Der Mann an der Stricknadel – alles andere ist nicht normal

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AZ MedienKatja Fischer De Santi – Nicht erst seit Olympiasieger Tom Daley öffentlich strickt, ist klar: Lismen ist weder männlich noch weiblich, sondern einfach cool.

Keine Frage, dieser Mann ist ein Meister seines Fachs. Im Synchronspringen vom 10-Meter-Turm hat er, Tom Daley, soeben olympisches Gold gewonnen. Weltberühmt wird er aber, gerade weil er strickt: öffentlich, stolz und nicht erst seit gestern.

Er strickt seit dem Lockdown wie ein Meister seines Fachs.
Der strickende Mann, er sorgt auch im Jahr 2021 noch für fröhliche Aufregung.

Zumindest, wenn dieser strickende Mann ein 27-jähriger muskelbepackter Spitzensportler ist. Einer, der sich nicht zu schade ist, für seine Goldmedaille ein eigenes Täschchen zu stricken, «damit sie nicht zerkratzt», und es stolz in die Videokamera zu halten. Stricken, so gibt er zu Protokoll, sei für ihn «eine Sache, die mich während der Spiele bei Verstand gehalten hat und mir hilft zu entspannen».

Entspannender als Fischen und Yoga
Recht hat er: Lässt man die Nadeln klappern, senkt man seinen Herzschlag bis auf 65 Schläge pro Minute. Herausgefunden hat dies die weltweit grösste Do-it-yourself-Community «Dys». Stricken ist demnach sogar entspannender als Fischen und Yoga. Zumindest, wenn man es so intensiv betreibt wie Tom Daley. Dieser präsentiert seine Handarbeitssachen seit September 2020 auf einem eigenen Instagram-Kanal: madewithlovebytomdaley.

Dort posiert der Vater eines kleinen Sohnes und Ehemann des Filmemacher Dustin Lance Black in bunten, gestrickten Pullovern und Decken. Angefangen mit Stricken habe er im ersten Lockdown, schreibt er, der seine Berühmtheit als homosexuelle Sportler auch nutzt, um der LGBT-Community Mut zu machen. Daley lismet für seinen Mann, seinen Sohn, andere Babys, Hunde, kranke Kinder und für den guten Zweck. Einen regenbogenfarbenen Pullover versteigerte er für über 5000 Pfund.

Die Welt findet den strickenden Turmspringer wohl gerade aussergewöhnlicher als er sich selbst. Recht hat er, denn dem strickenden Mann fällt schon lange keine verweichlichte Masche mehr runter.

Es gibt Bücher wie «Male Knitting» nur für die Herren an den Stricknadeln, mit handfesten Projekten wie gestrickten Laptoptaschen oder Fussmatten. Und auf Blogs tauschen sich Männer mit Frauen darüber aus, wie und wo man am besten einen Strickurlaub machen kann und welches der beste Woll-Laden im Lande sei. Wenn Frauen Bäume fällen können, dann können Männer auch stricken. Und wer glaubt, Stricken werde erst langsam männlich, der täuscht sich gewaltig.

«Handstricken wurde erst weiblich, als es sich finanziell kaum noch lohnte»,
schreibt die Historikerin Ebba D. Drolshagen in ihrer Kulturgeschichte des Strickens. Als besonders gute Stricker galten etwa die Hirten und Schäfer. Ist ja auch naheliegend, sie hatten zwei Dinge reichlich: Wolle und Zeit. Aber auch Bilder von strickenden Cowboys sind erhalten. Und ein vom Suhrkamp-Verlag wieder aufgelegtes Buch aus dem Jahr 1972 The Manly Art of Knitting. Stricken für Männer» enthält einige Projekte, denen sich der Cowboy widmen kann: eine Decke für den Hund, eine fürs Pferd, ein Wandbehang. Auch die unten stehende Fotoreportage aus der Schweiz zeigt, dass es sie schon 1965 gab, die strickenden Männer.

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