«Ich ass täglich so viel wie eine 5-köpfige Familie» – Andrea litt 20 Jahre unter Bulimie

Fokus

watson – Chantal Stäubli

20 Jahre lang drehten sich bei Andrea Ammann die Gedanken um zwei Themen: Essen und Erbrechen. Am Tiefpunkt ihres Lebens fällte sie einen Entscheid – und schaffte den Ausstieg. Mit watson blickt sie zurück – und in die Zukunft. Das ist ihre Geschichte.

Was genau passiert ist, dass diese Geschichte, ihre Geschichte, diesen Verlauf genommen hat, dass sie 20 Jahre lang jeden Tag zwischen exzessivem Essen und alles wieder erbrechen oszillierte, dass sie ein Doppelleben führte und während ihrer Essstörung imstande war, zwei Kinder zu gebären, wenn man Andrea Ammann also fragt, was genau passiert ist, beginnt ihre Geschichte als Sechsjährige, wie sie in ihrem Kinderzimmer sitzt. Ihre Eltern streiten sich. Sie verkriecht sich ängstlich hinter der Tür. Und sie hat Angst, dass sich ihre Eltern gegenseitig umbringen. So drastisch sagt sie das.

Dieses Szenario wiederholt sich einige Male. Über ihre Ängste spricht sie mit niemandem. Noch als Kind lernt Andrea, für sich selbst zu schauen. Sie schreibt gute Noten, überragt im Turnen. Und wird zur Einzelkämpferin.

Mit 16 Jahren wird ihr Leben komplett aus der Bahn geworfen. Sie erlebt sexuelle Gewalt aus ihrem Umfeld. Und ihr Reflex wiederholt sich. Andrea spricht mit niemandem über die Geschehnisse. Sie gibt sich selbst die Schuld.

Dann hört sie auf, zu essen.

Verknüpft ist diese Handlung mit einer Hoffnung: Ihre Eltern sollen sie doch einfach nur fragen, wie es ihr gehe. Doch die Protestaktion fruchtet nicht. «Iss jetzt endlich mal was», ist das Einzige, was Andrea zu hören bekommt.

Doch der Teenie verliert in kurzer Zeit massiv an Gewicht. Ihre Eltern schicken sie zu einem Psychologen. Es wird kein gutes Erlebnis. In einem maroden und chaotischen Büro nimmt Andrea Platz. Rauch qualmt ihr ins Gesicht. Ihr Schädel fühlt sich an, als würde er platzen. Und vor dem ungepflegten Mann gruselt sie sich. Mit diesem Mann also sollte sie das tun, was sie vorher jahrelang nicht konnte – über ihre Traumata sprechen?

Die Besuche werden zum Albtraum. Und Andrea schmiedet einen Plan, um diesem zu entkommen:

Sie muss zunehmen, und das möglichst schnell.

Sie beginnt, massenweise Essen zu verdrücken, bis sie ihr verlorenes Gewicht wieder zulegt. Doch die Gewichtszunahme setzt sie unter psychischen Stress.

Zunehmen will sie nicht noch mehr und abnehmen darf sie nicht. Sie muss ihren Eltern schliesslich beweisen, dass es ihr gut geht, dass sie einen gesunden Appetit hat. Sonst muss sie wieder zum unheimlichen Mann. Und sich Ausreden überlegen, warum sie nichts isst.

Gefangen in dieser Zwickmühle, beginnt Andreas heimliches Doppelleben. Eines, das sich hinter verschlossenen Türen, zwischen Kühlschrank und Toilette abspielt. Und das 20 Jahre dauern sollte.

Andrea isst, bis sie sich übergeben muss.

Täglich stopft sie so viel Essen in sich hinein wie eine fünfköpfige Familie pro Tag zu sich nimmt.

20 Jahre lang ist Andrea gefangen im Teufelskreis zwischen Essen und Kotzen.

Teufelskreis von Essen und Kotzen

Kotzen – ein saloppes Wort, das bei Andrea Ammann eine Wucht an Gefühlen hochkommen lässt. Man solle die Dinge beim Namen nennen, sagt sie.

«Wenn es einem schlecht geht und man erbrechen muss, kann man das nette Wörtchen ‹erbrechen› verwenden. Absichtliches Erbrechen hat eine ganz andere Dynamik, die man nicht einfach schönreden sollte.»

Andrea Ammann ist jetzt 50 Jahre alt. Und die 20 Jahre zwischen Essen und Erbrechen sieht man ihr nicht an. Mir gegenüber sitzt eine zierliche Frau, sie versprüht Lebensfreude, auch äusserlich scheinen bei ihr die zwei Jahrzehnte keine einzige Spur hinterlassen zu haben.

Wenn sie von ihren Schicksalsschlägen berichtet, merkt man, dass es Narben gibt. Dann ist sie manchmal den Tränen nahe, blickt mit ihren Rehaugen ins Leere. Doch wenn sie von ihrer Arbeit erzählt, blüht sie auf. Heute hilft sie als Mentorin Menschen mit Bulimie. «Es erfüllt mich, wenn ich Menschen aus diesem Gefängnis befreien kann.»

Das Gefängnis kennt sie zu gut.

Alltag zwischen Normalität und Absurdität

Fast 20 Jahre lang lebt Andrea ein Doppelleben, ohne je mit jemandem darüber zu sprechen. Im Alltag bemerkt niemand, dass sie unter einer Essstörung leidet. Äusserlich sieht man ihr nichts an. Sie ist schlank, nicht spindeldürr. In Gesellschaft ernährt sie sich normal. Doch ist sie alleine, isst sie Dimensionen, die man sich kaum vorstellen kann: 10 bis 20 Gipfeli, 7 Berliner, 60 Guetzli, 1 Kilogramm Brot.

Ihre Essanfälle finden heimlich statt – auch bei der Arbeit. Erwischt wird sie nie, dafür sorgt sie, dafür plant sie. Als Hochbauzeichnerin ist sie viel unterwegs. So kann sie Halt an Tankstellen oder Bäckereien machen und sich dort mit Hamsterkäufen auf der Toilette niederlassen.

«80 bis 90 Prozent meiner täglichen Gedanken und Gefühle kreisten ums Essen», erinnert sich Andrea. «Ich war permanent am Planen. Wann kann ich das Büro verlassen? Halte ich es noch zwei Stunden aus? Wie viel Zeit habe ich bis zum nächsten Termin? Was soll ich einkaufen und wie viel? Reichen fünf Berliner aus, um zu kotzen, oder brauche ich noch ein Kilo Brot dazu?»

 

«80 bis 90 Prozent meiner täglichen Gedanken und Gefühle kreisten ums Essen»

 

Nach der Arbeit geht der Spiessrutenlauf weiter. Als Erstes geht Andrea einkaufen. Ihre Abhängigkeit geht ins Geld. Familienpackungen bevorzugt sie. Weil sie sich eigentlich für ihr Verhalten schämt, erzählt sie den Verkäuferinnen und Verkäufern an der Kasse, dass sie Essen für ihre grosse Familie einkaufe.

Daheim unterliegt sie ihren Fressattacken. Nimmt Tausende Kalorien zu sich. Und spült schlussendlich alles das Klo herunter.

Zeit für Freunde bleibt kaum. Zu sehr ist sie mit der Bulimie beschäftigt. Die Waage wird zur engsten Vertrauten. Bis zu zehnmal pro Tag stellt sie sich darauf. Jedes Gramm ist eine Bewertung, eine Verurteilung, eine Analyse.

«Alles drehte sich um diese eine Zahl», erinnert sich Andrea. «Ich war so gefangen in dieser Kontrolle. Wenn die Waage mir eine Zahl zeigte, die mein Kopf nicht erlaubte, war mein Tag zur Sau. Ich redete mir ein, dass ich bald explodiere, wie ein Nilpferd aussehen werde. Ich entschloss dann, noch strenger mit mir zu sein. Noch mehr zu kotzen.»

Jahr für Jahr bestimmt die Waage ihre Gefühle. Und die Bulimie ihren Alltag.

Von Knistern, Koks und Kotzen

Auch eine Beziehung ändert daran nichts. Mit ihrem Freund zieht sie zwar zusammen, weg von der Krankheit kommt sie nicht. Er konsumiert und handelt mit Drogen. Es entsteht zwischen den beiden eine Art Co-Abhängigkeit. Während er kokst, kotzt Andrea. «Wir wussten über die Sucht des anderen Bescheid, haben uns aber gegenseitig in Ruhe gelassen», so Andrea.

 

«Es ist krass, was ich alles in Kauf nahm, um in dieser Abhängigkeit zu leben.»

 

Das Leben von Andrea und ihrem Freund war ein fragiles Kartenhaus.

«Als wir beispielsweise unerwarteten Besuch bekamen, setzte mich das dermassen unter Druck. Ich wurde nervös, wütend und aggressiv. In solchen Momenten realisierte ich, was ich da eigentlich mache. Und wie krank und unperfekt ich bin.»

Doch dieses Kartenhaus stürzte nie ein.

Andrea besucht während all der Jahre diverse Therapien, um von der Bulimie loszukommen. Doch diese Besuche waren aber eher fürs gute Gewissen. «Ich konnte mir dann einreden, dass ich etwas dagegen unternehme, nur hilft es bei mir nicht.»

Während eines stationären Aufenthalts lernt sie ihren heutigen Ex-Mann kennen – mit ihm wird sie später zwei Kinder bekommen.

Der Tiefpunkt, der sie zurück ins Leben bringt

Von ihrer Sucht los kommt sie auch in der Schwangerschaft nicht. «Immer wieder habe ich mir eingeredet, dass ich aufhöre, besonders vor der Schwangerschaft und nach der Geburt. Immer schob ich es vor mich hin.»

Während der Schwangerschaften geht sie mit der Krankheit einen Kompromiss ein: «Ich nahm täglich die doppelte Menge Schwangerschaftsvitamine zu mir und habe bewusst einige Stunden nicht gekotzt», so Andrea.

Nach der Geburt ihrer zweiten Tochter wird Andrea alles zu viel. «Als ich beispielsweise zehn Berliner gegessen habe und nicht kotzen konnte, weil ich ein Kind stillen musste, drehte ich beinahe durch. Ich war gestresst, wütend, frustriert und traurig zugleich.»

Andrea liebt ihre Kinder – und hasst ihre Krankheit. Sie ist am Ende. Weiss nicht mehr weiter. Denkt an Suizid.

Andrea steht am Tiefpunkt. Aber der sollte ihr Wendepunkt werden.

«Ich schaute meine Töchter an und dachte: Diese kleinen Geschöpfe können nichts dafür, dass ich mein Leben nicht auf die Reihe bekomme. Zudem sagte mir eine zarte Stimme, dass ich auf dieser Welt noch etwas zu tun habe. Dann habe ich mich entschieden, mein Leben zu verändern». Sie wirft ihre Waage weg, nimmt die Herausforderung in Kauf und beginnt ihr Leben umzukrempeln.

Von einem Tag auf den anderen hört Andrea auf zu kotzen. Sie beginnt auf ihren Körper zu hören und isst nur dann, wenn sie hungrig ist. So wie ihre Kleinkinder es auch tun. Sie nimmt etwas an Gewicht zu. Doch das macht ihr nichts aus. Ihr Stoffwechsel muss sich erst einmal an das normale Nahrungsangebot gewöhnen. Erst da realisiert Andrea, was sie ihrem Körper jahrelang angetan hatte. Zum befürchteten Nilpferd wird sie nicht.

Andrea macht ihre Erfahrung zum Beruf

Nach 20 Jahren war Schluss. Von einem Tag auf den anderen. Was bleibt, sind Erinnerungen und wertvolle Erfahrungen, die sie auf dem Weg zurück in die Freiheit gemacht hat. All diese Erkenntnisse gibt sie heute als Therapeutin weiter. Sie zeigt Bulimie-Kranken, wie der Ausstieg möglich ist und begleitet sie auf dem Weg.

 

«Es erfüllt mich, wenn ich Menschen aus diesem Gefängnis befreien kann.»

 

Dabei verzichtet sie auf die Massnahmen, die ihr nie geholfen haben: Verbote, Druck und Kontrolle. Nur etwa 20 Prozent drehen sich bei Andreas Therapie ums Essen. Die restliche Zeit widmet sie dem Thema Selbstliebe, Eigenverantwortung und Bewusstsein sowie unkonventionellen Behandlungsmethoden basierend auf verschiedenen energetischen Heilmethoden.

«Der Ausstieg ist ein Training», sagt Andrea und nennt ein Beispiel: «Wenn man immer als Erstes den rechten Schuh bindet und sich dann entscheidet, plötzlich den linken zuerst zu schnüren, gelingt einem das zu Beginn nicht immer. Doch mit Umtraining, Eselsbrücken und Erinnerungen wird man es eines Tages hinkriegen.»

In ihrem Beruf sieht sie die Aufgabe, die ihr am Tiefpunkt ihres Lebens eine zarte Stimme zuflüsterte: «Andrea, du hast auf der Welt noch etwas zu tun.»

Der Artikel von Chantal Stäubli

bild: andrea ammann

 

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