«Ich spreche lieber von Chancengerechtigkeit»

Fokus

Tagesanzeiger – Nicole Gutschalk 

Soziale Selektivität ist im Bildungswesen ein Fakt – und ein Problem. Pädagogikexperte Franz Eberle über die Hürden in Elternhaus und Schule.

Die Sommerferien sind bald zu Ende, und der Schulanfang steht bevor. Wir publizieren deshalb in dieser Woche Texte unserer Mama- und Papablogger rund um das Thema Schule, die viel zu reden gegeben haben. Dieser Beitrag ist erstmals am 20. August 2020 erschienen.

Herr Eberle, die Schweiz hat seit Längerem ein Problem mit Chancengleichheit im Bildungssystem – warum scheint sich diesbezüglich so wenig zu verändern?

Es handelt sich tatsächlich um ein schwierig zu lösendes Problem, das nicht nur die Schweiz hat. Ich spreche allerdings lieber von Chancengerechtigkeit anstelle von Chancengleichheit. Denn es ist ein Fakt, dass nicht alle Menschen gleiche Chancen beispielsweise auf einen Maturabschluss haben können. Es gibt Unterschiede beim Bildungspotenzial, welche teilweise auch genetisch bedingt sind. Aber genau diese Potenziale sollten möglichst unabhängig von der sozialen Herkunft, vom Geschlecht, der Hautfarbe oder von körperlicher Behinderung maximal entwickelt werden können. Chancengerechtigkeit wäre also dann gegeben, wenn bei gleichem Entwicklungspotenzial die gleichen Förderchancen für die damit erreichbaren höchsten Bildungsabschlüsse vorhanden sind. Dabei ist eine bereits wichtige Förderphase jene der vorschulischen Entwicklung eines Kindes. Und gerade in dieser wichtigen Zeit ist die Förderung nicht überall optimal gegeben und sehr mit dem sozialen Status einer Familie verknüpft. Das ist die eine Seite.

 

Und die andere?

Die Eltern in Sachen Unterstützungsangeboten mit ins Boot holen zu können – gerade solche aus sozial tieferen Schichten. Denn oftmals werden staatliche Bildungs-und Förderprogramme von den Eltern als Eingriff in die Privatsphäre und die persönliche Freiheit wahrgenommen. Es stellt also eine grosse Hausforderung dar, bereits in der frühkindlichen Erziehung von aussen Einfluss nehmen zu können. Aber es gibt durchaus Lichtblicke: In Basel-Stadt etwa, wo bereits 2013 eine obligatorische Sprachspielgruppe für fremdsprachige Kinder eingeführt wurde. Oder auf nationaler Ebene mit der aktuellen parlamentarischen Initiative «Chancengerechtigkeit vor dem Kindesalter». Diese hat zum Ziel, dass die Kantone bei der frühkindlichen Förderung durch staatliche und private Akteure unterstützend wirken sollen. Mit der verlangten Anschubfinanzierung könnte man unter anderem auch Kitas unterstützen.

 

Reden wir über den Übertritt ans Gymnasium. Gerade der Kanton Zürich scheint diesbezüglich die Selektion auf die Spitze zu treiben. Unzählige Schüler und Schülerinnen besuchen alljährlich Kurse an privaten Lerninstituten, die viel Geld kosten, um die Prüfung zu bestehen. Provokativ gesagt: Schaffen es also vorwiegend Kinder aus reichem, akademischem Elternhaus ans Gymi?

Dass der Anteil von Kindern von Akademikern am Gymi überproportional grösser ist als von Kindern aus unteren Schichten, ist statistisch tatsächlich erwiesen. Zu den Aufnahmeprüfungen ist aber zu sagen: Die gibt es auch in anderen Kantonen wie beispielsweise in St. Gallen. Dort allerdings ist der Anteil der Akademikerschicht kleiner als jener in Zürich und deshalb der Druck auf einen Platz am Gymnasium kleiner. Die Fragen bleiben aber überall die gleichen: Welche Aufnahmekriterien und Instrumente sind für einen Übertritt ans Gymnasium am fairsten zu bewerten? Sind es die Erfahrungsnoten, die künftig wieder mehr Gewicht erhalten werden? Oder würden sich vielleicht Übertrittsempfehlungen von Lehrpersonen besser eignen? Auf den ersten Blick würde man annehmen, dass persönliche Empfehlungen von Lehrerinnen und Lehrern geradezu perfekt sind, um Chancengerechtigkeit zu erzielen. Auf den zweiten Blick zeigen aber Untersuchungen, dass solche Empfehlungen ebenfalls sozial selektiv wirken. Dass also Lehrpersonen Kinder aus oberen Schichten trotz gleicher Leistungsfähigkeit – die mit standardisierten Tests nachträglich gemessen wurden – häufig besser bewerten als Kinder aus unteren Schichten.

 

Warum ist das so?

Die meisten machen das nicht absichtlich. Aber Notenmessungen müssen oft nach unscharfen Kriterien erfolgen und sind dann scheingenau. Dabei fliesst auch das Gesamtbild eines Kindes in die Leistungsbewertung mit ein – also auch das Wissen über seine Herkunft. Und offenbar trauen bei solchen Einschätzungen viele Lehrpersonen Kindern aus bildungsnahen Schichten mehr zu als solchen aus fernen. Ausserdem können sich Eltern aus oberen Schichten in der Regel besser durchsetzen und reden gerne mit. Bei Eltern aus unteren Schichten lässt sich zudem oft feststellen, dass der gymnasiale Weg nicht unbedingt als erstrebenswert gilt. Nebst der Unschärfe der Notengebung spielen also auch noch andere Faktoren eine Rolle.

 

«Es kann nicht sein, dass teure Vorbereitungskurse der Schlüssel zum Gymi sind.»

 

Dann sind also Aufnahmeprüfungen gar nicht so ungerecht?

Nach meiner Einschätzung mindestens so gerecht wie andere Verfahren. Allerdings müsste man innerhalb der Schule ein paar Dinge verändern. So kann es nicht sein, dass teure Vorbereitungskurse für Vermögende der Schlüssel zum Gymi sind – das Unterstützungsangebot für die unentgeltliche Vorbereitung an öffentlichen Schulen sollte deshalb unbedingt ausgebaut werden.

 

Müssten auch die Testverfahren überdacht werden?

Auf jeden Fall. Es sollten nicht nur solche Tests zur Anwendung kommen, in denen man mit möglichst viel Lernaufwand besteht. Ein gutes Beispiel dafür liefert etwa der Eignungstest fürs Medizinstudium. Dieser ist weniger auf in kurzer Zeit erlernbares Fachwissen denn auf allgemeine kognitive Fähigkeiten ausgerichtet. Solche kognitiven Fähigkeitstests wiederum sind aber weniger prognosevalide. Denn spätere Schulleistungen hängen aber nicht nur von allgemeinen kognitiven Fähigkeiten ab oder von Intelligenz. Sondern mehr noch von bisher erworbenen Fachkompetenzen, von guten Lernstrategien, der Bereitschaft sich anzustrengen, einer guten Einstellung zur Schule sowie einem guten Selbstkonzept. Lernende mit hohem Potenzial und aktuell tiefen Fachkompetenzen sind sogenannte «Underachiever»,, die bei Fachtests durchfallen mittels ergänzenden kognitiven Fähigkeitstests aber erkannt werden können. Frühere Förderfehler zu korrigieren, stellt allerdings eine grosse pädagogische Herausforderung dar. Aufnahmetests bleiben also ein anspruchsvolles Geschäft.

 

Vielleicht wäre es sinnvoller, eine Selektion zu einem späteren Zeitpunkt zu treffen? Damit Kinder möglichst lange in einem Klassenverbund zusammenbleiben und von einander profitieren.

Im Hinblick auf noch nicht ausgeschöpfte Entwicklungspotenziale wäre es sicher sinnvoller, dass nicht alle bereits ab der 6. Klasse fürs Gymi parat sein müssen. Richtet man den Blick aber auf einen möglichst frühen Zusammenzug der Besten im Sinne einer optimalen Begabtenförderung, erachte ich es als nachteilig. Ein Konflikt also. Deshalb muss, wer es nicht aufs Langzeitgymnasium schafft, nach der 2. oder 3. Sekundarschulstufe eine reelle Chance aufs Gymnasium erhalten. Es braucht deshalb in der Sekundarschule eine optimale individuelle Förderung. Die Lehrpersonen sollten sich auf keinen Fall dem «reduzierten» Niveau anpassen, wenn die sogenannten Zugpferde weg sind, sondern genug Sensibilität aufweisen, diejenigen zu erkennen, die das Potenzial fürs Gymnasium aufweisen. Und vielleicht noch ein letzter Punkt: Es darf keine zu kurze und selektive Probezeit geben. So wäre ich dafür, diese im Kanton Zürich auf ein Jahr auszudehnen.

 

Die Kinder sollen sich also während Monaten dem Druck aussetzen die Gymiprüfung zu bestehen und dann müssen sie noch mal während eines ganzen Jahres im Probezeitmodus ausharren – ist das sinnvoll?

Ein neues Leistungsumfeld braucht Zeit, um sich anzupassen und Lücken aufzuholen. Ist diese zu kurz, droht eine übermässige Durchfallquote. Aber es stimmt: Der Druck, in dem es sich über einen längeren Zeitraum zu beweisen gilt, besteht. Doch bleibt das Gymnasium auch nach der Probezeit eine selektive Schule.

 

«Lehrpersonen kommen meist nicht aus einer sozial tieferen Schicht.»

 

Wie bereits angesprochen, spielen Lehrerinnen und Lehrer eine wichtige Rolle, wenn es um die Chancengerechtigkeit geht. Wird das Lehrpersonal während ihrer Ausbildung tatsächlich genügend für diese Thematik sensibilisiert?

Das Thema ist durchaus Teil der Ausbildung, die Sensibilisierung aber noch nicht optimal. Es ist etwa enorm wichtig, dass die Lehrpersonen zur Vermeidung von Urteilsfehlern über eine sehr gute Diagnosefähigkeit verfügen. Denn nur wer gut diagnostizieren kann, vermag auch optimal zu fördern und Vorurteile gegenüber Lernenden abzubauen. Das lässt sich beispielsweise mit Microteachings üben. Kurze Unterrichtssequenzen, die videografiert und anschliessend ausgewertet werden. Vorurteilbehaftetes und selbstwertabträgliches Verhalten kann so aufgedeckt für künftiges Unterrichtsverhalten korrigiert werden.

 

Oft fehlt der Lehrerschaft aber der Zugang zu Schülern aus unteren Schichten, da sie mit dem vorherrschenden Habitus in betreffenden Familien nicht vertraut sind, oder?

Richtig. Denn meist kommen Lehrpersonen selber ja auch nicht aus einer sozial tieferen Schicht. Deren Werte und Sprachgebrauch sind ihnen deshalb fremd, und sie wissen oft auch nicht wie die Förderbedingungen der häuslichen Umwelt des Kindes ausschauen. Diese Lebenswelt gilt es deshalb kennen zu lernen, um wiederum die Diagnosefähigkeit zu schärfen. Lehrpersonen sollten zudem öfters mal ihre intuitiven Annahmen hinterfragen.

 

Wie meinen Sie das?

Ein Beispiel: Lehrer neigen bei Übertritten gefühlsmässig dazu, einer Schülerin mit knappen Noten plus einer grossen Leistungsbereitschaft die besseren Chancen einzuräumen, als einer Schülerin mit zwar gleichen Noten aber tieferer Leistungsbereitschaft – was subjektiv nervt. Das erachte ich als einen Fehler, da objektiv das Leistungspotenzial eher im zweiten Fall nicht ausgeschöpft ist.

 

Weshalb legt die Frühbildung eines Kindes die Grundsteine für einen späteren Erfolg in der Schule?

Weil im Gehirn wesentliche Grundlagen der späteren kognitiven Entwicklung bereits vor dem sechsten Lebensjahr ausgebildet werden. So zum Beispiel der Spracherwerb. Dabei spielt der Anregungsgehalt der nächsten Umwelt eine ausschlaggebende Rolle. Und da genau da liegt die Krux, weil das soziale Umfeld von Kindern in diesem Alter eben sehr unterschiedlich anregungsreich ist.

 

Wäre es also wünschenswert, wenn Kitas mehr Geld zur Verfügung hätten und Kindergärten eine Tagesstruktur aufweisen würden, um Kinder aus einem schwächer gestellten Umfeld besser zu fördern?

Auf jeden Fall! Doch leider fliesst das meiste Geld innerhalb des Bildungssektors «oben» rein. Dabei wäre es äusserst wichtig, wesentlich mehr in die frühkindliche Bildung zu investieren, um die eigentlichen Grundsteine für eine bessere Chancengerechtigkeit legen zu können. Davon würde letztlich auch Gesellschaft, Wissenschaft und Wirtschaft profitieren.

 

Der Artikel von Nicole Gutschalk

Foto: Arno Balzarini (Keystone)

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