Ehrenamt in der Krise

Fokus

Aargauer Zeitung –

Direktorin des Schweizerischen Turnverbands fordert: «Wir müssen dem Ehrenamt in der Wirtschaft mehr Stellenwert geben»

Das Aargauer Kantonalturnfest in Wettingen erwartet eine Rekordbeteiligung. Trotz vielem, das Freude macht, ist im Turnsport nicht alles rosig. Ein Gespräch mit Béatrice Wertli über Freiwilligenarbeit und warum der Turnverband reich wäre, wenn es eine Ausbildungsentschädigung gäbe.

Viele kennen sie, wenn Béatrice Wertli am Aargauer Kantonalturnfest in Wettingen über das Gelände läuft. Ein Schwatz hier, ein kurzer Austausch da. Und während sie sich unterhält, schlüpft ein Kleinkind zwischen ihren Beinen durch und lacht. «An einem Tag wie heute spüre ich, was für einen wunderbaren Job ich habe», sagt die Direktorin des Schweizerischen Turnverbands.

Was macht die Faszination eines Turnfests für Sie aus?

Béatrice Wertli: Die Freude und das Engagement, die ich spüre. Es zeigt mir auf der einen Seite die Breite, die der Schweizerische Turnverband hat. Gleichzeitig passiert alles mit einer Selbstverständlichkeit, die bemerkenswert ist. Es engagieren sich so viele Menschen ehrenamtlich für das Fest und das Turnen, dass wir das fast mit einer zu grossen Bescheidenheit als normal erachten.

Sie haben in Wettingen den Jugendwettkämpfen zugeschaut. Was hat Sie ganz besonders gefreut?

Mich fasziniert die Zugänglichkeit. Wir erleben an einem Turnfest Sport für alle. Das gehört zu unseren Werten. Ich habe einigen Mädchen und Buben beim Geräteturnen zugeschaut. Dafür haben sie ganz lange trainiert. Dass wir, als Verband, mit dem, was wir machen, den Kindern etwas geben können, das so viel wert ist, freut mich enorm. Es ist Lebensschule und lebenswichtig.

Rund um die Jahrtausendwende wurde dem Vereinssport eine schwierige Zukunft prognostiziert, weil die individuellen Angebote, wie beispielsweise Fitnesscenter, an Bedeutung ge­wannen. Die Zahlen zeigen, dass es nicht so schlimm kam. Wie erklären Sie sich das?

Die Coronapandemie hat auch bei uns Spuren hinterlassen. Die Menschen blieben daheim und wurden bequem. 3,5 Prozent Rückgang tönt nicht nach viel. Bei unserer Grösse sind das aber sehr viele Menschen. Die Herausforderung wird es sein, diese Leute wieder zu begeistern. Und wir wollen auch neue Mitglieder gewinnen. Ich bin überzeugt, dass wir ein Produkt haben, das konkurrenzfähig ist. Wir müssen aber lernen, es noch besser zu verkaufen.

Von den Coronafolgen einmal abgesehen: Eine Vereinskrise gab es nicht. Warum bleiben die Menschen den Turnvereinen treu?

Die Schweiz hat 2172 Gemeinden und 2900 Turnvereine. Das ist ein starkes Fundament und zeigt, wie stark die Verankerung ist. Die Fitnesscenter sind in den grossen urbanen Städten vielleicht eine Konkurrenz. Auf dem Land gibt es in manchen Dörfern nur einen Sportverein. Und das ist der Turnverein. Sorgen bereitet uns anderes.

Erzählen Sie.

Das Ehrenamt kommt immer mehr unter Druck. Die Wirtschafts- und Arbeitswelt fordert viel. Man schafft es noch knapp, alles mit der Familie zu vereinbaren. Und dann sollte noch ein ehrenamtliches Engagement dazukommen?

Es gibt Experten, die sagen, grössere Vereine müssten Teilzeitstellen schaffen und kleinere Entschädigungen leisten. Nur wer soll das bezahlen? Wird der Vereinsbeitrag einfach verdoppelt?

Das kann nicht die Lösung sein. Aber die Debatte ist aktuell. Wir haben eine Tendenz zu einer Professionalisierung. Nehmen wir die Bereiche Gesundheit und Ethik. Oder auch Nachhaltigkeit. Das sind steigende, und zwar absolut zu Recht steigende Anforderungen, die das Ehrenamt an seine Grenzen bringen können. Gleichzeitig habe ich das Gefühl, wenn das Verständnis in der Arbeitswelt für das Ehrenamt höher wäre, dann wäre es auch nicht so ein Problem wie jetzt.

Können Sie uns ein Beispiel nennen?

Als Arbeitnehmer hätte man für Jugend+Sport-Kurse Anrecht auf eine zusätzliche Woche Ferien. Viele besuchen zwar die Kurse, ziehen die zusätzliche Woche aber nicht ein und brauchen die Ferien, die ihnen so oder so zustehen würden.

Wie ändert man das?

Wir müssen dem Ehrenamt in der Wirtschaft mehr Stellenwert geben. Heute schreiben gewisse Leute ihre Marathonzeit in den Lebenslauf, um zu zeigen, dass sie das geschafft haben. Aber das Ehrenamt erwähnt kaum jemand. Wir müssen schauen, dass es die Relevanz bekommt, die es verdient. Schliesslich lernt man in der Vereinsarbeit genau jene Dinge, die auch im Arbeitsleben von grosser Bedeutung sind.

Also doch keine Bezahlung?

In gewissen Situationen kann eine bezahlte Stelle helfen. Weil sie für Entlastung im ehrenamtlichen Bereich sorgen könnte und die Arbeit wieder attraktiver machen würde. Man muss aber sagen: Die wenigsten hören auf, weil sie für ihr Engagement nicht bezahlt werden, sondern weil es ihnen zu viel wird. Hier würde eine bezahlte Stelle das Ehrenamt stärken.

Und wer bezahlt, wenn nicht die Vereinsmitglieder?

Die gesellschaftliche Relevanz des Turnens sollte für Sponsoren eigentlich interessant sein. Und noch etwas: Es sollte doch für einen Sport, den man sogar als systemrelevant bezeichnen könnte, Mittel geben, um ihn zu stärken.

Wie schafft man es, das Verständnis fürs Ehrenamt in der Wirtschaft zu stärken?

Ich suche das Gespräch mit den Verantwortlichen und zeige auf, wie viel sie bewirken könnten. Zudem stärken wird unsere Mitglieder, dass sie das Ehrenamt im Lebenslauf herausheben. Wir haben zusammen mit Swiss Olympic für Kurse nun auch die entsprechenden Diplome, die belegen, was jemand kann, eingeführt.

Wie kann der Schweizerische Turnverband sonst helfen?

Wir müssen unsere Angebot in der Basis bekannter machen. Wir bieten Unterstützung, wenn ein Verein Mühe hat, seine Ämter zu besetzen. Wir zeigen Wege auf, wie es mit weniger Leuten möglich sein könnte. Doch was hilft es, wenn sich ein Verein auflöst und es dann heisst, hätten wir das doch nur etwas früher gewusst?

Der Turnverein gilt für Kinder als perfekte Basis für alles im Sport. Stört es Sie, wenn manche später andernorts Erfolg haben?

(lacht) Ich sage immer, wenn wir für alle, die später irgendwo Erfolg haben, eine Ausbildungsentschädigung erhielten, dann müssten wir keine Sponsoren suchen. Aber im Ernst: Ich habe Freude an allen, die dem Sport irgendwie treu blieben.

Interview von Martin Probst

Foto von Valentin Hehli

 

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