Eine Begegnung mit Maria João Pires

Fokus

NZZ am Sonntag – Anna Kardos

Sie gehört zu den grössten Pianistinnen unserer Zeit, hat sechs Kinder grossgezogen und die Gelassenheit eines Zen-Mönchs. Eine Begegnung mit Maria João Pires, der sanften Eigenwilligen, die schon immer genau das getan hat, was sie für nötig hielt.

Maria João Pires ist die einzige Pianistin, bei der die Musik gleichzeitig vorwärtströmt und sich dabei zurückzulehnen scheint.

Mit fünfzig wurde Maria João Pires zum fünften Mal Mutter. Im Spital, wo gerade ihre Tochter einen Sohn geboren hatte, lag neben diesem auf der Neonatologie ein drei Tage alter Junge. «Er war zur Adoption freigegeben», sagt die Pianistin. «Ich sass also jeden Tag bei meinem Enkel und bei diesem kleinen Jungen. Und schliesslich fragte ich meine vier Töchter, ob sie einverstanden wären, wenn ich ihn adoptieren würde. So war er nur drei Tage alleine gewesen.»

Maria João Pires ist eine der grössten Pianistinnen unserer Zeit, und sie hat schon immer getan, was sie meinte, tun zu müssen, ohne darüber nachzudenken, was die Welt davon hielt. Sei das bei Verhandlungen mit Plattenlabels («Ich habe Verträge gekündigt, weil ich die Ideen der Labels inakzeptabel fand»), sei es im Dienst von Schubert, Mozart und Chopin («ich sehe mich lediglich als eine Übersetzerin zwischen Komponist und Publikum») oder als vierfache alleinerziehende Mutter neben einer internationalen Solistenkarriere («einen Bürojob stelle ich mir einiges anstrengender vor»).

Von all dem erzählt sie am Gstaad Menuhin Festival während einer Probenpause. Die Sonne brennt vom Himmel, die ihr angebotene Sonnencrème lehnt sie dankend ab: «Ich habe mich mein ganzes Leben nie mit Sonnencrème eingecremt.» War ja irgendwie klar.

Das Klavier umerziehen

Nur einmal, als Dreijährige, konnte sich die Hochbegabte nicht durchsetzen. Damals sei das Klavier ihr einziges Spielzeug gewesen, allerdings ein Spielzeug, das sie nicht überzeugte. «Ich kann mich daran erinnern, wie ich stundenlang immer wieder denselben Ton gespielt habe. Weil ich versuchte, den perkussiven Anschlag dieses Instruments zu verändern.» Das Unterfangen scheiterte. Das Klavier blieb Klavier.

Was sich hingegen veränderte, war sie selbst. «Wenn die Musik lebendig werden soll, geht das immer durch den Körper, wie bei einem Tänzer, der seinen Körper auch sehr gut kennt und genau weiss, welche kleinen Gesten, welche Spannungen ihm die Möglichkeit geben zu schweben.»

Heute ist Maria João Pires 77 Jahre alt und vielleicht die einzige Pianistin, bei der die Musik gleichzeitig vorwärtsströmt und sich dabei zurückzulehnen scheint. Im langsamen Satz «Romance» von Chopins erstem Klavierkonzert, das soeben neu herausgegeben wurde, lässt sie die Melodie über dem Orchester schweben, wie der Wind ein Herbstblatt, das sich ab und zu beruhigt und fast am Boden ankommt, um es sich gerade noch anders zu überlegen und von neuem durch die Luft zu wirbeln. Und in Beethovens letzter Klaviersonate op. 111 c-Moll, einem der tollkühnsten Werke der Musikgeschichte, wird am Menuhin Festival unter ihren Händen der langsame Adagio-Satz zu Klang gewordener Dankbarkeit.

Inniger ist Musik selten. Alles fliesst, sogar die Taktstriche lösen sich auf, werden inexistent. «Natürlich», sagt die Pianistin. «Weil Musiknotation ein Medium auf Papier ist. Von dort aus müssen wir zur Musik zurückgehen, durch das Papier hindurch, durch das Metrum, die Takte, ohne aber bei diesen stehenzubleiben.» Wie erbarmungslos das unaufhaltsam voranschreitende Metrum der klassischen Musik manchmal sein kann, muss man mit Pires nicht diskutieren.

Der ganze Artikel auf NZZ am Sonntag

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