Die Schweizerin in der künstlerischen Résistance – auch Albert Camus wollte Henriette Grindat

Fokus

Aargauer Zeitung – Daniele Muscionico

Die Lausannerin Henriette Grindat (1923–1986) war eine herausragende Fotografin des 20. Jahrhunderts. Albert Camus zählte zu ihren Bewunderern. Zum 100. Geburtstag zeigt die Fotostiftung Schweiz ihr vergessenes Gemeinschaftswerk mit dem Schriftsteller.

Er ist der anerkannte Pariser Starautor und Frauenheld, Albert Camus. Sie ist die junge Waadtländer Fotografin Henriette Grindat. Eine Poetin der Bilder, und in der kurzen Schweizer Fotogeschichte eine der raren Frauen, die auf ihre Selbstständigkeit pochen, ein Ausnahmetalent. Henriette Grindat führt Ende der 1940er-Jahre in Lausanne ein eigenes Fotoatelier. Sie ist 25 Jahre alt und steht auf der Schwelle einer internationalen Karriere. Viele massgebende Magazine in der Schweiz, in Europa und Amerika publizieren ihre Bilder.

 

In Paris trifft sie den Künstler Man Ray, sie ist auf Du und Du mit den – vornehmlich männlichen – Surrealisten. Hier wie dort legt sie frühe Spuren einer emanzipierten Frau. Auch Albert Camus hat sie in Paris kennen gelernt, sie ist zehn Jahre jünger als er, er beginnt einen Briefwechsel. In seinen Schreiben nennt er sie «chère Mademoiselle».

Er möchte ihre radikalen Bilder-Haikus

Albert Camus ist unsterblich geworden. Die Leistungen von Henriette Grindat (1923–1986) aber wurden vergessen. Dass ihr Werk Zeit ihres Lebens insbesondere in Paris und dort in Kreise der Literatinnen und Künstler auf Begeisterung stiess, ist leicht zu erklären: Grindat fasste als fotografierendes Subjekt all das in ein Bild, wofür der Existenzialismus und der Surrealismus zahllose Worte gebraucht. Ihre verdichteten Aufnahmen sind bildhafte Haiku und zugleich Metaphern einer Stimmung, einer Ahnung und einer Zeit der harschen Konflikte.

Albert Camus also schreibt der Talentierten Briefe. Denn er und der mit den beiden befreundete Schriftstellerkollege René Char (1907–1988) haben mit der Schweizerin etwas vor. Sie laden sie zu einer künstlerischen Kooperation ein. Beginnen auch deshalb Camus’ Briefe an die Fotografin stets mit erlesener Höflichkeit? «Chère Mademoiselle, voulez-vous avoir la gentillesse de …». Hätten Sie die Freundlichkeit?

Und gewiss, die Schweizerin ist freundlich, richtet Grüsse aus an diesen und jenen, und sie erledigt für ihn das eine und das andere. Vor allem aber schafft sie Bilder, die ganz im poetischen Sinn von Camus und von Char sind. Sie porträtiert für sie eine Landschaft, die die Freunde ihre Heimat nennen, die Region Vaucluse in der Provence. Char stammt von dort, aus einem Städtchen in der Nähe von Avignon; Camus fühlt sich an Algerien erinnert und mietet sich in der Nähe bisweilen ein Landhaus.

Und so kommt es in den späten 1940er- und frühen 1950er-Jahren zu einem ungewöhnlichen Gemeinschaftswerk von zwei etablierten Männern und einer jungen Frau. Sie hält in der französischen Landschaft Makrobeobachtungen fest, die Herren deuten den Subtext aus. Das Ergebnis ist ein aussergewöhnliches künstlerischen Werk, ein Korpus von dreissig Fotos von Grindat und von weiterführenden Texten, die Camus geschrieben hat. René Char steuert das Vorwort bei. Das Werk trägt den Titel «La Postérité du soleil», die Nachkommen der Sonne. Grindat liefert in ihren Bildern Vorlagen für Camus, die ihn zu philosophischen Kurztrakten inspirieren.

Eine verspätete Erinnerung, ein spätes Geschenk an die Nachwelt

Zu Anlass des 100. Geburtstags von Henriette Grindat sind die Blätter und Bilder in Winterthur öffentlich ausgestellt. Camus’ Originaltexte, die sie rahmen, wurden dafür erstmals umfassend ins Deutsche übersetzt. Eingereiht in das Wechselspiel des Briefverkehrs, Handschriften und Typoskripte der beiden ist diese grosse Kleinigkeit eine Entdeckung. Die Fotostiftung Schweiz, die Grindats Nachlass beherbergt, hat sich die wertvolle Arbeit gemacht, und das Geschenk an Grindat ist mindestens so sehr eines an ihre Nachwelt.

Als Reverenz an die Fotografin steht es solitär. Denn erst mit dem Tod von Camus 1960 begann sich die Kunstwelt für das bisher unveröffentlichte Portfolio zu interessieren. Und wohl nur deshalb, weil an Unveröffentlichtem von Camus wenig zu entdecken war. 1965 fand sich in Genf ein Verlag, der die Publikation der Blätter übernahm. Als Buch erschien «La Postérité du soleil» noch immer nicht. Henriette Grindat musste weitere zwanzig Jahre warten. 1986 findet sich schliesslich ein Verlag. Im selben Jahr nimmt sie sich das Leben.

Der Artikel von Daniele Muscionico

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