Kernfusion: So funktioniert die zukunftsträchtige Technologie für saubere Energie

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Aargauer Zeitung – Diese Woche haben US-Forschende einen Durchbruch bei der Kernfusion vermeldet. Die Technologie könnte in Zukunft eine nahezu unerschöpfliche und saubere Energiequelle bieten. Wir erklären, was dahintersteckt – und ob die Hoffnungen berechtigt sind.

In einem Fusionsreaktor verschmelzen kleinere Atomkerne zu grösseren, wodurch Energie frei wird.

1. Wie gewinnt man Energie aus einer Kernfusion?

Genutzt wird das Prinzip der Sonne. Unsere Sonne ist ein gigantischer Fusionsreaktor, der seit fünf Milliarden Jahren in Betrieb ist. In ihrem Kern, wo die Temperatur bei etwa 15 Millionen Grad Celsius liegt, laufen Verschmelzungsprozesse der Atome von Wasserstoff ab. Diese Atome werden in eine Million Grad heisses Plasma verwandelt. Dabei werden bei der Kernfusion kleine Atomkerne zu grösseren verschmolzen. Die Energie kommt aus den Bindungskräften der Atome, die bei der Fusion entstehen. Im Kern der Sonne werden in jeder Sekunde über 500 Millionen Tonnen Wasserstoff in Helium umgewandelt. Das macht man in kleinerem Stil in einem Fusionsreaktor.

2. Welche Rohstoffe werden für die Kernfusion gebraucht und gibt es genügend davon?

Um eine künstliche Sonne in irdische Kraftwerke zu holen, nutzt man für die Fusion die beiden schweren und überschweren Wasserstoffisotope Deuterium und Tritium. Das Deuterium ist in nahezu unerschöpflichen Mengen im Meerwasser zu finden – und ist entsprechend billig. Tritium ist die einzige radioaktive Variante des Wasserstoffs und besitzt eine Halbwertszeit von 12,3 Jahren. In der Natur sind von dem Isotop deshalb nur in winzigsten Mengen vorhanden. Man muss es deshalb künstlich herstellen. Das wird heute schon gemacht, etwa für Leuchtröhren. Für die Kernfusion würde Tritium aus dem Leichtmetall Lithium gebildet, dessen Vorräte begrenzt sind.

3. Was ist der Unterschied zwischen Kernfusion und Kernspaltung?

Sowohl die Kernspaltung als auch die Kernfusion verwandeln Atome, um Energie zu gewinnen. Während bei der Kernfusion zwei leichte Kerne miteinander verschmelzen, zerfällt bei der Kernspaltung ein schwerer, instabiler Kern in zwei leichtere Kerne. Beides setzt enorme Energien frei. Ein wichtiger Unterschied: Die instabilen, radioaktiven Atomkerne zerfallen ganz von alleine. Für die Fusion hingegen braucht es enorm hohe Temperaturen und Druck. Die Mühe lohnt sich aber. Denn ein Gramm des Wasserstoffgemischs könnte in einem Kraftwerk prinzipiell dieselbe Energiemenge erzeugen wie elf Tonnen Kohle, ohne klimaschädliche Emissionen.

4. Am staatlichen Lawrence Livermore National Laboratory in Kalifornien wurde die Methode der Laserfusion verwendet. Wie funktioniert sie?

Bei der im US-Labor verwendeten Technologie der Kernfusion richtet sich das weltweit stärkste Lasersystem mit seinen 192 Laserstrahlen von allen Seiten auf ein winziges, mit schwerem Wasserstoff gefülltes Pellet. Dadurch heizt sich das Kapselmaterial innerhalb von Milliardstel Sekunden auf und zieht ihr Inneres schlagartigen stark zusammen. So erreicht das Plasma aus Wasserstoffkernen so hohe Temperaturen, dass sie zu schweren Heliumkernen verschmelzen. Erstmals gelang es den Forschenden nun, mit diesem Prozess mehr Fusionsenergie zu erzeugen als zum Aufheizen des Brennstoffs nötig war.

5. Kann man dabei von einem historischen Durchbruch sprechen?

Tatsächlich ist es das erste Mal, dass bei der Kernfusion ein Netto-Energiegewinn erzielt werden konnte – wahrlich ein Meilenstein, auf den Forschende seit Jahrzehnten hingearbeitet haben. Die US-Energieministerin Jennifer Granholm sprach bei der Verkündung der neuen Ergebnisse «von einer der beeindruckendsten wissenschaftlichen Leistungen des 21. Jahrhunderts». Auch andere Wissenschaftler sprachen von einem bedeutenden Schritt für die Fusionsforschung. Dennoch bleiben bis zur kommerziellen Nutzung der Technologie noch viele Hürden zu überwinden.

6. Wann würde sich ein Fusionskraftwerk lohnen?

Beim Versuch im Forschungslabor in Kalifornien wurden 1,8 Megajoule Energie aufgewendet, um 2,5 Megajoule zu gewinnen. Allerdings musste zuvor ein Vielfaches an Energie in das dafür verwendete Lasersystem gesteckt werden. Konkret brauchten die Laser satte 300 Megajoule Energie zur Zündung des Fusionsprozesses. Das zeigt: So lohnt sich die Kernfusion nicht. Damit sich ein Fusionsreaktor irgendwann zur Stromgewinnung eignet, müsste die doppelte Menge der investierten Energie herauskommen. Doppelt so viel, weil die im Fusionsreaktor gewonnene Wärme noch in Strom umgewandelt werden muss. Dabei geht ein Teil der Energie verloren. Ein weiterer Haken im Experiment der US-Forscherinnen und Forschern: Es gelang ihnen, die Fusionsreaktion lediglich einmal pro Tag zu zünden. Ein kommerzielles Kraftwerk müsste dies jedoch 10- bis 20-mal pro Sekunde tun. Ob das technisch machbar ist, muss sich erst noch weisen.

7. Ist die Technologie sauber und sicher?

Ja, die Energiequelle wird als klimaneutral und sicher betrachtet. Zwar erzeugt auch ein Fusionskraftwerk radioaktiven Abfall mit den im Prozess entstehenden Neutronen. Allerdings entsteht viel weniger Abfall als bei Kernkraftwerken. Gemäss dem Paul-Scherrer-Institut (PSI) werden während einer 30-jährigen Lebenszeit je nach Bauart des Reaktors etwa 60’000 bis 160’000 Tonnen radioaktives Material erzeugt. Allerdings schwach radioaktiv und mit viel kürzerer Halbwertszeit als Abfälle aus der Kernkraft. Ab 100 Jahren ist der Abfall so radioaktiv wie Kohleasche aus einem Kohlekraftwerk. Bei sorgfältiger Materialauswahl ist gemäss dem PSI eine Endlagerung nicht nötig. Nach 50 Jahren können von der Gesamtmasse des Fusionsabfalls 30 bis 40 Prozent unbeschränkt freigegeben werden. Der übrige Abfall kann nach weiteren 50 Jahren rezykliert und in neuen Kraftwerken wieder verwendet werden.

8. Gibt es in Europa auch Versuche mit Fusionsreaktoren, mit Schweizer Beteiligung?

Ja. In Südfrankreich wird der Versuchs-Fusionsreaktor Iter gebaut. Schweizer Forscherinnen und Forscher haben eigentlich eine Vorreiterrolle auf dem Gebiet der Kernfusionsenergie und sind an wichtigen Durchbrüchen in Europa beteiligt, insbesondere das Swiss Plasma Center an der ETH Lausanne (EPFL). Allerdings ist die Beteiligung wegen der derzeitigen politischen Blockaden zwischen der Schweiz und der EU stark beeinträchtigt. Offiziell ist der Start von Iter für das Jahr 2025 geplant. Aufgrund der Covid-Pandemie ist jedoch mit weiteren Verzögerungen zu rechnen.

9. Wie funktioniert Iter in Südfrankreich?

Es handelt sich um eine andere Methode als in den USA. Bei Iter wird nicht mit Laserstrahlen gearbeitet, sondern mit Magnetfeldern. Im Fusionsreaktor wird Plasma aus Wasserstoffisotopen von tonnenschweren Magneten eingeschlossen. Das Plasma wird auf ultraheisse Temperaturen erhitzt, die Atome flitzen in der Brühe umher, schlagen zusammen und fusionieren. Die so erzeugte Wärmeenergie soll genutzt werden, um Dampf zu erzeugen, der Turbinen zur Stromproduktion antreibt. Iter ist allerdings erst ein experimenteller Reaktor. Er muss lediglich beweisen, dass das Prinzip der Energiegewinnung mit der künstlichen Sonne möglich ist.

10. Kommt die Kernfusion nicht zu spät?

Mit den Experimenten im US-Forschungslabor hat die Welt zum ersten Mal den Beweis erhalten, dass der Traum der Kernfusion prinzipiell realisierbar ist. Dennoch ist es unwahrscheinlich, dass es in naher Zukunft genügend kommerzielle Fusionskraftwerke geben wird, um die Klimaziele von Paris zu erreichen, also die Erderwärmung bis Mitte des Jahrhunderts auf 2 Grad, besser 1,5 Grad zu beschränken. Europa beispielsweise hat eine Roadmap erarbeitet, wonach der erste Fusionsreaktor im Jahr 2050 Energie liefern soll. Trotzdem ist es sinnvoll, die Technologie weiter zu erforschen, denn in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts könnte sie durchaus eine wichtige Rolle spielen, vor allem für den Grundlastbetrieb der Stromversorgung, ähnlich wie die heutigen AKWs. Bis dahin sollten wir uns aber auf die Technologien verlassen, die nachweislich funktionieren: Sonne- und Windenergie sowie Wasserkraft.

Der Artikel von Stephanie Schnydrig und Bruno Knellwolf

Bild: AZ Science Photo Library RF

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