
Sonntagszeitung – Bettina Weber
Sie war eine Pionierin und ihrer Zeit weit voraus: Deshalb wurde die Philosophin Carola Meier-Seethaler zu einer Ausstellung über Philosophinnen eingeladen. Jetzt ist sie plötzlich unerwünscht – wegen angeblicher «Transfeindlichkeit».
Die Stimme von Carola Meier-Seethaler ist glockenhell und klingt wie diejenige einer jungen Frau. Die 95-Jährige wirkt geistig überaus präsent und heiter; daran vermögen auch die zunehmenden körperlichen Gebresten nichts zu ändern.
Ein wenig irritiert ist sie derzeit aber trotzdem: Sie soll «transfeindlich» sein. Anders als geplant ist deshalb die Philosophin Meier-Seethaler an einer Ausstellung über Schweizer Philosophinnen nicht vertreten.
Dabei hatte sie sich über die Einladung des Vereins Philosophie.ch gefreut. Man plane, hiess es in der Anfrage Mitte Februar, erstmals eine landesweite Expo für Philosophie in der Schweiz. Im Rahmen der Philexpo 22, die vom 6. bis zum 15. Mai stattfinden werde, sei auch eine Ausstellung geplant, in der «die Unterrepräsentation von Frauen in der Philosophie diskutiert, die historischen Anfänge von Frauen an den Schweizer Universitäten aufgearbeitet und aktuell philosophisch tätige Personen porträtiert werden», so Tanja Liebschwager, Social-Media-Managerin des Anlasses, in der Anfrage per Mail.
Carola Meier-Seethaler sollte einen Text sowie ein Video beisteuern und sagte zu. Schliesslich nimmt sie immer noch sehr aktiv am Weltgeschehen teil, liest, schreibt, googelt und mailt. Sie ist das, was man Neudeutsch ein Role Model nennt, ein feministisches Vorbild. 1927 geboren in München, studierte sie Philosophie, schrieb mit 25 ihre Dissertation und wollte danach die Habilitation in Angriff nehmen. Die Herren an der Uni verweigerten ihr indes die bezahlte Assistenzstelle – das sei für sie als Frau doch für die Katz, sie heirate ja ohnehin.
«Es hat mich einfach immer so vieles brennend interessiert, und das hat bis heute nicht aufgehört, diese Begeisterung für neue Erkenntnisse.»
Carola Meier-Seethaler verlegte sich auf ihr Nebenfach Psychologie und machte eine Ausbildung zur Therapeutin. Sie heiratete dann zwar schon, aber einen Mann, der so modern war wie sie: einen Schweizer Chemiker, der im Haushalt und bei der Erziehung der beiden Töchter selbstverständlich mithalf, sodass seine Frau 1978 eine eigene Praxis in Burgdorf eröffnen konnte.
Während ihrer Tätigkeit als Psychotherapeutin forschte sie viel über Geschlechterverhältnisse, zum Beispiel bei indigenen Völkern, und sie schrieb mehrere Bücher, eines davon wird gerade neu aufgelegt. «Es hat mich einfach immer so vieles brennend interessiert», sagt Meier-Seethaler dazu, «und das hat bis heute nicht aufgehört, diese Begeisterung für neue Erkenntnisse.» Eine eigene Meinung leistete sie sich auch immer: Von 2001 bis 2006 war sie Mitglied der Nationalen Ethikkommission im Bereich Humanmedizin (NEK), aus der sie aus Protest zurücktrat, «weil es dort mehr um den Forschungsstandort Schweiz denn um Ethik zu gehen schien».
Der Text, den sie für die Ausstellung verfasste, behandelte ihren Werdegang und die Schwerpunkte in ihrer Arbeit als Psychologin und Philosophin: die Entstehung des Patriarchats und die Folgen davon auf die Geschlechterrollen bis hin zur Definition von Familie.
Im letzten Abschnitt schrieb Meier-Seethaler, die Gleichstellung «ist noch längst nicht erreicht, solange weltweit Frauen aufgrund ihres biologischen Geschlechts diskriminiert, verfolgt und ermordet werden». Und weiter: Dies mindere nicht «die längst fällige Rehabilitation homosexueller und bisexueller Orientierungen und die Anerkennung von Menschen mit von Geburt an differenten Geschlechtsorganen. Dazu genügt die viel beschworene ‹Political Correctness› nicht. Es braucht das ehrliche Bemühen um Einfühlung, Verstehen und Wertschätzung.»
Philexpo-22-Social-Media-Managerin Tanja Liebschwager dankte für den «spannenden Beitrag», hatte aber eine Bitte: «Gerne würden wir das Wort ‹biologisch› an dieser Stelle weglassen, da wir der Auffassung sind, dass die genannten Dinge Frauen nicht nur aufgrund ihres biologischen, sondern auch aufgrund ihres sozialen (/sozial-konstruierten) Geschlechts zustossen.» Letztlich sei es aber der Beitrag von Carola Meier-Seethaler und «wir können ihn auch so lassen, wie er ist».
Die Philosophin erklärte, an ihrer Formulierung festhalten zu wollen, «auch deshalb, weil die Misshandlung von Frauen in vielen Teilen der Welt stattfindet, in denen eine patriarchale Ideologie vorherrscht, in welcher über soziokulturelle Prägungen gar nicht reflektiert wird».
«Man schweigt mich und meine Arbeit einfach tot. Ich frage mich schon, was grösser ist: die Ignoranz oder die Arroganz?»
Vier Tage später, am 19. März, meldete sich Liebschwager erneut. Der Ton war nun ein wenig anders: Sie sei «zum Resultat gelangt, mehr als genug Material zu haben» und werde deshalb auf das Video verzichten und den Kurztext unter jenen Erfahrungsberichten veröffentlichen, die anonym erscheinen würden. Und: «Dazu würden wir dann auch den letzten Abschnitt weglassen, was nicht zuletzt auch damit zusammenhängt, dass trans und nicht binäre Personen an unserer Ausstellung beteiligt sind und wir niemanden verletzen möchten.»
Carola Meier-Seethaler zog ihren Beitrag zurück. Sie steht zu dem, was sie schreibt und will nicht anonym veröffentlicht werden. Dass man ihren Leistungsausweis als Philosophin, die sich schon in den Achtzigern mit den heute immer noch aktuellen Geschlechterfragen befasst hat, negiert, findet sie irritierend: «Man schweigt mich und meine Arbeit einfach tot. Ich frage mich schon, was grösser ist: die Ignoranz oder die Arroganz?»
Auf Rückfrage erklärt Tanja Liebschwager, Meier-Seethalers Text als einen unter zahlreichen anonymen Texten gekürzt auszustellen, sei «eine konzeptionelle Entscheidung» gewesen. Zudem «wollen wir Transfeindlichkeit keinen Raum bieten», sagt Liebschwager.
Carola Meier-Seethaler kann diesen Vorwurf nicht nachvollziehen. «Der ganze feministische Diskurs wird mittlerweile von Queer-Theoretikerinnen dominiert, die alle derselben Meinung sind. Sie haben neben Judith Butler und Co. nicht viel anderes gelesen.» Selber denken sei offenbar «nicht mehr en vogue». Das Geschlechterthema ist aus Sicht von Meier-Seethaler «zur reinen Glaubensfrage verkommen, bei der Fakten unberücksichtigt bleiben. Wir sollen uns daran gewöhnen, dass der biologische Körper für die Selbstidentität gar keine Rolle mehr spielt.»
Wäre es nicht gerade an der Philosophie, Debatten zuzulassen und zu fördern, statt von vornherein abzuwürgen? Dazu Liebschwager: «Natürlich geht es in der Philosophie darum, einen Diskurs zu fördern. Dieser endet für uns aber an dem Punkt, an welchem Menschen in ihrer Existenz verletzt und diskriminiert werden.» Man stehe für keine weiteren Stellungnahmen zur Verfügung.
Carola Meier-Seethaler sagt mit der Gelassenheit einer 95-Jährigen, man müsse Widerstand aushalten. Sie sei immer eine Aussenseiterin gewesen, das «hat mich unabhängig gemacht».