«Asperger ist keine Krankheit»

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NZZ Magazin – Seit Elon Musk und Greta Thunberg erklärten, Asperger zu haben, ist das Syndrom in aller Munde. Aber was ist Asperger überhaupt? «Eine Besonderheit», sagt Maria Asperger Felder, die Tochter des Namensgebers.


Glauben Sie, dass ich verrückt bin?», fragte Tesla-Gründer Elon Musk seinen Biografen Ashlee Vance beim ersten Treffen. Die Frage über Musks Geisteszustand treibt derzeit viele Menschen um. Seit der Multimilliardär den Kurznachrichtendienst Twitter für 44 Milliarden Dollar erworben hat und diesen an die Wand zu fahren scheint, mehren sich die Zweifel an Musks Zurechnungsfähigkeit. Ist hier ein Genie mit ausgeprägter Nähe zum Wahnsinn am Werk? Oder ist alles bloss Show eines ebenso exzentrischen wie erfolgreichen Unternehmers?

Musk selbst sagt, er leide am Asperger-Syndrom.

Tatsächlich zeigt er Züge, die typisch für diese Form von Autismus sind: Schon als Kind lebte Musk oft in seiner eigenen Welt und ignorierte seine Umgebung. Die Eltern liessen deshalb abklären, ob er schwerhörig sei. Musk war hochbegabt in Spezialgebieten wie dem Programmieren und veröffentlichte bereits als Zwölfjähriger ein selbstentwickeltes Computerspiel. Vom Unternehmer Musk kursieren zudem viele Anekdoten, die ihn als empathielosen Chef beschreiben mit Problemen bei der sozialen Interaktion. Als etwa ein Mitarbeiter wegen der Geburt seines Kindes am Arbeitsplatz fehlte, akzeptierte Musk dessen Entschuldigung nicht: «Ich bin extrem enttäuscht. Wir verändern die Welt, entweder sind Sie dabei oder nicht.»

Es bleibt offen, ob Musks Reden über Asperger vor allem Marketing in eigener Sache ist, sozusagen eine vorgeschobene Begründung für nicht immer nachvollziehbares Verhalten. Fest steht hingegen, dass die Bekanntheit des Syndroms stark gestiegen ist, seit Persönlichkeiten wie Musk oder Greta Thunberg erklärten, betroffen zu sein. Dass häufiger darüber gesprochen wird, begrüsst Maria Asperger Felder. Ihr Vater gilt als Erstbeschreiber des Syndroms. Sie selbst arbeitet seit über 50 Jahren als Kinderpsychiaterin, behandelt Asperger-Patienten – und hat mehr zu tun als je zuvor.

 

Schätzte man in den siebziger Jahren noch, dass eine Person auf 5000 das Asperger-Syndrom habe, geht man heute von einer auf 100 Personen aus.

Starker Anstieg der Diagnosen

«Die Asperger-Diagnosen nehmen zu», erklärt Asperger in ihrer Praxis im Zürcher Seefeld. Ursprünglich behandelte sie vor allem Kinder mit Asperger-Syndrom, in den letzten Jahren haben sich jedoch zunehmend Erwachsene bei ihr gemeldet. «Das sind Menschen zwischen 40 und 60, die ihr Leben lang unter vielfältigen Problemen litten und endlich Klarheit wollen», sagt Asperger. Es ist umstritten, ob es in der Bevölkerung tatsächlich mehr Betroffene gibt. Oder ob das gestiegene Bewusstsein und eine genauere Diagnostik dazu geführt haben, dass einfach mehr Fälle entdeckt werden. Der Anstieg ist jedenfalls bemerkenswert: Schätzte man in den siebziger Jahren noch, dass eine Person auf 5000 das Asperger-Syndrom habe, geht man heute von einer auf 100 Personen aus. «Damit ist Asperger etwa gleich häufig wie Diabetes und Epilepsie», sagt die Ärztin. Sie sieht jedoch einen bedeutenden Unterschied: «Asperger ist keine Krankheit, sondern eine Besonderheit.»

 

Andauernde Anspannung

Das Asperger-Syndrom wird laut den aktuellen WHO-Richtlinien nicht mehr als eigenständige Diagnose geführt, sondern zu der breiter gefassten Autismus-Spektrums-Störung gezählt. Betroffene zeichnen sich durch eine besondere Art aus, wie sie die Welt wahrnehmen. «Je nach Ausprägung der Störung haben die Menschen Mühe, ihre Eindrücke richtig einzuordnen», sagt Asperger. Oft können sie zum Beispiel die Mimik des Gegenübers nicht richtig lesen. Gleichzeitig haben Betroffene wie Greta Thunberg selbst eine gleichbleibende Mimik, die nicht einfach zu erfassen ist.

 

Mir haben Patienten auch schon berichtet, dass sie sich über etwas freuten – aber nicht gewusst haben, welches Gesicht sie dazu machen müssen.

«Mir haben Patienten auch schon berichtet, dass sie sich über etwas freuten – aber nicht gewusst haben, welches Gesicht sie dazu machen müssen.» Das sei ungemein anstrengend. «Menschen mit einer Asperger-Struktur sind ständig am Analysieren und am Versuchen, adäquat zu reagieren.» Sie müssten sich die Grundregeln der zwischenmenschlichen Kommunikation regelrecht antrainieren. Weil das nicht immer gelinge, werden Betroffene oft als empathielos beschrieben, obwohl sie das gar nicht seien. Zudem könne die andauernde Anspannung zu Erschöpfung und Depressionen führen.

Interessant sei dabei die Verteilung nach Geschlechtern: «Ursprünglich nahm man an, dass Männer weit häufiger von Asperger betroffen sind als Frauen», sagt die Ärztin. So ging man früher davon aus, dass auf sechs bis acht Knaben ein Mädchen kommt. Inzwischen liegen die Schätzungen eher bei vier zu eins oder noch tiefer. «Mädchen lernen in der Regel schneller, sich anzupassen. Deshalb fallen sie weniger auf, die Diagnose wird meist später gestellt als bei den Buben», sagt Asperger.

Ein weiteres Kennzeichen von Betroffenen ist, dass sie besondere Interessen haben und sich in einem Spezialgebiet enormes Fachwissen aneignen können. Oder dass sie blitzschnell Details erfassen – so wie der von Dustin Hoffman gespielte Autist Raymond im Film «Rain Man» auf einen Blick erkennt, wie viele Zahnstocher am Boden liegen.

«Wichtig ist, dass man solche besonderen Begabungen und Interessen früh erkennt und berücksichtigt», sagt Asperger. Ein betroffenes Kind könne sich zum Beispiel extrem für Technik interessieren und sonst für fast nichts. Aufgabe der Lehrpersonen sei es dann, die Lerninhalte mit diesem Interesse zu verknüpfen.

Erstmals beschrieben wurde das Syndrom 1943 vom Wiener Kinderarzt Hans Asperger. Seine Arbeiten wurden international wenig wahrgenommen, bis die britische Psychiaterin Lorna Wing in den achtziger Jahren seine Forschungen fortführte und das Syndrom nach dem Erstbeschreiber benannte.

Maria Asperger eröffnete in den neunziger Jahren ihre Praxis in Zürich. «Dass ich vor allem Asperger-Betroffene behandle, ist nicht genetisch bedingt», sagt sie. Sie habe jedoch wahrgenommen, wie sehr ihr Vater Menschen mit dieser Struktur geschätzt habe, und sich schliesslich im selben Bereich spezialisiert. Hans Asperger ist 1980 verstorben und hat nicht mehr erlebt, wie er zum Namensgeber für das Syndrom wurde. Auch die Debatte über seine Rolle während der NS-Zeit ging erst nach seinem Tod los. So wurde in Publikationen der letzten Jahre der Frage nachgegangen, welche Rolle Hans Asperger während der Nazizeit gespielt hatte. Die amerikanische Historikerin Edith Sheffer schrieb 2018 in ihrem Buch «Aspergers Kinder. Die Geburt des Autismus im Dritten Reich», dass Hans Asperger den nationalsozialistischen Vorstellungen nahestand. Zwei Kinder seien aufgrund seiner Gutachten an die Wiener Fürsorgeanstalt Spiegelgrund zugewiesen worden, obwohl er wissen musste, dass dort Euthanasie betrieben wurde. Eine andere Forschergruppe von österreichischen Historikern und Pädiatern kam 2020 hingegen zum Schluss, dass die Euthanasie im Spiegelgrund unter strengster Geheimhaltung stand und damit auch Hans Asperger nicht bekannt war.

Auch sie habe sich die Frage gestellt, wie ihr Vater durch die Nazizeit gekommen sei, sagt Maria Asperger. Darüber gesprochen habe sie jedoch nicht mit ihm. «Man hat das im Österreich der Nachkriegszeit nicht thematisiert.»

 

Ich versuche, den Menschen Erklärungen zu geben für ihre Art zu leben. Und zu zeigen, dass ihre Besonderheit beides ist: oft eine grosse Belastung, aber auch eine Fähigkeit.

Sie selbst will nicht mehr allzu lange in ihrem Beruf tätig sein. Nachdenklich stimmt sie, dass es an Autismus-Fachpersonen mangelt, während sich immer mehr Menschen fragen, ob sie selbst diese Struktur aufweisen. «Gerade bei Paaren kann es wegen der fehlenden sozialen Kompetenz von Betroffenen zu sehr belastenden Situationen kommen», sagt Asperger. Hier könne eine Diagnose wie eine Befreiung wirken und für Verständnis sorgen. «Ich versuche, den Menschen Erklärungen zu geben für ihre Art zu leben. Und zu zeigen, dass ihre Besonderheit beides ist: oft eine grosse Belastung, aber auch eine Fähigkeit.»

Musk und Thunberg jedenfalls gehen betont offensiv mit dem Thema um: Die Klimaaktivistin nannte Asperger «ein Geschenk», ohne das sie sich nie so fürs Klima engagiert hätte. Und als Musk in einer TV-Show über sein Asperger-Syndrom sprach, räumte er ein, manchmal merkwürdige Dinge zu sagen oder zu posten. Sein Gehirn funktioniere nun einmal so. «Allen, die beleidigt sind, möchte ich sagen: Ich habe Elektroautos neu erfunden und schiesse Menschen in Raketen zum Mars. Dachtet ihr wirklich, ich wäre ein gechillter, normaler Kerl?» Ein Satz, der ihm den grössten Applaus einbrachte.

NZZ am Sonntag

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