Tagesanzeiger – Liliane Minor
Betroffene sexueller Gewalt zögern oft, zur Polizei zu gehen. Die Folge: Wertvolle Spuren gehen verloren. Nun sichern spezialisierte Pflegefachfrauen die Beweise ohne vorgängige Anzeige.
Es hat so gut angefangen. Mit diesem süssen Jungen, den sie auf Snapchat kennen gelernt hat. Irgendwann lud er sie zu sich ein. Aber da gab es kein romantisches Date, sondern erzwungenen Sex.
Und nun sitzt sie voller Angst in der Notaufnahme eines Spitals. Eigentlich will sie sich nur noch verkriechen. Aber vorher will sie wissen, ob sie körperlich unversehrt ist und sich keine Geschlechtskrankheit eingefangen hat. Und vor allem braucht sie die «Pille danach».
Polizei? Bloss nicht, die Scham ist viel zu gross.
Die Szene ist fiktiv, aber sie spielt sich so oder ähnlich dutzendfach in den Schweizer Spitälern ab. Und oft enden solche Konsultationen mit einem medizinischen Befund und ein paar aufmunternden Worten von den Pflegenden. Das Opfer versucht zu vergessen. Der Täter kommt davon.
Dominice Häni ist angetreten, um das zu ändern. Oder zumindest die Voraussetzungen dafür zu schaffen. Die 41-Jährige ist Leiterin des neuen Angebots mit dem etwas sperrigen Namen «Aufsuchender Dienst Forensic Nurses» im Kanton Zürich. Seit April letzten Jahres ist sie mit sieben Kolleginnen im Einsatz.
Hänis Aufgabe besteht, auf den kürzesten Punkt gebracht, darin, Spuren von Gewalttaten und Sexualdelikten zu sichern und Betroffene mit den Opferberatungsstellen in Kontakt zu bringen. Das soll es den Opfern ermöglichen, in Ruhe und ohne Zeitdruck über die nächsten Schritte nachzudenken – ohne befürchten zu müssen, dass entscheidende Spuren wie DNA oder blaue Flecken später nicht mehr nachweisbar sind.
Gerufen werden die Spezialistinnen in der Regel von Pflegenden oder Ärztinnen im Einverständnis mit dem Opfer, wenn dieses auf einer Spital-Notfallstation im Kanton Zürich Hilfe sucht und ein Sexual- oder Gewaltdelikt zur Debatte steht. Der Dienst steht rund um die Uhr und 365 Tage im Jahr zur Verfügung.
Häni weiss nie genau, was sie erwartet, wenn sie sich aus ihrem Büro am Institut für Rechtsmedizin auf dem Campus Irchel in Zürich auf den Weg zu einer Patientin oder einem Patienten macht. Ihre Arbeit braucht Fingerspitzengefühl und ein feines Sensorium dafür, wie es dem Menschen geht, der ihre Hilfe braucht.
Als Erstes erklärt sie ihre Aufgabe. «Wenn sie wissen, was wir tun, sind die meisten Betroffenen recht offen», sagt Häni. Wichtig sei, dass sie nicht werte, sondern einfach entgegennehme, was das Gegenüber sagt. Was sie aber tut: Sie stellt Fragen, und die können schmerzhaft sein. Etwa wenn eine Person angibt, sie sei gewürgt worden: «Dann ist es wichtig, zu erfahren, wo und wie. War das Bewusstsein getrübt? Ist Urin abgegangen?»
Exaktes Arbeiten ist das oberste Credo, denn die meisten Spuren von Übergriffen verschwinden nach Stunden oder spätestens nach Tagen. Die Pflegefachfrau untersucht die gesamte Hautoberfläche, fotografiert sämtliche Verletzungen, alle blauen Flecken, jeden Kratzer.
Berichtet ein Opfer, es sei gewürgt worden, untersucht Häni auch die Schleimhäute auf charakteristische Blutungen. Bei sexuellen Übergriffen begutachtet sie den Genitalbereich.
Zwei, drei Stunden nimmt sich Häni für jede Untersuchung Zeit. Aber: «Wir tun nichts ohne Zustimmung der Patienten.»
Ein weiteres wichtiges Beweismittel können DNA-Spuren sein, die Häni mit Wattestäbchen sichert. Solche Spuren können sich überall auf dem Körper finden, wo der mutmassliche Täter das Opfer berührt hat. Also auch dort, wo jemand geschlagen worden ist. Haarproben können Aufschluss darüber geben, ob jemandem K.-o.-Tropfen verabreicht worden sind.
Ausgewertet werden die Spuren allerdings erst, wenn das Opfer Strafanzeige erstattet. Das sorge mitunter für Missverständnisse, sagt Häni. Sie erzählt von einer Mutter, die den Verdacht hatte, dass ein Angehöriger ihr Kind missbraucht haben könnte: «Sie wollte Spuren sichern und dann entscheiden, wie sie weiter vorgeht. Das mussten wir ablehnen.»
Sie habe zwar Verständnis für die Motivation jener Mutter, sagt Häni, aber: «Das Wissen, dass es eine Spur gibt, erleichtert den Entscheid für oder gegen eine Anzeige nicht unbedingt. Und wir wollen auch nicht, dass jemand den Entscheid, zur Polizei zu gehen, davon abhängig macht, wer der Täter ist.»
Mit dem Aufsuchenden Dienst Forensic Nurses betritt der Kanton Zürich schweizweit Neuland. Zwar gibt es am Unispital Lausanne eine Gewaltschutzambulanz, und das Kantonsspital Chur bietet eine forensische Sprechstunde. Aber dass die Forensic Nurses auf Abruf in alle Spitäler gehen, das ist neu. Im Herbst 2023 hat der Regierungsrat das Modell als Pilotprojekt für zwei Jahre beschlossen.
Warum aber braucht es dafür speziell ausgebildeten Pflegefachleute?
«Gewalt ist ein unbequemes Thema», sagt Dominice Häni. Sie hat mehr als zehn Jahre im Triemlispital auf dem Notfall gearbeitet und kam dort hin und wieder in Kontakt mit Gewaltopfern. Dort wurde ihr klar, dass weder Pflegende noch Ärztinnen und Ärzte wirklich für die Betreuung dieser Menschen ausgebildet waren.
Etwa, wie man eine Patientin anspricht, die mit ihrem Mann erscheint und deren Verletzung so gar nicht zu dem passt, was sie schildert. «Dann ist es oft einfacher, sich auf den medizinischen Befund zu konzentrieren und nicht weiter nachzufragen», sagt Häni, «nur schon weil der Zeitdruck im Notfall enorm ist.»
Zwar steht den Notfallstationen schon seit vielen Jahren eine sogenannte Untersuchungsbox zur Verfügung, mit der sich Spuren sichern lassen. Doch diese kam oft nicht zum Einsatz. Aus Angst, Fehler zu machen, aber auch aus Zeitnot drängten Ärztinnen und Pflegende stattdessen auf einen Beizug von Rechtsmedizinern. Die durften aber im bisherigen System nur ausrücken, wenn eine Strafanzeige vorlag.
Aber davor schrecken viele Opfer zurück. Vor allem aus Scham, wie Häni sagt: «Ich sehe immer wieder Patientinnen und Patienten, die sich selbst Vorwürfe machen, sich fragen, wie sie in diese Situation geraten sind und den Fehler bei sich suchen.» Hinzu kommt, dass sich Opfer und Täter sehr häufig kennen. Es braucht Mut, beispielsweise den Ehemann anzuzeigen. Vor allem wenn Kinder im Spiel sind und finanzielle Abhängigkeiten bestehen.
Laut einer deutschen Studie liegt die Anzeigequote bei häuslicher und sexualisierter Gewalt bei nur 4 bis 13 Prozent. Fachleute gehen davon aus, dass die Situation hierzulande nicht viel anders ist.
Für den Kanton sind die Forensic Nurses bis jetzt ein Erfolgsmodell. Das Projekt wird unter der Federführung der Gesundheitsdirektion gemeinsam mit der Direktion der Justiz und des Innern sowie der Bildungsdirektion getragen. Die Nurses sind bereits in über 150 Fällen zur Spurensicherung ausgerückt.
Und, fast noch wichtiger: 14 Personen haben nachträglich eine Strafanzeige eingereicht. Zum Vergleich: In den 13 Jahren davor, in denen nur die Untersuchungsbox zum Einsatz kam, gab es nur eine einzige nachträgliche Anzeige. «Das ist ein grosser Erfolg. Neben der besseren Betreuung der Opfer hat auch die strafrechtliche Verfolgung einen starken präventiven Charakter», sagt Gesundheitsdirektorin Natalie Rickli (SVP).
Mitten im Gespräch klingelt Dominice Hänis Handy. Sie hat uns vorgewarnt. Weil eine Kollegin krank ausgefallen ist, musste sie ausserplanmässig deren Dienst übernehmen. Am Telefon ist eine Mitarbeiterin einer kleineren Psychiatriestation. Am Vortag sei eine Frau mit einer schweren Psychose eingeliefert worden, die nun erzähle, sie sei Opfer eines Übergriffs geworden.
Häni fragt nach: Gibt es sichtbare Spuren? Was genau berichtet die Patientin? Dann vereinbart sie einen Termin für den Nachmittag, es eilt ausnahmsweise nicht, weil die Frau stationär in der Klinik ist.
Das Gespräch wirft ein Licht auf eine besonders verletzliche Gruppe von Menschen. Gerade kognitiv und psychisch beeinträchtigte Personen würden oft nicht ernst genommen, wenn sie von Gewalt erzählten, sagt Häni.
Das zeigt auch eine gross angelegte, im September publizierten Studie der ZHAW, die sich mit der Frage beschäftigte, was Opfer von Sexual- und Gewaltdelikten brauchen. Sie ergab, dass die Versorgung zu einseitig auf westliche, erwachsene, gesunde heterosexuelle Frauen ausgerichtet ist.
Zwar erleben auch diese Frauen immer wieder Situationen, in denen medizinisches Personal oder Behörden unsensibel reagieren. Aber Männer, Jugendliche, Alte, Queere, Menschen mit Beeinträchtigungen und Personen aus anderen Kulturkreisen fühlen sich deutlich häufiger nicht ernst genommen oder schlecht beraten.
«Hier können wir Gegensteuer geben», sagt Dominice Häni, «nur schon indem wir für alle Betroffenen unabhängig von Geschlecht und Alter da sind, aber auch indem wir andere Institutionen sensibilisieren.» Dass die psychiatrische Klinik angerufen habe, zeige: «Es bewegt sich etwas.»
Klar ist indes, dass die Forensic Nurses allein nicht ausreichen, um Gewaltopfern zu helfen und die Anzeigequote zu erhöhen. Das geht aus der Studie der ZHAW klar hervor, und das weiss auch der Kanton. Im vergangenen Dezember stellten Sicherheitsdirektor Mario Fehr (parteilos) und Justizdirektorin Jacqueline Fehr (SP) ein ganzes Massnahmenpaket gegen häusliche und sexualisierte Gewalt vor. So werden die Opferhilfestellen aufgestockt. Dabei sollen die Anliegen von Männern, Jugendlichen und queeren Personen vermehrt berücksichtigt werden.
Der Kantonsrat geht noch weiter: Er verlangt die Einrichtung von zwei bis drei Krisenzentren für Betroffene. Gesundheitsdirektorin Rickli lehnte dies im Kantonsrat ab. Die Reduktion auf nur zwei Krisenzentren werde den Opfern nicht gerecht: «Eine wortgetreue Umsetzung der Motion würde bedeuten, dass die Opfer sexueller oder häuslicher Gewalt, die ein kleineres Spital aufsuchen, nicht unmittelbar behandelt, sondern mit dem Taxi in das USZ oder KSW fahren müssten. Das wäre für die Opfer belastend und könne Untersuchungen gar verhindern.»
Die Befürworter der Krisenzentren halten dem entgegen, es gehe nicht um eine Konkurrenz oder gar einen Ersatz der Forensic Nurses, sondern um eine Ergänzung.
Dominice Häni will sich dazu nicht äussern. Wichtig sei letztlich einfach, dass die Opfer rasch und niederschwellig Hilfe finden. Das ist es auch, was ihr hilft, mit all dem Leid umzugehen, das sie in ihrer Arbeit zu Gesicht bekommt: «Dass ich etwas Gutes tun kann, hilft mir dabei, mich abzugrenzen.» Sie räumt aber ein, dass es immer wieder Momente gebe, die ihr nahegingen.