Es gibt keine absolute Haltung zur Rüstungsforschung, die unproblematisch ist

Fokus

Horizonte das Schweizer Forschungsmagazin

Sollen Hochschulen auch militärische Forschung durchführen? Nadia Mazouz, Ethikerin der ETH Zürich, beantwortet die Frage nicht, sondern fordert eine nuancierte Diskussion über Wissenschaft, Krieg und Frieden.

Nadia Mazouz, wenn Sie 1939 gefragt worden wären, an der Entwicklung der Atombombe gegen die Nazis mitzuhelfen, hätten Sie mitgemacht?

(Studiert lang.) Sie stellen eine generelle Frage nach der Gerechtigkeit des Krieges – gerecht im Sinne von moralisch gerechtfertigt, nicht im modernen Sinne von Fairness zwischen Individuen. Die Antwort darauf ist kompliziert und hat mehrere Ebenen. Dass sich Polen und Französinnen gegen die Nazis wehrten, war selbst für die meisten Pazifisten akzeptabel. Aber nur weil ein Krieg gerechtfertigt ist, heisst dies nicht, dass es alle Handlungen in diesem Krieg automatisch auch sind. Im Rückblick muss man sagen, dass die Entwicklung der Atombombe nicht zu rechtfertigen war. Es ging darum, den Nazis zuvorzukommen, und die waren weit von der Entwicklung ihrer eigenen entfernt. Die Bombe diente schliesslich dazu, die Kommunisten in Schach zu halten.

Wussten das die beteiligten Forscher?

Als Albert Einstein, der Pazifist war, 1939 in einem Brief den US-Präsidenten Franklin Roosevelt zur Entwicklung der Atombombe aufforderte, wusste er dies natürlich nicht. Aber ob Robert Oppenheimer, der wissenschaftliche Leiter des Mannhattan-Projekts, das wusste und ab wann genau, wird kontrovers diskutiert. Dies zeigt auch: Moralische Beurteilungen sind von komplexen historischen Rekonstruktionen abhängig, die selbst unsicher sind.

Springen wir zu heute: Ist es moralisch gerechtfertigt, dass die Ukraine militärisch gegen die russische Invasion kämpft?

Der Ukraine-Krieg hat vielen Menschen gezeigt, dass sie keine absoluten Pazifistinnen sind. Es gibt aber auch eine Version des Pazifismus, der Kriege für prinzipiell falsch hält, allerdings Ausnahmen kennt. Zentral zum Beispiel die militärische Verteidigung gegen Angriffe, die auf die Vernichtung der Angegriffenen zielen. Aber prinzipielle Pazifisten halten Kriege zur Verteidigung von Territorien oder politischer Souveränität grundsätzlich nicht für moralisch akzeptabel. Für eine prinzipielle Pazifistin ist entscheidend, ob Russland einen genozidalen Krieg führt oder ob es nur um Territorium geht. Dann wäre militärischer Widerstand nicht gerechtfertigt, sondern lediglich Formen zivilen Widerstandes.

Wer nicht Pazifist ist, ist dagegen automatisch Kriegstreiber?

Nein, es gibt auch alternative Positionen, allen voran die des gerechten Krieges. Gemäss dieser ist ein Krieg gerechtfertigt, wenn gewisse Bedingungen erfüllt sind: Zentral braucht es einen gerechten Grund, und der ist wesentlich gegeben durch die Verteidigung von Territorium und politischer Souveränität von Gemeinschaften sowie die Verteidigung grundlegender Menschenrechte. Denken Sie an Ruanda, wo es mit wenig militärischen Mitteln möglich gewesen wäre, einen furchtbaren Genozid zu verhindern. Es gibt noch einige Kriterien mehr. Ganz wichtig ist weiterhin, dass das Ziel des Kriegs der Frieden sein muss. Da sind sich prinzipielle Pazifistinnen und Befürworter des gerechten Krieges einig.

Welches ist Ihre Position?

Es ist nicht die Aufgabe einer Philosophin, bei diesen schwierigen Fragen anderen eine Meinung vorzugeben. Mir ist es wichtig, die Nuancen aufzuzeigen.

Sie haben sicher eine Haltung zur Ukraine.

Ja, natürlich. Nach meinem politischen Überblick ist es gerechtfertigt, dass sich die Ukrainerinnen militärisch verteidigen, auch ohne eine Bedrohung durch einen Vernichtungskrieg. Gleichzeitig ist es zentral, den Fokus auf die Entwicklung und den Schutz der Institutionen zu lenken, die Kriege verhindern können – insbesondere multilaterale und internationale Organisationen.

Und auf diese Position kommen Sie aus philosophischen Überlegungen?

Wir Philosophinnen setzen uns seit Jahrtausenden mit der Frage nach gerechten Kriegen auseinander. Ein Ansatz geht theoriegeleitet vor und überlegt etwa: Kann man eine Position auf den unveräusserlichen Rechten von Menschen oder Staaten aufbauen? Oder auf einer Theorie, die auf die Konsequenzen von Handlungen fokussiert? Keine der beiden führt zu einer widerspruchsfreien Position. Einen Ausweg sucht die angewandte Ethik, die auf konkreten Urteilen von Bürgern basiert und aus der Medizin kommt. Sie arbeitet mit Fallbeispielen, um zu wohl überlegten Urteilen zu kommen. Ich arbeite zu Rechtfertigungsversuchen des gerechten Krieges.

Der Schweizerische Nationalfonds fokussiert auf zivile Forschung. Die Europäische Kommission hingegen sieht sich verantwortlich, die Wehrfähigkeit zu fördern. Was ist richtig?

Wenn es moralisch gerechtfertigte Verteidigungskriege geben kann, ist es grundsätzlich auch richtig, zu militärischen Mitteln zu forschen. Insbesondere in Zeiten, in denen von einer imperfekten internationalen Ordnung ausgegangen werden muss, in der Angriffskriege nicht wirksam verhindert werden können. Das heisst aber nicht automatisch, dass Universitäten das übernehmen sollen. Das können andere Institutionen tun. Und selbst wenn, ist damit nicht geklärt, welche Forschung genau an Universitäten erfolgen sollte.

Wer sollte denn Rüstungsforschung durchführen dürfen?

Der Auftrag von Universitäten ist es, der Gesellschaft zu dienen, und dafür erhalten sie grösstmögliche Forschungsfreiheit. Wenn es um Kriegsforschung geht, sind die Grenzen der Forschungsfreiheit aber umstritten. Wiederum können selbst prinzipielle Pazifistinnen gegen eine allzu eng ausgelegte Zivilklausel sein. So ist zum Beispiel Katastrophenschutz allgemein anerkannt, auch wenn er in einem gewissen Sinn auch Kriegsforschung ist. Aus meiner Sicht ist der wichtigste Punkt: Universitäten können und müssen sich darüber verständigen, welche Forschung, auch ambivalente Forschung, sie durchführen wollen.

Allerdings können auch zivile Forschungsresultate für militärische Zwecke verwendet werden.

Ja, es handelt sich um Dual-Use-Forschung. Selbst Grundlagenforschung kann unabsehbare Konsequenzen haben. Wer hätte gedacht, dass Spielzeugdrohnen im Ukraine-Krieg plötzlich dazu verwendet werden, Granaten in Schützengräben zu werfen? Deswegen liesse sich im Extremfall argumentieren, dass eine Zivilklausel sämtliche Forschung verunmöglicht. Allerdings: Auch wenn vieles grau ist, ist trotzdem auch einiges weiss und schwarz. Trotz grosser Unsicherheiten und Ambivalenzen gibt es moralisch akzeptable und moralisch verwerfliche Forschung. Welche das jeweils ist, ist aber sehr kontrovers. Es gibt keine absolute Haltung, die unproblematische Ergebnisse generiert. Auch eine Zivilklausel muss immer wieder daraufhin überprüft werden, was genau erlaubt und was verboten sein soll.

Wo könnten die Diskussionen über Militärforschung am besten stattfinden?

Nach meiner Erfahrung machen sich die Forschenden viele Gedanken, wissen aber nicht, wohin damit. Einzelne sind mit solch komplexen ethischen Fragen überfordert. Aber in der Vergangenheit haben wir es als Gesellschaft geschafft, Stellen aufzubauen, um ethische Fragen zu klären. Für die Forschung mit Tieren gibt es Kommissionen für die interdisziplinäre Diskussion über die Grenzen. Wir sind an der ETH Zürich gerade dabei, ein Ethikzentrum aufzubauen. Da werden wir uns auch mit Militärforschung befassen. Insgesamt gibt es zu wenig Theorie dazu – und die braucht es, damit die Gesellschaft komplexer darüber nachdenken kann. Dafür ist das Thema Ihres Magazins schon mal ein erster Baustein.

Der Artikel

Autor: Florian Fisch

Foto: Salvatore Vinci

Sponsoring