Ab wann soll ein Kind über sein Geschlecht bestimmen können?

Fokus

NZZ Magazin – Felicitas Witte

Kinder und Jugendliche mit Genderdysphorie leiden unter ihrem angeborenen Geschlecht. Doch bei vielen ist der Wunsch nach einer Angleichung nicht dauerhaft. Keine einfache Ausgangslage.

Leiden Kinder oder Jugendliche andauernd und stark unter ihrem angeborenen Geschlecht und möchten es ändern, wird dies Geschlechtsdysphorie genannt.

Die Diagnose wird nach bestimmten Kriterien gestellt. Schätzungen aus Genderkliniken lassen vermuten, dass einige wenige pro 100 000 Menschen betroffen sind, und es scheinen mehr zu werden. «Wir wissen aber nicht, ob das tatsächlich so ist», sagt Dagmar Pauli, Leiterin der Sprechstunde für Jugendliche mit Geschlechtsinkongruenz in der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. «Ein Teil des Anstiegs hat wahrscheinlich mit verbesserter Aufklärung zu tun, so dass sich Betroffene heute eher melden.»

Alexander Korte, Oberarzt in der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Ludwig-Maximilians-Universität in München, hält noch weitere Erklärungen für plausibel. Er vermutet, dass «Internetforen, in denen junge Menschen euphorisiert über ihre Behandlung berichten, Angebote an Therapiemöglichkeiten, die suggerieren, dass eine Geschlechtsangleichung heute problemlos möglich sei, oder die Überzeugung, die Wahl des Geschlechts sei das Grundrecht eines jeden» eine Rolle spielen könnten.

Widersprüchliche Daten

Einige Therapeuten verfolgen das Ziel, das Kind in seiner «Transidentität» zu bestärken. Dazu gehört etwa, dass es mit seinem neuen Vornamen angesprochen werden darf und unter dem neuen Geschlecht in der Schule geführt wird. Dabei steht die Annahme im Vordergrund, dass der Wunsch nach einer Geschlechtsangleichung persistiert. Studien weisen aber darauf hin, dass dies oft nicht der Fall ist. In den vier am häufigsten zitierten mit insgesamt 294 Teilnehmenden, in denen Kinder zwischen drei und zwölf Jahren und dann noch einmal als Jugendliche befragt wurden, fühlten sich zwischen 45 und 88 Prozent der Betroffenen später nicht mehr dem neuen Geschlecht zugehörig.

Zu einem anderen Befund kommt eine kürzlich publizierte Studie von der Princeton University mit 317 Mädchen und Buben, in der sich fast alle nach knapp vier Jahren noch immer wohlfühlten. Diese Studie birgt allerdings einige Mängel. So hatten die Kinder vor Studienbeginn schon anderthalb Jahre mit dem Wunschgeschlecht gelebt. Kinder, die sich vor dieser Zeit vielleicht entschieden hatten, wieder zu ihrem ursprünglichen Geschlecht zurückzukehren, tauchten in der Studie also nicht auf.

Zudem hatten die meisten Kinder in der Studie bereits Medikamente genommen, die die Pubertät blockieren, was für viele der erste Schritt zu einer Geschlechtsangleichung ist. Untersuchungen zeigen, dass mehr als 95 Prozent der Kinder mit Pubertätsblockern beim neu gewählten Geschlecht bleiben.

Es sei wichtig, einem Kind mit Geschlechtsdysphorie Zeit zu geben und den Ausgang offen zu lassen, sagt Kinderpsychiater Korte. Und zum Beispiel einen neutralen neuen Spitznamen zu wählen statt jenen des anderen Geschlechts, also etwa nicht Michael statt Michaela, sondern «Micki». Mit einer ergebnisoffenen Unterstützung könne man auch erkennen, so Pauli, ob es einem Kind besser gehe, wenn es mit anderem Namen angesprochen werden dürfe.

Essenziell ist eine Psychotherapie, in der das Kind erfährt, welche Risiken die Behandlung birgt, und zu erkennen lernt, ob sein Wunsch dauerhaft ist und ob nur auf diesem Weg sein Leidensdruck gelindert werden kann. Wichtig ist zudem abzuklären, ob andere psychische Probleme vorliegen und die Genderdysphorie nur ein Ausdruck davon ist. Das könnte zum Beispiel sein, dass der Jugendliche eine Borderline-Störung hat, unbewusst eine aufkeimende Homosexualität abwehrt oder in einer vorübergehenden Krise bei der sexuellen Reifung steckt.

Experten sind sich nicht einig, ab wann eine medizinische Behandlung gestartet werden sollte. «Wir haben noch keine verlässlichen Marker, mit denen wir den weiteren Verlauf vorhersagen können», sagt Korte. Mit Pubertätsblockern – GnRH-Analoga – wird die Pubertät aufgehalten. Werden sie früh gegeben, hat das den Vorteil, dass sich irreversible Körpermerkmale nicht bilden können, also etwa Brüste bei biologischen Mädchen oder Bart und Stimmbruch bei biologischen Buben. Dadurch können möglicherweise spätere Operationen erspart oder die kosmetischen Ergebnisse verbessert werden.

Die Therapie birgt aber das Risiko für Nebenwirkungen. Ausserdem stört die Pubertätsblockade das Lustempfinden und verhindert das sexuelle Erleben. Auch sind die Auswirkungen der GnRH-Analoga auf die Entwicklung des jugendlichen Gehirns noch nicht genügend untersucht. Die weitere Therapie besteht aus gegengeschlechtlichen Hormonen und Operationen – beispielsweise Entfernung von Gebärmutter, Brüsten, eine Brustvergrösserung oder Eingriff an Penis oder Scheide.

Jugendliche müssen urteilsfähig sein

Minderjährige in der Schweiz dürfen Pubertätsblocker erhalten, und sie dürfen sich auch einer geschlechtsangleichenden Operation unterziehen. «Voraussetzung ist aber, dass sie verstehen, worum es geht», sagt Brigitte Tag, Lehrstuhlinhaberin für Straf-, Prozess- und Medizinrecht der Universität Zürich. «Die Jugendlichen müssen aufgrund ihrer geistigen Reife in der Lage sein, den Zweck, die Wirkung und die möglichen Konsequenzen zu begreifen.»

Die Jugendlichen müssen aufgrund ihrer geistigen Reife in der Lage sein, den Zweck, die Wirkung und die möglichen Konsequenzen zu begreifen.

Eine Altersgrenze gibt es nicht, Ärztin oder Arzt müssen das im Einzelfall prüfen. Für eine Operation müssen die Jugendlichen urteilsfähig sein. Das sei aber individuell unterschiedlich und hänge nicht nur vom Alter ab, sagt Tag. «Hat eine Behandlung einschneidende Konsequenzen – und davon ist bei einer Geschlechtsangleichung auszugehen –, werden Ärzte die Urteilsfähigkeit nicht so leicht bescheinigen, wie wenn es um nicht so weitreichende Massnahmen geht, etwa ein Tattoo zu entfernen oder die Pille zu verschreiben.»

Alexander Korte ist skeptisch. «Jugendliche können Tragweite und Folgen derartiger Eingriffe kaum in ihrem Ausmass erfassen. Es gilt, die Betroffenen wahrzunehmen und sie einfühlsam zu begleiten, aber dabei den Grundsatz der Medizin nicht ausser acht zu lassen: Primum non nocere – zuerst einmal nicht schaden.»

Der Artikel von Felicitas Witte 

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