Autorin Catrin Altzschner: «Manchmal ist Sexarbeit eine Chance auf Autonomie»

Fokus

annabelle – Mareice Kaiser

Kann Sexarbeit feministisch sein? Die Autorin Catrin Altzschner hat mit verschiedenen Sexarbeiter:innen gesprochen und festgestellt: Sexarbeit geht uns alle etwas an.

Sex gegen Geld, dieser Tauschhandel scheint das letzte feministische Tabu zu sein. Kein zweites Thema wird so kontrovers diskutiert wie Sexarbeit, selbst in feministischen Kreisen. Die deutsche Autorin Catrin Altzschner wollte die oft oberflächliche Debatte um Pro-Sexkauf oder Sexkauf-Verbot ändern. In ihrem Buch «give a fck» schaut sie sich vor allem die sozialen, ökonomischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge an.

Sexualität ist ein Thema, bei dem sie sich auskennt. So führt sie im Podcast «Intimbereich» Gespräche über Sex und Beziehungen, über Masturbation, Pornos und Fernbeziehungen. Für ihr aktuelles Buch sprach sie nun mit verschiedenen Sexarbeiter:innen und kommt zum Schluss, dass Sexarbeit mit uns allen zu tun hat, ob wir wollen oder nicht.

Frau Altzschner, warum sprechen Sie so gerne über Sex?

Catrin Altzschner: Weil in Sex so viel Gesellschaft steckt. Man lernt Menschen gut kennen, wenn man mit ihnen über Sexualität spricht. Aus der Erfahrung mit meinem Podcast weiss ich: Es ergeben sich durch Sex-Gespräche besondere Verbindungen zwischen Menschen. Es sind so viele Fremde in mein Studio gekommen und oft sind wir mit einer Umarmung auseinandergegangen. Und das liegt am Thema. Wir teilen etwas Intimes miteinander und da stecken auch viele Gefühle wie Ängste und Scham drin.

Warum sprechen so viele andere Menschen so ungern über Sex?

Es ist einfach weiterhin ein Tabu. Gerade Menschen, die in längeren Beziehungen sind, haben oft das Gefühl, dass man den anderen in die Pfanne hauen würde. Dabei ist das Bullshit, denn bei uns allen läuft ja mal was unbefriedigend oder einfach nicht perfekt.

Ganz schön viel Druck beim Thema Sexualität, oder?

Ja, auf jeden Fall. Mit Freund:innen ohne Partner:in kann ich gut über Sex sprechen, aber in Beziehungen wird das schnell zur Privatsache.

«Beim Thema Sexarbeit versammeln sich alle Probleme unserer Gesellschaft an einem Tisch», schreiben Sie. Warum hat Sexarbeit mit uns allen zu tun?

Armut, Bildung, Klassengesellschaft, Sexismus, Frauenhass – all die Themen rund um Sexarbeit betreffen uns alle. Ebenfalls unsere Vorstellung über gute und schlechte Sexualität. Mindblowing beim Schreiben des Buchs war für mich, dass wir für Frauen häufig diese zwei Kategorien bilden: Heilige und Hure. Und zwar nur die eine oder die andere.

Das betrifft vor allem weiblich gelesene Personen, oder? Männer hingegen können alles sein.

Können sie. Und gleichzeitig betrifft es auch sie. Ich kenne Männer, die sich für feministisch halten und die trotzdem die Idee haben, dass bestimmte sexuelle Praktiken in der Partnerschaft nicht okay seien. Sie haben dann nicht die Sexualität, die sie eigentlich gern hätten, weil sie nicht frei sind von diesen Stereotypen. Viele Männer haben noch nicht verstanden, dass es nicht um irgendwelche Praktiken geht, sondern immer um den Konsens zwischen den Beteiligten.

 

«Ich habe schon schlechte Erfahrungen im privaten sexuellen Tauschhandel gemacht»

 

Sie sprechen von drei Gruppen von Sexarbeiter:innen, die Ihr Bild von Sexarbeit geprägt haben. Welche sind das?

Erstmal die, die wir am meisten wahrnehmen: privilegierte Escorts, die gut verdienen und ein gutes Leben haben mit schönen Erlebnissen. Dann die Gruppe derer, die wir als prekär beschreiben, die auf die Strasse gehen, oft mit Migrationshintergrund. Und als dritte Gruppe die, die aus der Sexarbeit ausgestiegen sind und sich stark machen für ein Verbot von Sexarbeit.

Gibt es eine Gruppe, bei der sich Ihre Vorannahmen nicht bewahrheitet haben?

Es war eher eine Kettenreaktion: Die erste Sexarbeiterin, die ich kennengelernt habe, war eher privilegiert. Da dachte ich dann: Ah ja, da habe ich jetzt was verstanden. Dann sprach ich mit den Akteurinnen von der Strasse und mir wurden viele Fehlannahmen klar. Zum Beispiel, dass Menschen, die dort arbeiten, in prekären finanziellen Lebenssituationen sein müssten und dieser Arbeitsort nur unter grösster Not ausgewählt wird. Das kann, muss aber nicht so sein. Für manche ist es auch einfach eine Chance auf grösste Autonomie. Oder im Gespräch mit der Sozialarbeiterin, die ich gefragt habe: Warum gehen die Menschen denn nicht putzen? Und sie sagte: Es kann doch sein, dass Menschen darauf keine Lust haben, also dass sie lieber Sex machen statt zu putzen. Da dachte ich dann auch: Ah, ja, stimmt, das kann ja auch sein.

Sie berichten vom sexuellen privaten Tauschhandel und stellen die Frage: Macht es einen Unterschied, ob ich Sex mit jemandem habe, weil ich ihm oder ihr einen Gefallen tun mag oder weil ich Geld dafür nehme? Was meinen Sie heute, macht es einen Unterschied?

Ich glaube tatsächlich nicht. Es kommt darauf an, wie man sich fühlt. Dabei spreche ich natürlich nur für mich. Ich habe schon schlechte Erfahrungen im privaten sexuellen Tauschhandel gemacht. Wo ich mit jemandem geschlafen habe, den ich zwar noch geliebt habe, für den ich erotisch aber sonst nichts mehr gefühlt habe. Da habe ich mich schäbig gefühlt. Ich habe lange darüber nachgedacht, ob ich für die Recherche den Beruf der Sexarbeiterin auch ausprobiere und mich auf einer Escort-Seite anmelde. Ich habe noch nie Geld für Sex genommen.

Sie haben sich dann doch dagegen entschieden?

Ich habe mich nicht getraut, das zu machen. Ich habe mich nicht getraut, weil ich dachte, ich werde dann als Journalistin abgewertet. Würde ich bei einer Bank recherchieren und als Bankberaterin für ein Buch arbeiten, würden das alle cool finden. Aber bei Sexarbeit ist das anders. Ich habe mich nicht getraut wegen der Wahrnehmung von anderen. Wegen der krassen Stigmatisierung von Sexarbeiter:innen.

Sie schreiben, dass es okay für Sie sei, wenn sich jemand auf ein Unterwäschebild von Ihnen bei Instagram einen runterholt, aber er soll Sie damit in Ruhe lassen. Warum kennen so viele diese Grenze nicht?

Wenn ich diese Frage beantworten könnte! Es gibt sicherlich Menschen, die denken: Ach, sie redet frei über Sex, vielleicht kann ich ein Date mit ihr haben. Da kommen auch durchaus anständige Anfragen, die sind in Ordnung. Meine Antwort ist dann: Nein (lacht). Bei der anderen Sache geht es um Macht. Die Leute denken: Ich habe die Macht, ihr das zuzumuten. Es geht um den Wunsch von Männern, Macht gegenüber Frauen auszuüben.

 

«Über Sexarbeit zu sprechen, bedeutet, über Misogynie und Patriarchat zu sprechen»

 

Warum wird Sexarbeit so kontrovers diskutiert, selbst in feministischen Kreisen?

Das ist historisch gewachsen. Zum Beispiel war ja Alice Schwarzer der Meinung, penetrativer Sex sei nie erfüllend für Frauen. Es gibt so viele unterschiedliche Meinungen und oft auch Mythen. Manchmal weiss ich es auch selbst nicht: Wenn ich mir einen superkurzen Rock anziehe: Mache ich das für mich? Oder mache ich das für Männer? Wie sehr wirken patriarchale Strukturen in mir? Sowas können wir am Ende auch nicht wissenschaftlich belegen. Wir sind dann bei Gefühlen und Haltungen und haben nichts, worauf wir uns fest berufen können. So können wir darüber schlecht rational diskutieren.

Sie versuchen, im Buch neutral zu bleiben, so weit das bei diesem Thema geht. Wenn Sie entscheiden könnten, was würden Sie rund um die Sexarbeit rechtlich ändern?

Es wäre wichtig, Sexarbeiter:innen in die Gesetzgebung einzubinden. Der Berufsverband der Sexarbeitenden fordert das schon lange. Gleichzeitig verstehe ich Menschen, die für das Nordische Modell sind. Es wäre gut, verschiedene Menschen an einen Tisch zu bekommen. Wenn ich selbstbestimmte Sexarbeiterin bin, weiss ich vermutlich nicht, wie es ist, durch die Loverboy-Methode in die Sexarbeit gekommen zu sein.

Worum genau handelt es sich dabei?

Häufig ist es so, dass ein Mann in einer heterosexuellen Beziehung Druck ausübt. Es wird dann erklärt, dass man so wenig Geld, vielleicht Schulden hat. Dabei geht es um Abhängigkeiten, um Macht. Diese Männer schaffen es dann, die Frau in die Prostitution zu zwingen, durch emotionale Erpressung. Auch das ist ein Bild, mit dem wir aufhören müssen: Die wenigsten Menschen, die in die Prostitution gezwungen wurden, wurden gekidnappt oder so. Sie wurden in Abhängigkeiten gebracht und sind dann so reingerutscht.

«Über Sexarbeit zu sprechen, bedeutet, über Misogynie und Patriarchat zu sprechen», schreiben Sie. Würde es ohne Misogynie und Patriarchat Sexarbeit geben?

Das ist eine super Frage. Gerade entdecken ja zunehmend Frauen Sexarbeit für sich, also Sexarbeit zu konsumieren. Ist das dann eine Wiederholung von patriarchalen Ideen? Ist es eine Aneignung von männlich Konnotiertem? Ich traue mich nicht, diese Frage endgültig zu beantworten.

In der Pornografie ändern Frauen ja langsam etwas.

Ja, dort gibt es immer mehr Frauen mit feministischem Ansatz. Sie machen Dinge anders, stellen Sexualität anders dar, bemühen sich um bessere Arbeitsbedingungen. Was wäre, wenn es mehr Frauen geben würde, die Sexarbeit in Anspruch nehmen würden? Kann das die Branche verbessern? Wenn man sich anschaut, welche Art von Sexarbeit Frauen in Anspruch nehmen, könnte das schon so sein. Für viele Frauen soll es ein schönes Erlebnis sein, oft hochpreisig bezahlt. Das ist schon anders, wie Frauen Sexarbeit konsumieren. Vielleicht verändert sich dadurch langfristig etwas.

Der Artikel von Mareice Kaiser

  • Bild: Maria Bischoff
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