Aargauer Zeitung – Sharleen Wüest
Manche Medikamente wirken bei Frauen anders – und sie gehen in der Forschung auch mal komplett vergessen. Gendermedizinerin Vera Regitz-Zagrosek spricht über die bisherigen Fehler: Der Mann soll nicht mehr das Mass in der Forschung sein.
Die Hormone, das Gewicht, die Anfälligkeiten für gewissen Krankheiten – Männer und Frauen unterscheiden sich. Zumindest biologisch. Und doch wird bei der Medikamentenforschung häufig davon ausgegangen, dass beide dieselben Medikamente und dieselbe Dosis einnehmen können. Der Mann ist in der Forschung das Mass.
Das will eine Motion, die im Nationalrat angenommen wurde, ändern. Die Forschung über Beschwerden und Krankheiten, die speziell Frauen betreffen, soll markant erhöht werden. Der Bundesrat anerkennt zwar das Bedürfnis, lehnt aber ein nationales Forschungsprogramm dazu ab. Für Gendermedizinerin Vera Regitz-Zagrosek von der Charité in Berlin ist das nicht akzeptabel.
Vera Regitz-Zagrosek: Die Kategorie Geschlecht wird oft übersehen. Neue Medikamente werden an Tieren entdeckt – und die Experimente werden zu 80 Prozent an männlichen Tieren durchgeführt. Dadurch können Medikamente, die vor allem bei Frauen wirken würden, gar nicht entdeckt werden. Und man sieht auch nicht, ob sie vielleicht zyklusabhängig anders wirken. Zudem werden später in den klinischen Medikamentenstudien mehr Männer eingeschlossen. Das betrifft vor allem die frühen Phasen der Studien, wo die Dosierungen festgelegt werden. Das alles führt dazu, dass Medikamente weniger gut an die Frauen angepasst sind.
Auf gar keinen Fall. Unsere Frauen sollten es uns wert sein, dass wir uns mehr Mühe mit Medikamentenstudien geben. Viele werden bei älteren Menschen durchgeführt, zumindest im Herz-Kreislauf-Bereich. Da haben wir das Problem mit den Schwangerschaften nicht. Aber für Studien in jüngeren Altersgruppen müssen wir diese Medikamente an Frauen testen. Schwangerschaften kann man heutzutage sicher nachweisen.
Ich verstehe nicht, mit welcher Argumentation der Bundesrat ein nationales Forschungsprogramm Gendermedizin ablehnen sollte. Es ist völlig klar, dass uns Daten zu Frauen fehlen und dass wir nicht wissen, wie wir Herzinfarkte, Schlaganfälle und Diabetes bei Frauen optimal behandeln müssen. Mit dem Wissen um all diese Defizite wäre ein nationales Forschungsprogramm sehr wünschenswert. In Deutschland gibt es tatsächlich mehr Bewegung. Hier ist im Koalitionsvertrag der neuen Regierung verankert worden, dass Gendermedizin weiter in den Vordergrund gerückt werden soll.
Ganz dringend ist es, frauenspezifische Risikofaktoren zu untersuchen. Wenn wir zum Beispiel über Risikofaktoren zu Herz-Kreislauf-Problemen sprechen, kommen frauenspezifische Faktoren wie Hormone, Schwangerschaften oder Depressionen in der Liste der wichtigen Risikofaktoren nicht vor. Darüber hinaus muss die Arzneimittelindustrie verpflichtet werden zu untersuchen, ob Frauen und Männer wirklich die gleichen Medikamente in den gleichen Dosierungen brauchen. Es gibt deutliche Anhaltspunkte dafür, dass Frauen häufig niedrigere Dosierungen brauchen.
Wir sehen, dass einige Schlafmittel bei Frauen langsamer abgebaut werden und sie am anderen Morgen noch einen Hangover haben. Man weiss auch von einigen Tumormedikamenten und Entzündungshemmern, dass Frauen sie schlechter vertragen als Männer. Das Problem ist tatsächlich, dass es keine flächendeckenden Untersuchungen dazu gibt. Bei Herz-Kreislauf-Medikamenten werden nur bei etwa 12 Prozent der Studien die Nebenwirkungen geschlechtergetrennt veröffentlicht. Es ist sehr viel teurer, später die Arzneimittelnebenwirkungen zu behandeln, als sie früher zu vermeiden.
Wir sprechen zu selten über stressbedingte Erkrankungen und über die rheumatischen Autoimmunerkrankungen, die zu etwa 80 Prozent Frauen betreffen. Auch, dass die Mechanismen für einige geschlechtsspezifische Ausprägungen für Lebererkrankungen nicht gut verstanden sind und dass wir zu wenig zur Arzneimitteltherapie in der Schwangerschaft wissen. Es gäbe noch viele weitere Beispiele.
Es ist ganz wichtig, dass Frauen ihre Hausärztinnen und Hausärzte fragen, ob ihre Medikamente oder Therapieverfahren ausreichend an Frauen getestet worden sind, ob es Dosisfindungsstudien für Frauen und Männer gibt und ob man genau weiss, dass die Medikamente bei den Geschlechtern nicht unterschiedliche Nebenwirkungen haben.
Es gibt viele Untersuchungen, die darauf hinweisen, dass Frauen als Patientinnen weniger ernst genommen werden. Dass zum Beispiel Herzerkrankungen bei ihnen übersehen werden, weil man die Symptome als «psychisch» bewertet.
Das können Frauen selbst nicht abschätzen. Das können Patientinnen und Patienten eigentlich nie. Das ist auch für Ärzte ein schwieriges Problem zu wissen, wie die Schmerzen bewertet werden müssen. Es erfordert Aufmerksamkeit, Zuhören und eine sorgfältige Diagnostik.
Ich möchte, dass in allen Studien die Erforschung von Unterschieden zwischen Frauen und Männern mit eingeplant wird. Und dass in allen Arzneimitteltestungen klargestellt wird, welche Dosis eine Frau und welche ein Mann braucht sowie welche Nebenwirkungen beim jeweiligen Geschlecht typisch und vermeidbar sind.
Es ist tatsächlich so, dass Frauen manchmal andere Strategien haben und dass für sie andere Dinge im Vordergrund stehen. Ich glaube, Frauen sind eher an sogenannten weichen Endpunkten interessiert wie zum Beispiel Lebensqualität und Lebenszufriedenheit. Das berücksichtigen sie in Studien manchmal stärker als Männer.
Wenn es von der Politik Unterstützung gibt und wirklich anerkannt wird, dass geschlechtsspezifische Aspekte auch erforscht werden müssen, können wir sicher in fünf Jahren einen grossen Fortschritt machen.
Der Artikel von Sharleen Wüest
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