Kampagne gegen Femizid: «Banalisierende Sprache zu verwenden, ist gefährlich»

Fokus

annabelle – Vanja Kadic

Heute startet die internationale Kampagne «16 Tage gegen Gewalt an Frauen», die sich dieses Jahr dem Thema Femizid widmet. Schweizer Kampagnenleiterin Anna-Béatrice Schmaltz erklärt, welche Rolle Sprache im Diskurs über Femizide spielt und welche Lösungsansätze es im Kampf gegen geschlechtsspezifische Gewalt gibt.

annabelle: «Feminizid» heisst das Fokusthema der diesjährigen Kampagne, nicht «Femizid». Warum verwenden Sie für die Kampagne den ersten Begriff?
Anna-Béatrice Schmaltz: Beide Begriffe sind korrekt und bezeichnen den Mord an Frauen, weil sie Frauen sind oder als solche gelesen werden. Der Begriff «Feminizid» stammt aus Lateinamerika und wurde von Aktivist:innen rund um die «Ni una Menos»-Bewegung geprägt: Dieser zielt noch stärker auf den strukturellen Aspekt von Gewalt an Frauen und auf die Verantwortung des Staates, geschlechtsspezifische Gewalt zu verhindern und Betroffene zu schützen.

Wann wird eine Tötung als Femizid deklariert?
Wir haben uns an der Definition der World Health Organization orientiert: Wird eine Frau aufgrund ihres Geschlechts umgebracht, handelt es sich um einen Feminizid. Dabei spielen auch patriarchale Rollenbilder und Sexismus eine Rolle. Es ist dringend eine staatliche Definition nötig, um Feminizide zu erfassen. In der Schweiz gibt es keine strafrechtliche Definition, die Tat wird als Mord oder Totschlag verurteilt. Wichtig ist es auch, Hintergründe und Motive einer Tat festzuhalten. Bei häuslicher Gewalt ist es einfacher zu beurteilen, ob eine Tötung ein Feminizid ist.

Woran liegt das?
Der Feminizid wird im Kontext von häuslicher Gewalt nicht plötzlich verübt, sondern oftmals als Spitze von bereits vorangegangenem gewalttätigem Verhalten; meistens im Moment der Trennung. Es geht häufig um Kontrolle und Besitzansprüche an die Partnerin. Wird eine Frau ausserhalb dieses Kontexts getötet, müssten die Hintergründe bekannt sein, um definieren zu können, ob es sich um einen Feminizid handelt.

 

«Wenn wir einen Femizid als ‹Familientragödie› oder ‹Beziehungsdrama› bezeichnen, verharmlosen und banalisieren wir ihn damit»

 

Warum spielt es eine Rolle, welche Sprache wir verwenden, wenn wir von Femizid und geschlechtsspezifischer Gewalt sprechen?
Wenn wir einen Feminizid als «Familientragödie» oder «Beziehungsdrama» bezeichnen, verharmlosen und banalisieren wir ihn damit. Wird über einen Feminizid mit Schlagzeilen wie «Musste sie sterben, weil sie ihn verlassen wollte?» berichtet, so legt man den Fokus aufs Opfer und impliziert, dass sie eine Mitschuld an ihrem eigenen Tod trägt. Das nennt sich «Victim Blaming». Es ist gefährlich, banalisierende Sprache zu verwenden, wenn es um geschlechtsspezifische Gewalt geht.

Weshalb?
Es führt dazu, dass wir das Thema nicht ernst nehmen oder es normalisieren. Ausserdem vermittelt man damit den Irrglauben, dass man sich nur «richtig» verhalten müsse, um nicht zum Opfer zu werden. Wir müssen ausserdem aufhören, passiv über Gewalt zu sprechen, und stattdessen klar benennen, wer die Tatpersonen sind und was sie ausüben. Aber ich muss gleichzeitig sagen, dass ich in den Schweizer Medien heute eine grössere Sensibilisierung beim Thema Feminizid feststelle.

Sie sagen, dass inkorrekte Begriffe auch falsche Vorstellungen zementieren, die wir von geschlechtsspezifischer Gewalt haben. Welche Mythen zum Thema Femizid sind dringend zu widerlegen?
Ich habe vor allem den Eindruck, dass wir generell zu wenig über Feminizide sprechen. Der Schweizer Staat nutzt den Begriff nicht und es gibt auch keine offiziellen Statistiken. Statistiken zu Tötungen durch häusliche Gewalt werden zwar erfasst, aber Feminizide finden nicht nur im Rahmen häuslicher Gewalt statt. Uns fehlt in der Schweiz ein Diskurs darüber, was ein Feminizid eigentlich ist und wie er verübt wird, das ist schon mal ein grosses Problem. Ein weiteres Problem ist, dass Gewaltbetroffenen zu wenig geglaubt wird und es für sie noch immer sehr schwierig ist, sich Unterstützung zu holen. Beim Thema häusliche Gewalt ist der Diskurs schon weiter, aber auch da haben wir gewisse Vorstellungen von Tatpersonen und Opfern im Kopf.

Was sind das für Vorstellungen?
Wenn sich beispielsweise herausstellt, dass der freundliche Lehrer, der in der Freizeit nebenbei Fussball unterrichtet, Gewalt gegenüber seiner Partnerin ausübt, passt das nicht in unser Bild. Wir haben ganz spezifische Vorstellungen davon, wer Gewalt ausübt – und wer sie erlebt. Diese Bilder machen es übrigens auch für Männer, die Gewalt erleben, schwierig, sich Unterstützung zu holen. Diese Mythen darüber, wer von Gewalt betroffen ist und wer sie ausübt, erschweren Betroffenen vor Gericht und im sozialen Umfeld, dass ihnen geglaubt wird. Fakt ist: Feminizid ist die Spitze des Eisbergs von geschlechtsspezifischer Gewalt. Es ist selbstverständlich die massivste und auch die sichtbarste Gewalt. Vor einem Feminizid kommen aber noch viele andere Formen von Gewalt sowie auch Sexismus. Wir müssen uns also die Frage stellen, was Sexismus ist und wie wir ihn verhindern können.

Sie sprechen von Sexismus, der die Grundlage für Femizide bildet. Können Sie das erläutern?
Natürlich ist ein frauenverachtender Witz nicht gleich schlimm wie ein Feminizid. Aber schaut man sich die Gewaltpyramide an, ist ihr Nährboden genau das – Sexismus, patriarchale Geschlechterrollen, Besitzansprüche, das Absprechen von weiblicher Selbstbestimmung über den eigenen Körper. Dieser Nährboden macht es möglich, Frauen zu sexualisieren und zu objektifizieren, was schliesslich zu Gewalt übergehen kann. Diese Gewaltformen werden immer massiver und reichen schliesslich bis zum Feminizid. Geschlechtsspezifische Gewalt ist deshalb auch eng mit Machtverhältnissen verknüpft. Wenn wir uns für mehr Gleichstellung einsetzen, führt das auch zu weniger Gewalt.

Wie beurteilen Sie die Situation in der Schweiz in Bezug auf geschlechtsspezifische Gewalt?
Die internationale Expert:innen-Gruppe des Europarats (GREVIO) hat die Umsetzung der Istanbul-Konvention (Konvention zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, Anm. d. Red.) in der Schweiz überprüft und Mitte November einen Bericht dazu publiziert. Dieser macht deutlich: In der Schweiz bestehen massive Lücken in den Massnahmen gegen Gewalt. Das Hauptproblem ist, dass zu wenig finanzielle Ressourcen zur Verfügung gestellt werden, um Gewaltbetroffene zu unterstützen. Auch das Thema Intersektionalität, also Mehrfachdiskriminierung, wird zu wenig beachtet: Geflüchtete Frauen, die Gewalt erlebt haben, haben etwa viel weniger Möglichkeiten, sich Unterstützung zu holen. Für trans Frauen kann es ein Hindernis sein, zu Beratungsstellen zu gehen, wenn sie dort Transfeindlichkeit befürchten. Ausserdem gibt es in der Schweiz nur ein rollstuhlgängiges Frauenhaus. Für Personen, die von Gewalt betroffen sind und mehrfach diskriminiert werden, wird es in der Schweiz schnell schwierig, wenn sie Unterstützung benötigen. Ausserdem spielt es eine Rolle, in welchem Kanton jemand wohnt. So fehlt zurzeit auch noch eine nationale Hotline für Betroffene von Gewalt – diese ist allerdings in Planung. Auch eine nationale Kampagne des Bundes wird es künftig geben. Dennoch hat die Schweiz noch viel Luft nach oben und noch grosses Potenzial, wenn es um die Unterstützung von Gewaltbetroffenen geht.

Was sagen denn die vorhandenen Zahlen über die aktuelle Lage in der Schweiz aus?
Bei häuslicher Gewalt handelt es sich in der Schweiz bei ungefähr 75 Prozent der Opfer um Frauen. Bei den Tötungen in Paarbeziehungen sind 96 Prozent der Opfer Frauen und 90 Prozent der Täter Männer. Ich nehme hier oft eine Hemmung wahr, wenn wir benennen, wer die Täter sind – oft kommt als Reaktion der Reflex: «Aber es sind nicht alle Männer Täter!» Das stimmt. Es geht auch nicht darum zu sagen, dass jeder Mann geschlechtsspezifische Gewalt ausübt. Aber wenn wir also sehen, dass 90 Prozent der Täter bei Tötungsdelikten in Paarbeziehungen Männer sind, müssen wir dort ansetzen: Mit genügend Ressourcen für Täterberatung und Sensibilisierung zu Geschlechterrollen und Sexismus.

Welche Lösungsansätze gibt es?
Wir setzen stark auf Prävention. Mit der Kampagne «16 Tage gegen Gewalt an Frauen» wollen wir erreichen, dass das Thema Gewalt präsent ist und intensiv diskutiert wird. Nur wenn wir über Gewalt sprechen, können wir Gewalt auch verhindern. Und wir fordern politische Massnahmen: Um Gewalt zu verhindern, braucht es beispielsweise rasch eine nationale Hotline für Betroffene, Präventionskampagnen und genügend Unterstützungsangebote für alle Betroffenen von Gewalt.

«Feminizid» ist das Fokusthema der diesjährigen 16 Aktionstage gegen Gewalt an Frauen. Vom 25. November bis zum 10. Dezember machen sich über 100 Organisationen stark gegen geschlechtsspezifische Gewalt. Die Kampagne «16 Tage gegen Gewalt an Frauen», die zur Prävention von Gewalt und Sensibilisierung des Themas dient, findet in 187 Ländern statt. Mehr Informationen zu den Aktionstagen und zum diesjährigen Programm findet ihr hier.

Der Artikel von Vanja Kadic

Bild: annabelle-Stocky

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