Kann man doch in die Vergangenheit fliegen? Eine ETH-Physikerin erforscht Zeitreisen

Fokus

Aargauer Zeitung – Stephanie Schnydrig

Zeitreisen sind möglich, wie die Physik zumindest in der Theorie nahelegt. Vilasini Venkatesh ergründet, ob auch in unserem Universum Reisen in die Vergangenheit erlaubt sind.

Wenn Physikerinnen und Physiker über Zeitreisen sprechen, beginnen sie immer bei der Party, die der weltberühmte Physiker Stephen Hawking am 28. Juni 2009 veranstaltet hat – zu der aber niemand ausser ihm erschien. Die Geschichte erzählt nun auch Vilasini Venkatesh, und sie geht folgendermassen: Um die Idee des Zeitreisens experimentell zu testen, organisierte Hawking eine Feier, stellte eisgekühlten Champagner und ein üppiges Buffet bereit. Die Einladungen verschickte er allerdings erst nach dem Festakt, um sicherzustellen, dass nur diejenigen erscheinen würden, die in der Zeit zurückreisen können.

Da jedoch niemand auftauchte, schlussfolgerte der Ausnahmephysiker, dass die misslungene Party ein Beweis dafür ist, dass Zeitreisen in die Vergangenheit unmöglich sind.

Die Physikerin Vilasini jedoch, sie ist nicht überzeugt, dass Zeitreisen damit vom Tisch sind: «Vielleicht war einfach kein Zeitreisender scharf auf eisgekühlten Champagner», sagt sie, die an der ETH Zürich Zeitreisen erforscht, und lacht.

Sich mit Zeitreisen auseinanderzusetzen, klingt nach einem Hobby von Science-Fiction-Fans. Tatsächlich interessieren sich aber auch namhafte Wissenschafterinnen und Wissenschafter seit geraumer Zeit für das Thema. Genauer gesagt, seit der Logiker Kurt Gödel eine verblüffende Lösung der Gleichungen von Albert Einsteins Relativitätstheorie gefunden hatte: Zeitreisen in die Vergangenheit seien demnach zumindest theoretisch möglich.

Zeitreisen mögen sich zunächst nach abstrakten Gedankenspielen anhören, wie Vilasini einräumt. Aber: «Wenn wir die Bedingungen verstehen, die Zeitreisen erlauben oder verbieten, dann werden wir unserem Universum viele seiner tiefsten Geheimnisse entlocken können.»

Theoretisch sind Zeitreisen doch möglich

Die 28-jährige Vilasini Venkatesh, aufgewachsen in Neu-Delhi, beschäftigt sich mit Dingen, die für unsere Ohren kryptisch klingen: «Relativistische Quantenkryptografie» zum Beispiel, mit der sie sich in der Gruppe des ETH-Quanteninformationswissenschafters Renato Renner befasst. Schon als 12-jähriges Mädchen habe ihr ihre Tante, eine Mathematikprofessorin, am Küchentisch abstrakte mathematische Konzepte wie unendliche Folgen oder Vektorräume «auf interessante und verständliche Weise nähergebracht», erzählt Vilasini.

Bei ihr entdeckte sie auch die Biografie und die Vorlesungsaufzeichnungen des Physik-Nobelpreisträgers Richard Feynman. «In seinen Büchern hat mich vor allem die Verrücktheit und gleichzeitig die Schönheit der Quantenphysik angezogen – eine Faszination, die mich noch heute in meiner Forschung antreibt.»

Die Forscherin belässt es aber nicht bei der Physik und mathematischen Gleichungen. In der Kunst erweckt sie ihre Erkenntnisse zum Leben. So gehören zu ihren Leidenschaften auch die Musik, Poesie und das Zeichnen. Ihre selbst komponierten Lieder und Gedichte sind inspiriert von Konzepten der Quantenphysik. Jedes Kapitel ihrer Doktorarbeit enthält ein Gedicht, das die Forschungsergebnisse lyrisch zusammenfasst.

Die Instrumentalstücke auf ihrem ersten, vor zwei Jahren erschienenem Kurzalbum «Reflections» sind inspiriert von der Physik des Wassers und des Lichts. «Musik und Mathematik sind eng miteinander verbunden», sagt Vilasini, eine Verbindung, die von indischen Musikern und Mathematikern seit der Antike erforscht werde.

«Vilasini hat eindeutig viele Talente», sagt Roger Colbeck, ihr Doktorvater, der an der britischen Universität von York forscht. Was sie auszeichne, sei ihre ausgeprägte Leidenschaft für die Forschung, ihre Kreativität und ihr Optimismus. Letzterer ermögliche es ihr, «bei schwierigen Problemen durchzuhalten, wo andere vielleicht aufgeben».

Leben wir in einem Multiversum?

In ihrer Doktorarbeit setzte sich Vilasini mit Ursache-Wirkung-Phänomenen und logischen Paradoxien auseinander – den zwei Knackpunkten für Zeitreisen. Denn als schlagendes Argument gegen Zeitreisen werden oft die unweigerlich entstehenden paradoxen Szenarien ins Feld geführt. Vilasini illustriert das anhand des berühmten Grossvaterparadoxons: «Stellen Sie sich vor, Sie reisen in die Vergangenheit, in die Zeit, als Ihr Grossvater noch ein kleiner Junge war. Dann töten Sie ihn aus irgendeinem seltsamen Grund. Das bedeutet, dass Sie eigentlich gar nicht existieren sollten.»

Aber solche Widersprüche, sagt Vilasini, seien mitnichten ein Grund, um Zeitreisen auszuschliessen: «Ein genauerer Blick auf die Gesetze der Quantenphysik zeigt, dass es theoretische Modelle für Zeitreisen gibt, die solche Paradoxien auflösen.» Die Physikerin strahlt und redet sich in Fahrt.

Demnach gibt es die Viel-Welt-Theorie, deren vehementer Vertreter der Quanteninformationstheoretiker David Deutsch ist. «Gehen wir zurück zum Grossvaterparadoxon», sagt Vilasini, stets darauf bedacht, die hochkomplexe Materie verständlich zu vermitteln. «Nach der Viel-Welt-Theorie ist unser Universum nur eines von sehr, sehr vielen. Das heisst, der Mord an Ihrem Grossvater würde bedeuten, dass Sie zwar in diesem Universum nicht geboren werden, in einem anderen jedoch sehr wohl.»

Der grosse Denker David Deutsch ist überzeugt von dieser Theorie. In einem Interview mit dem «Spiegel» antwortete er auf die Frage, ob er denn wirklich an diese verrückte Idee glaube, einmal mit: «Absolut. Die Physik sagt es uns.»

Die Geschichte steht in den Sternen

Vilasini erklärt, dass die Viel-Welt-Theorie nicht die einzige Möglichkeit für widerspruchsfreie Zeitreisen ist. Es gebe noch eine andere, die von ihr bevorzugte Theorie. Entwickelt wurde sie vom US-Physiker Seth Lloyd und sie ähnelt dem Zeitreisemodell in «Harry Potter und der Gefangene von Askaban». Die Idee dahinter ist, dass man zwar in der Zeit zurückreisen kann, aber uns das Universum Grenzen in der Handlungsfreiheit setzt. «Beim Grossvaterparadoxon könnte man sich zum Beispiel vorstellen, dass jedes Mal, wenn man den Abzug betätigt, die Patronenkugel in der Waffe fehlt und der Mord deshalb nie geschehen kann.» Die Geschichte steht sozusagen schon in den Sternen geschrieben. Und dann, so Vilasini, ergäben sich philosophische Fragen, nämlich ob diese Theorie den freien Willen gefährde.

 

Vor kurzem haben sie und Roger Colbeck allerdings mathematisch aufgezeigt, dass es offenbar Universen gibt, in denen keine Paradoxien entstehen müssen, auch wenn der freie Wille gewährleistet ist. Demnach kann die Zukunft die Vergangenheit beeinflussen, sodass unter gewissen Bedingungen keine Widersprüche entstehen. Solche sogenannten Kausalschleifen sind sogar in Universen möglich, die dem unseren ähneln, wie Vilasini und Colbeck herausgefunden haben. Allerdings gelang ihnen der Beweis bislang nur für Modelle mit einer Dimension. Ob Kausalschleifen und damit Zeitreisen auch in drei Raumdimensionen möglich sind, wie sie in unserem Universum vorkommen, untersucht Vilasini derzeit mit einem Masterstudenten.

Und wohin würde die Physikerin reisen, wenn sie es einst tatsächlich könnte? Wahrscheinlich nicht zur Party von Stephen Hawking, hält sie mit einem Augenzwinkern fest. Vielmehr möchte sie ihren Grossvater treffen. «Und anstatt ihn mit einer Waffe zu bedrohen, würde ich mich mit ihm bei einer Tasse Kaffee über das Leben zu seiner Zeit unterhalten.»

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