Ständig unterwegs, verplant und erreichbar – Freizeitstress ist zum Statussymbol geworden. Unsere Autorin Darja Keller plädiert dafür, dem Dauerprogramm eine Pause zu gönnen.
«Mein nächster freier Abend ist in zwei Monaten» ist ein Satz, den ich oft höre. Ich weiss nie, wie ich darauf reagieren soll. Mit Mitgefühl? Oder Applaus? Offenbar sind wir alle sehr beschäftigt und reden gern darüber.
Die deutsche Journalistin Teresa Bücker untersuchte in ihrem Buch «Alle_Zeit», wie in unserer Gesellschaft eine «Klasse der Immer-Beschäftigten» entstanden ist. Wer beschäftigt ist, gilt als begehrt und beliebt; wer seine Zeit nicht bis auf die letzte Sekunde mit Sinn füllt, versagt.
Die US-Soziologin Judy Wajcman stellte bereits 2015 in ihrem Buch «Pressed for Time» fest: Prahlen mit Zeitknappheit ist chic bei denen, die reich oder gebildet sind. Ein Tech-Milliardär, eine Professorin brüsten sich mit vier Stunden Schlaf pro Nacht; ein Fleischverarbeiter am Fliessband wird das kaum tun.
Dieses Mindset, so Wajcman, stammt aus dem Silicon Valley. Die dort ansässige Tech-Industrie habe die Verschmelzung von Arbeit und Freizeit vorgelebt. Und die Tools entwickelt, die uns das Gefühl geben, unsere Produktivität und Erlebnisdichte beliebig steigern zu können.
Ist Zeitknappheit also ein Pseudoproblem, mit dem eine privilegierte Schicht kokettiert? Ja, aber nicht nur. Busy-ness als Tugend zu sehen, gehört zur DNA des Neoliberalismus – und dessen Logik ist so tief in unserem Weltbild verankert, dass es schwerfällt, sich ihr zu entziehen. Das Problem ist: Wenn Überbeschäftigung unser höchster Wert ist, rutschen andere Werte automatisch ab.
Eine Generationen-Umfrage des schweizerischen Meinungsforschungsinstituts Sotomo von 2025 untersuchte Werte, die uns seit der Kindheit prägen. Von den 16 Auswahlmöglichkeiten rangieren Eigenverantwortung (34 Prozent), Arbeitsethik und Fleiss (30 Prozent) sowie Sparsamkeit (28 Prozent) auf den vorderen Plätzen. Im hinteren Drittel landen Fürsorge und Mitgefühl (13 Prozent), Offenheit und Toleranz (12 Prozent), Optimismus und Lebensfreude (10 Prozent). Diese Werte auf den hinteren Plätzen würden freie, leere Zeit voraussetzen: Wer hetzt, hält nicht an, um Kleingeld zu verschenken.
„(Zeit-)Sparsamkeit mindert unsere Empathiefähigkeit“
Wer von Verabredung zu Verabredung rennt, hat keine Energie, um wirklich zuzuhören. (Zeit-)Sparsamkeit mindert unsere Empathiefähigkeit.
Diese Hierarchie der Werte lässt sich dadurch erklären, dass wir ökonomische Zukunftsangst in unsicheren Zeiten mit einem wahnsinnig geilen Leben kompensieren, das randvoll gefüllt ist mit Konsum und Aktivitäten. Und klar: Viele haben sich die ewige Busy-Spirale nicht ausgesucht.
Sie haben kleine Kinder, einen schlecht bezahlten Job oder pflegebedürftige Angehörige. Aber diejenigen, die ein klein wenig Spielraum haben, sollten den Zwang zur Dauerbeschäftigung mit Verve zurückweisen, anstatt ihn zum Statussymbol hochzujubeln.
Beim Nichtstun oder Tagträumen wird das Ruhezustandsnetzwerk unseres Gehirns aktiviert. Dann kommen wir auf Ideen, darum passiert das oft unter der Dusche. Vielleicht ist das Ruhezustandsnetzwerk auch essenziell, um gerade jene Eigenschaften zu entwickeln, die wir geringschätzen, aber dringend bräuchten: Mitgefühl, Offenheit, Optimismus. Wer trotzdem lieber dauer-busy ist: Macht nur. Bitte hört einfach auf, ständig darüber zu reden.
Zeitschrift annabelle
von Darja Keller
Bild Pixabay