Eine Chefin hat noch immer Seltenheitswert

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LEADER digital – Das Selbstbild der Schweiz als liberaler Wirtschaftsstandort ist trügerisch: Der perfektionistische Regulierungseifer bremst die Wettbewerbsfähigkeit und ist insbesondere für KMU eine erhebliche Belastung.

Gerne wird dieser Tage über den Sinn von Genderschreibweisen gestritten, was immerhin einiges entspannender ist, als sich verbal mit Corona-Querdenkern zu prügeln. Die Fronten bleiben freilich auch hier verhärtet. ManagerIn, Chef:in, Teamleiter_in – wenn Nachrichtensprecher (und -innen) tapfer Wortabstände intonieren, bleibt manch gestandenem Sprachpuristen die Luft weg.

Chef, männlich genügt

Bloss: Wenn über Führungspositionen in der hiesigen Wirtschaft gesprochen wird, ist gut gemeinte Symbolik oft überflüssig. Chef, männlich, genügt, auch im Plural. Chefs haben in der Schweiz das Sagen, Chefinnen sind auch im Jahr 2021 selten. 83 Prozent des obersten Kaders sind männlich, weist der gerade erschienene Gender Intelligence Report für 2021 aus.

Für diese jährliche Studie sammelt das Competence Centre for Diversity & Inclusion der HSG zusammen mit der Organisation Advance Zahlen und Fakten zur Geschlechtervielfalt in Schweizer Unternehmen. Advance ist ein Netzwerk von mehr als 120 Schweizer Firmen, die sich zum Ziel gesetzt haben, den Frauenanteil im Management zu steigern.

In der Studie wurden HR-Daten von 90 Firmen ausgewertet, untersucht werden Unternehmen ab einer Grösse von 100 Angestellten. Für die aktuelle Ausgabe konnten Datensätze von 320 000 Angestellten ausgewertet werden. Damit ist die Studie noch nicht ganz repräsentativ, weil die kleinen Unternehmen nicht integriert sind, die Situation in der Schweiz wird aber schon ziemlich gut abgebildet, wie Prof. Dr. Gudrun Sander, Direktorin des Research Institute for International Management und des Competence Centre for Diversity & Inclusion an der HSG und Mitautorin der Studie, erklärt.

Männer im Vorteil

Die Studie drückt in präzisen Zahlen aus, was in vielen Unternehmen auch von blossem Auge zu erkennen ist: je höher die Hierarchiestufe, desto tiefer der Frauenanteil. Ausgehend von einer ausgewogenen Geschlechterverteilung im Nicht-Kader schrumpft der Frauenanteil schon im untersten Kader auf 40 Prozent, im unteren Kader sind es noch 31 Prozent, im mittleren Kader 23 Prozent, und im oberen und obersten Kader finden sich gerade noch 17 Prozent Frauen.

«Unter gleichen Voraussetzungen steht die Chance, ins Management befördert zu werden, also vier zu eins für die Männer», erklärt Gudrun Sander das Ergebnis. Der Reflex von Männern, die glauben, aufgrund vorsichtiger Frauenförderungs-Massnahmen weniger Chancen zu haben, stimme also definitiv nicht.

Blickt man in Werkhallen der Industrie, auf Baustellen oder in die Büros von technologie-getriebenen Unternehmen, dann ist das in der Studie zugrunde gelegte Geschlechterverhältnis von 50 zu 50 Theorie. Hier dominieren auch bei Mitarbeitern ohne Führungsfunktion klar die Männer. Schlechte Voraussetzungen also, um ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis im Management zu fordern.

Das tut Gudrun Sander auch nicht. «Aber wenn es für Führungsfunktionen tatsächlich keine Rolle spielen würde, welches Geschlecht jemand hat, dann sollte das Geschlechterverhältnis auf allen Führungsstufen zumindest proportional gleich sein», hält sie fest. Wenn der Frauenanteil in einem technisch geprägten Konzern nur 16 Prozent betrage, dann müsste das Ziel sein, immerhin 16 Prozent Frauen in der Führung zu haben – vorausgesetzt, die Frauen verteilten sich gleichmässig über die verschiedenen Abteilungen, hätten ähnliche Bildungshintergründe und die Kompetenzen, die es für die jeweilige Hierarchie-Ebene brauche.

Diese Bedingung müsse selbstverständlich erfüllt sein, wovon nicht immer ausgegangen werden könne: Es könne vorkommen, dass eine Firma zwar grundsätzlich gleich viele Frauen und Männer rekrutiere, aber mehr Frauen mit schlechteren Qualifikationen anstelle. «Dann kommen die schon für die erste Beförderung nicht in Betracht, die ‹Pipeline-Qualität› stimmt dann einfach nicht.»

«Spielregeln ändern»

Die Gründe, warum Frauen nicht oben ankommen, sind vielfältig. Ein wesentlicher Aspekt, der im Gender Intelligence Report genannt wird: «Unser System ist noch immer auf traditionelle Geschlechterrollen mit einem – meist männlichen – Vollzeitverdiener ausgelegt. Gängige Karrieremodelle orientieren sich an diesem ‹idealen› Mitarbeiter. Daher schaffen es in der Regel nur sie bis ganz nach oben.»

Durch die gesellschaftliche Rollenerwartung, dass Frauen die Familien- und Betreuungsarbeit zur Hauptsache übernehmen, würden Frauen eine zusätzliche Bürde tragen. «Strukturen, Prozesse und Kultur funktionieren wie ein grosses Sieb, das Geschlechter-Vielfalt und speziell weiblichen Nachwuchs herausfiltert. Dies gilt umso mehr für die höheren Hierarchiestufen.»

Aus dieser Erkenntnis wird für die Studienautorinnen auch klar, wo der Hebel anzusetzen ist: «Wir sollten aufhören zu versuchen, die Frauen in das aktuelle System einzupassen», heisst es im Gender Intelligence Report, «um echten Fortschritt zu erzielen, gilt es, die Spielregeln zu ändern und für alle Beteiligten gleichwertig zu gestalten.»

Breiter rekrutieren

Möglichkeiten, um die Spielregeln etwas anzupassen, bieten sich im Rekrutierungsprozess. Gudrun Sander erwähnt den CEO eines Weltkonzerns, der bedauerte, dass sein Unternehmen viel zu eng rekrutiere und nur Maschinenbauingenieure von wenigen Hochschulen einstelle. «Wenn strikt nur Absolventen aus dem Maschinenbau, wo es einen extremen Männerüberhang gibt, angesprochen werden, dann findet das Unternehmen kaum geeignete Frauen», sagt Gudrun Sander. «Dabei könnten wir viel breiter rekrutieren – solange es ein naturwissenschaftliches Studium ist, können wir die Leute an ihre Positionen heranführen.»

Es gebe durchaus auch Fächer aus dem MINT-Kanon (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik) mit anderen Geschlechterverhältnissen, Biologie oder Lebensmittelwissenschaften etwa. Deshalb liege ein Hebel darin, sich stets zu fragen, wie eng oder wie breit eine bestimmte Stelle ausgeschrieben werden soll.

Bei der im deutschsprachigen Raum häufigen Tendenz, Beförderungen aufgrund der Fachexpertise vorzunehmen, sieht Sander einen weiteren Ansatzpunkt. «Heute wird der beste Verkäufer Verkaufschef, die beste Chirurgin wird Chefärztin – das sind aber nicht zwingend die besten Führungsleute. Davon müssen wir uns verabschieden.»

Vielmehr müsse man sich fragen, was es für die jeweilige Führungsfunktion wirklich brauche. «Muss die beste Expertin in Statistik Chefin sein, oder hat sie für das Fachliche ihr Team – Leute, die das viel besser können?», fragt Sander. Denn wenn jemand zu über 50 Prozent Führungstätigkeiten ausübe, komme man gar nicht dazu, die Expertise in einem bestimmten Fach zu vertiefen. Unabhängig von der Geschlechterfrage plädiert sie deshalb dafür, Führungskompetenzen höher zu gewichten, «da, wo wir Mangelberufe haben, sowieso»

Unbewusste Voreingenommenheit

Breit rekrutieren wäre also ein Gebot der Stunde, doch oft passiert noch das genaue Gegenteil: «Unbewusst ziehen wir Menschen nach, die uns ähnlich sind» erklärt Gudrun Sander und verweist auf den Mini-Me-Effekt. Wer das nicht reflektiere, bekomme mit der Zeit immer homogenere Teams mit allen Risiken, die daraus resultieren. «Da gibt es kaum Kritik und Widerstand, nichts wird infrage gestellt, weil alle ähnlich sozialisiert sind und gleich denken.»

Solches zu verhindern, wie überhaupt strategisch vorausschauend zu rekrutieren, sei eine klare Führungsaufgabe. «Das kann man nicht ans HR oder einen Diversity-Beauftragten wegdelegieren», betont Sander, die dazu auch Trainings mit Verwaltungsräten und Geschäftsleitungen macht. Unconscious Bias ist ein Thema, dass sie dort anspricht, die unbewusste Voreingenommenheit, die dazu führt, dass jemand die gleiche Leistung von unterschiedlichen Personen einmal besser und einmal schlechter beurteilt.

Ein einfacher Trick, um solche stereotypen Denkfehler zu vermeiden: Lebensläufe und Bewerbungen werden anonymisiert. «Dort, wo es wenig Sensibilität, wenig Bewusstsein für das Thema Diversity gibt, funktioniert das», sagt Gudrun Sander. Und das nicht nur in Bezug auf die Geschlechter, sondern auch bei ethnischer Diversität – Personen mit ausländisch klingenden Namen, mit Endungen auf -ic etwa, hätten plötzlich bessere Chancen.

Wenn hingegen ein Unternehmen für solche Fragen schon sensibilisiert sei und bewusst mehr Frauen in Führungspositionen wolle, bringe eine Anonymisierung nicht viel: «Ich muss ja wissen, ob das eine Frau ist oder nicht.» Das bedeute nicht, dass ein Unternehmen, das Frauen sucht, nicht die besten Bewerbenden wolle, aber sie hätten eine andere Herangehensweise. Für die Erstauswahl empfiehlt Sander, je einen Stapel Frauen- und Männer-Bewerbungen zu machen und aus jedem Stapel die drei besten Bewerbungen herauszusuchen. «Erst dann gehe ich in einen Vergleich.»

Traditionelle Bilder im Kopf

Die unbewusste Voreingenommenheit bei der Beurteilung von Kandidaten rührt unter anderem von traditionellen Bildern im Kopf. «Gerade für Top-Führungspositionen, wo wir so wenige Frauen haben, fällt es uns schwer, Bewerberinnen korrekt und fair einzuschätzen», sagt Gudrun Sander. Dazu kommt ein weiteres Phänomen: Frauen neigen dazu, in Bewerbungen ihr Licht unter den Scheffel zu stellen. «Solche Effekte gibt es, auch aufgrund von kulturellen Erwartungen an Geschlechterrollen. Wenn ich mich in der Schweiz hinstelle und sage: Ich bin die Grösste, ich bin die Schönste! … dann habe ich schon verloren», erklärt Sander. «Frauen findet man unbewusst sympathischer, wenn sie ein bisschen bescheiden sind.»

Die Sichtbarkeit von Frauen in Top-Jobs ist nicht nur für die Rekrutierenden, sondern vor allem auch für die potenziellen Bewerberinnen wichtig. Untersuchungen würden zeigen, dass bereits Kindergartenkinder ganz klare Vorstellungen hätten, welche Jobs Frauen und welche Jobs Männer machen. «Was sie um sich herum sehen, nehmen sie als normal wahr. Deshalb ist es extrem wichtig, dass Frauen möglichst viele verschiedene Vorbilder sehen können.»

Gudrun Sander fragt ihre Master-Studentinnen und -Studenten am Schluss ihres Kurses jeweils, wie sie in zehn, 15 Jahren leben wollen. Da sei es schon passiert, dass von 24 Frauen 22 geantwortet hätten, Teilzeit zu arbeiten oder ganz aufzuhören, wenn sie Kinder bekommen. «Gerade einmal zwei Frauen haben gesagt ‹das organisieren wir dann schon› – beide haben Mütter, die beachtliche Karrieren gemacht haben. Die haben gesehen, dass das geht.»

Anders ausschreiben

Ein weitverbreitetes Klischee besagt, dass Frauen und Männer sehr unterschiedlich auf Stellenausschreibungen reagieren. Wenn es für einen Job zehn Anforderungen gibt, denkt sich ein Mann: ‹Toll, fünf Punkte erfülle ich, das versuche ich mal›, während eine Frau denkt, ‹ich erfülle nur acht Anforderungen, das lasse ich bleiben›.

Das ist offenbar mehr als Klischee: «Das ist wirklich so, das ist durch die Forschung erhärtet», sagt Gudrun Sander. Sie empfiehlt deshalb den Rekrutierenden, ganz auf die üblichen Bullet-Point-Listen zu verzichten, stattdessen die Aufgabe und die Situation zu beschreiben. Wichtig sei auch, auf «heroische» Formulierungen wie «high performing» und «kompetitiv» zu verzichten. So fühlten sich mehr Frauen angesprochen.

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