beginn von Leos Karriere mag noch der Drang gestanden haben, sich unabhängig zu machen von gängigen Arbeits- und Abhängigkeitsstrukturen, doch die neuen, die geschaffen wurden, wirken nicht wirklich vertrauenswürdiger. Aber natürlich viel, viel aufregender.

Die Marke muss glitzern

Nachdem die Eltern nämlich vergeblich versucht haben, den Social-Media-Manager ihrer 14-jährigen Tochter zu coachen, weil er zu viel kritisiert, übernehmen sie das Management selbst. Vermarkten und verkaufen ihr Kind, treiben es an, verhandeln mit Brands, begleiten es zu Fan-Events, drehen vom Aufstehen bis zum Schlafengehen lustige Videos. Leos Nachtruhe dauert sechs Stunden, schliesslich muss sie zwischen den Shoots auch noch zur Schule gehen.

Im Lauf von «Girl Gang» wird aus einem übereifrigen Mädchen ein renitenter, grantiger Teenager, der seine Eltern andauernd zusammenscheisst. Eine fast schon beruhigende Entwicklung. Denn gegen aussen ist Leo eine ganz andere. Die Marke Leoobalys eben.

Und Leoobalys muss mit (aufwendig inszenierter) Natürlichkeit und möglichst quirliger Lebensfreude punkten. Denn Leoobalys ist sowas wie ein rothaariges Aufziehwunder, das vor der Kamera tanzt, lustige Dinge und Grimassen und Lip-Sync macht. Leoobalys ist das purstmögliche Gegenteil von Melanie. Dazu gross, glitzrig und unerreichbar weit weg, auch wenn die Spiegelwelt des Handys Nähe behauptet.

Masse und Hass

Melanie bricht dauernd zusammen. Weil Leoobalys ihre Messages nicht beantwortet. Weil Melanies Fan-Account für Leoobalys kurzzeitig von Instagram verschwindet. Immer gibt es einen Grund, todunglücklich zu sein. Freundinnen und Freunde haben beide Mädchen so gut wie keine. Leos Vater findet, die Einsamkeit sei wohl der einzige kleine Nachteil, sonst wüsste er nicht, woran es seiner Tochter fehlen könnte: «Wenn sie einen Ausgleich bräuchte, wäre sie im falschen Leben.»

Und natürlich ersetzen die Fans einiges. Die Masse kreischender Mädchen, die Leo in einem Wiener Einkaufszentrum entgegenschlägt wie eine hysterische Wand. Mädchen wie Melanie. Es sei ganz klar eine Sucht, sagt sie, «ein krasser Antrieb, jetzt pushe ich mich noch mehr».

«Girl Gang» zoomt schmerzhaft auf die Risse, die im ganzen Glam-Gehüpfe nur dann zu sehen sind, wenn die Polizei den Wiener Fan-Event wegen mangelnder Sicherheitsvorkehrungen abbricht. Leos harte Arbeit und ihre Erschöpfung sieht von aussen niemand, und den massiven Hass, der sich in Messages wie «Du bist so Scheisse, stirb doch, ich werde dich finden, ich werde dich töten» erbricht, muss niemand aushalten ausser ihr.

Die Mutter sieht sich als Gefangene

Auch die Angst der Mutter, dass sich der ganze Geldsegen über Nacht wieder in Luft auflösen könnte, wurde erst durch die behutsame Vertrauensarbeit mit der Regisseurin sichtbar. «Ich bin in Leos Welt gefangen», sagt die Mutter, «manchmal hab ich das Gefühl, ich muss hier raus. Ich habe Angst vor der Zukunft, ich habe Angst vor allem, auch politisch.»

Ein anderes Mal sagt sie: «Meine Träume drehen sich immer nur um Leo, ich selber habe gar keine Träume.» Wie Melanie. Nur ganz anders. Abhängig von Leo sind beide. Und Leo von ihnen. Es ist eine höllische Symbiose, der wir da zuschauen, eine Welt, die im Fall von Leoobalys mit Kinderarbeit beginnt und jahrelang Narzissmus zur einzigen Geschäftsidee erhebt.

Wo sie einmal enden könnte, ist noch nicht bekannt. Leos Eltern sind inzwischen zur Sicherheit auch Influencer geworden. Schliesslich muss man vorsorgen. Und seine eigenen Träume leben.

«Girl Gang» läuft ab dem 27. Oktober im Kino.

Der Artikel von Simone Meier

Bild watson.ch

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