«Es hat einen Strukturbruch in der Weltwirtschaft gegeben»

Fokus

watson.ch – In Europa und den USA kämpfen die Zentralbanken gegen eine hartnäckige Inflation. In der Wirtschaft wird mehr auf Resilienz anstatt auf Effizienz geachtet. Ann-Katrin Petersen, Senior Investment Strategist beim weltweit grössten Vermögensverwalter BlackRock, erklärt, warum die Zeitenwende mehr als ein Schlagwort ist und was das für die Anleger bedeutet.

Die Weltwirtschaft ist derzeit nicht im Gleichgewicht. Europa befindet sich technisch gesehen bereits in einer Rezession. China hat sich mehr schlecht als recht vom Lockdown erholt, während sich die US-Wirtschaft erstaunlich gut hält. Sehe ich das richtig?
Ann-Katrin Petersen: Wir beobachten eine zweigeteilte Weltkonjunktur. Einerseits erwarten wir eine weitere Abkühlung in Europa, aber auch in den USA. Andererseits hat Chinas zunächst kraftvolle Erholung nach dem Lockdown an Schwung verloren. Wir erwarten jedoch trotzdem, dass die chinesische Wirtschaft im laufenden Jahr rund doppelt so schnell wachsen wird wie letztes Jahr, also rund sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukts.

Asien wird damit der Treiber der Weltwirtschaft?
Ja. Rund zwei Drittel des Wachstums der Weltwirtschaft dürften in diesem Jahr aus Asien kommen.

Weshalb sind die Aussichten für Europa und die USA weniger optimistisch?
Weil sie nach wie vor unter einer Inflation leiden, die deutlich über dem von den Zentralbanken gewünschten Ziel liegt. Zwar haben die Inflationsraten ihren Gipfel überschritten bzw. sind rückläufig, insbesondere bei Energie, dürften sich jedoch auf einem höheren Sockel einpendeln als vor Ausbruch der Pandemie. Dafür sprechen unter anderem knappe Arbeitskräfte und steigende Löhne. Deshalb werden die Zentralbanken länger als erwartet an ihrer restriktiven Geldpolitik festhalten.

Bedeutet dies, dass die Leitzinsen noch weiter steigen werden?
Wir bewegen uns auf den Zinsgipfel zu. In dieser Phase der geldpolitischen Straffung ist es weniger wichtig, ob und wie oft die Fed oder die EZB den Leitzins nochmals um 0,25 Prozentpunkte erhöhen oder nicht. Entscheidender für Anleger wird sein, wie lange sie das durchhalten werden.

Was glauben Sie?
Wir gehen davon aus, dass die Leitzinsen noch eine Weile hoch bleiben werden.

Die Zentralbanken verfolgen das Ziel, die Inflation auf zwei Prozent zu drücken. Ist dieses Ziel nicht zu ehrgeizig? Besteht nicht die Gefahr, dass damit die Wirtschaft abgewürgt wird?
Die Zentralbanken stehen tatsächlich vor diesem Dilemma. Um die Inflation in den Griff zu bekommen, sind die Fed und die EZB gezwungen, die wirtschaftliche Nachfrage auf das seit Ausbruch der Pandemie niedrigere Angebot herunterzudrücken. Wir gehen jedoch davon aus, dass die Zentralbanken – wenn dieser wirtschaftliche Schaden zutage tritt – wieder einen Schritt zurücktreten werden. Deshalb glauben wir auch, dass – wie erwähnt – der Zinsgipfel naht. Derzeit beobachten die Zentralbanken sehr aufmerksam, wie sich die bereits erfolgten Zinserhöhungen auf die Wirtschaft auswirken. Vergessen wir nicht: Traditionell dauert es ein Jahr oder gar mehr, bis die Wirtschaft auf die Geldpolitik reagiert.

Wahrscheinlich werden die Zentralbanken eine leicht höhere Inflation akzeptieren?
Um die Zwei-Prozent-Marke zügig zu erreichen, müssten sie noch mehr unternehmen, denn die Inflation ist inzwischen nicht mehr allein von den Energiepreisen getrieben. Binnenwirtschaftlicher Druck kommt unter anderem von sogenannten Zweitrunden-Effekten; beispielsweise erzwingt der Facharbeiter-Mangel höhere Löhne.

«Im zweiten Halbjahr wird die Luft dünner.»

 

Von einer Rezession ist seit Längerem die Rede. Erstaunlicherweise ist jedoch das erste Halbjahr an den Börsen sehr erfreulich ausgefallen.
Dafür gibt es eine Reihe von Gründen. Einmal ist die Rezession nicht so frühzeitig wie befürchtet eingetreten. Für Hoffnung hat auch der Neustart in China gesorgt, und in Europa ist die Energiekrise im Winterhalbjahr weniger schlimm als erwartet ausgefallen. Schliesslich ist manch pessimistischer Anleger auf dem falschen Fuss erwischt worden und hat – aus Sorge, weitere Kursgewinne zu verpassen – zugekauft, ganz nach dem Prinzip «Fear of missing out».

Wird die freundliche Stimmung anhalten?
Im zweiten Halbjahr könnte die Luft dünner werden. Die Weltwirtschaft befindet sich im Wandel. Vor der Pandemie hat man von einem «Everything Bull Market» gesprochen – davon, dass dank des billigen Geldes Anleihen und Aktien gleichzeitig profitiert haben. Im Umfeld höherer Zinsen haben Anleihen an Attraktivität gewonnen. Bei den Aktien sollte man jedoch genauer hingucken, um Chancen zu ergreifen.

Derzeit dreht sich alles um die Künstliche Intelligenz (KI). Wie ist das zu bewerten?
Der Aufschwung der amerikanischen Börsen ist tatsächlich ein paar wenigen Tech-Titeln zu verdanken, lässt also an Breite missen, und da spielt KI als Wachstumsstory eine entscheidende Rolle. Man sollte sich jedoch nicht nur auf ein paar Unternehmen beschränken. Die Streuung ist weit grösser. Es lohnt sich daher, selektiv nach Titeln Ausschau zu halten.

Ein Unternehmen wie Nvidia, das bis vor Kurzem nur Insider kannten und das auch heute noch keine bekannte Marke ist, wurde quasi über Nacht zu einem Billionen-Unternehmen wie Apple und Microsoft. Ist da nicht auch sehr viel Hype im Spiel?
KI wird unbestreitbar einen bedeutenden Einfluss auf Gesellschaft und Wirtschaft haben. Wir müssen jedoch unterscheiden zwischen greifbaren Entwicklungen, die bereits stattfinden – die grosse Nachfrage nach Halbleitern beispielsweise –, und Hoffnungen, dass auch die Produktivität in der Breite der Wirtschaft spürbar gesteigert wird. Diesbezüglich gibt es noch viele Unsicherheiten. Aus Anlegersicht stellt sich deshalb nicht nur die Frage des Ob, sondern die Frage des Wann.

Die Tesla-Aktie ist zeitweise bis zu 60 Prozent eingebrochen. Droht Ähnliches auch bei den aktuellen KI-Highflyern wie Nvidia?
Zu einzelnen Titeln kann ich nicht Stellung beziehen. Grundsätzlich jedoch ist Volatilität ein Phänomen, das uns begleiten wird, nicht nur an den Finanzmärkten.

Als Volkswirtschaftlerin wissen Sie, dass Ökonomie stark mit Geopolitik verbunden ist. Wie bewerten Sie die zögerlichen Annäherungsschritte zwischen den USA und China?
Der Wettbewerb der beiden Supermächte hat einen Einfluss auf die gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen für die Märkte, keine Frage. Deshalb ist es zu begrüssen, dass man miteinander spricht. Trotzdem dürfte der Wettbewerb weitergehen, und damit auch die mögliche geopolitische Fragmentierung.

Gleichzeitig hat Narendra Modi, der indische Premierminister, die USA besucht. Wird das den Wettbewerb der Supermächte noch befeuern?
Es scheinen geopolitisch gesehen mehrere Blöcke zu entstehen, mit konkurrierenden Verteidigungs- und Wirtschaftsbündnissen. Je mehr sich die konkurrierenden Blöcke in dieser neu verkabelten Weltwirtschaft festigen, desto mehr könnten «blockfreie» Länder wie Indien, Brasilien, Mexiko, Vietnam etc., die sich weder auf die Seite der USA noch auf die Seite Chinas stellen und gleichzeitig über wertvolle Ressourcen verfügen, an Einfluss gewinnen.

Was für Folgen wird dies haben?
Indien und andere Schwellenländer werden voraussichtlich an Einfluss gewinnen. Industriepolitik und Protektionismus könnten Investitionen in Infrastruktur, Technologie und saubere Energie ankurbeln. Es bleibt also spannend.

Die Weltbank hat kürzlich erklärt, die Kräfte, die in den letzten Jahrzehnten Fortschritt und Wohlstand angefeuert haben, seien am Schwinden. Ist das Zeitalter der Globalisierung, des freien Handels und der tiefen Zölle vorbei?
Die These von der Deglobalisierung ist nicht mehr taufrisch. Wir bewegen uns auf eine neu verkabelte Weltwirtschaft zu. Bereits seit der Finanzkrise 2008/2009 werden verstärkt bilaterale oder gar regionale Handelsabkommen abgeschlossen.

Was bedeutet das?
Es wird nicht mehr bloss auf reine Effizienz, auf Just-in-time-Produktion geachtet. Nationale Sicherheit und Unabhängigkeit werden höher bewertet. Verteidigungsbudgets werden erhöht. Mit anderen Worten: Es kostet mehr.

«Der Wettbewerb um grüne Technologien ist grundsätzlich zu begrüssen.»

 

Resilienz soll Effizienz ersetzen, lautet das neue Leitmotiv.
Richtig, das heisst aber auch, dass die Produktionskosten steigen werden.

Und der Wohlstand sinken wird?
Das Wachstumspotenzial wird gedämpft. Gleichzeitig erhöht es auch den Innovationsdruck. Deshalb entstehen neue Chancen. Um die Lieferketten widerstandsfähiger auszugestalten, werden beispielsweise Zulieferbetriebe in Europa gestärkt.

Das bedeutet jedoch auch mehr Protektionismus. Gerade im Kampf gegen die Klimaerwärmung subventionieren die Amerikaner die eigenen Unternehmen im grossen Stil.
Auch das ist nicht neu. Die nichttarifären Handelshemmnisse sind ebenfalls bereits nach der Finanzkrise erhöht worden. Der Wettbewerb um grüne Technologien ist grundsätzlich zu begrüssen, denn er sorgt dafür, dass die grüne Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft letztendlich gelingen kann. Aber ja, als Volkswirtschaftlerin weiss ich auch, dass diese neue Industriepolitik auch zu ineffizienten Auswüchsen führen kann.

Die Pandemie und die Energiekrise wurden mit billigem Geld der Zentralbanken und grosszügiger Unterstützung des Staates erstaunlich gut bewältigt. War das eine kluge Politik – oder werden wir jetzt die Zeche in Form von hartnäckiger Inflation, steigenden Staatsschulden und einer Rezession begleichen?
Zuerst gilt es festzuhalten, dass wir 2020 einen starken Einbruch der Weltwirtschaft erlebt haben. Was die Zukunft betrifft, darf man nicht übersehen, dass ein Strukturbruch stattgefunden hat. Die «Zeitenwende» ist mehr als ein Schlagwort. Bisher sahen sich die Wirtschaftspolitik und vor allem auch die Zentralbanken primär mit Nachfrageschocks konfrontiert. Nun jedoch geht es darum, die Angebotsseite neu auszurichten. Facharbeitermangel, Sicherheit der Lieferkette und ähnliche Themen werden künftig eine grosse Rolle spielen. Das stellt die Zentralbanken und die Wirtschaftspolitik vor neue Herausforderungen.

Blöd gefragt: Führt dieser Strukturbruch zu einer besseren oder zu einer schlechteren Welt?
Zu einer anderen Welt.

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