Franziska Schutzbach: «Frauen orientieren sich an Massstäben, die ihnen andere setzen»

Medien

annabelle – Sandra Huwiler – 

Franziska Schutzbach schreibt in ihrem Buch «Die Erschöpfung der Frauen» über ein System, das Frauen auslaugt, und wenig zurückgibt.

Ein Gespräch über konstante Verfügbarkeit, Dauer-Schuldgefühle, Handlangerinnen des Patriarchats – und darüber, wie sich die Situation von Frauen verbessern kann.

Wie und wann haben Sie zum ersten Mal realisiert, dass an Sie als Frau gesellschaftliche Ansprüche gestellt werden?
Den Anspruch, verfügbar sein zu sollen, habe ich schon als Mädchen und junge Frau gespürt bei zahlreichen sexuellen Belästigungen. Ganz selbstverständlich haben fremde Männer meine Aufmerksamkeit eingefordert, etwa durch Nachpfeifen, Sprüche oder die lautstarke Bewertung meines Aussehens. Für diese Erfahrung hatte ich damals aber noch keine Sprache. Ich dachte, das gehöre dazu und müsste ich ertragen.

Mit welchen gesellschaftlichen Erwartungen haderten Sie – oder tun dies noch heute?
Gehadert habe ich als junge Frau mit den Schönheitsnormen. Ich habe einen enormen Druck empfunden, schlank zu sein, super auszusehen. Das ist auch ein Thema im Buch, die Erschöpfung, die diese permanente Beschäftigung mit dem Körper mit sich bringt. Und als Mutter spürte ich das gesellschaftliche Ideal von Müttern – vor allem in der Schweiz, mit viel zu teuren Krippenangeboten, und damals noch viel zu wenigen davon. Ich habe beim ersten Kind noch studiert. Mir wurde klar, dass eigentlich nicht vorgesehen ist für mich als Mutter, noch anderes zu tun, als mich um den Nachwuchs zu kümmern.

Woher kommt diese Erwartungshaltung gegenüber Frauen in unserer Gesellschaft?
Da müssen wir historisch zurückschauen, die kapitalistische Wirtschaft hat eine bestimmte Arbeitsteilung etabliert, in der nur Warenproduktion und Profitmaximierung als Arbeit gelten. Alle anderen gesellschaftlich notwendigen Tätigkeiten wie Kinder gebären, aufziehen, alte und kranke Menschen pflegen werden abgewertet und ins Private ausgelagert. Sie werden so als Gratisressource vorausgesetzt und abgeschöpft.

«Die Erwartungshaltungen gegenüber Frauen und damit ihre Erschöpfung sind die Basis unseres ökonomischen Systems»

Wie kann das sein?
Es käme sehr teuer, wenn man diese Tätigkeiten angemessen bezahlen würde. Also hat man gesagt: Frauen sind von Natur aus zuständig dafür, machen das gern und aus Liebe. Deshalb können sie das gratis oder schlecht bezahlt übernehmen. Die Erwartungshaltungen gegenüber Frauen und damit ihre Erschöpfung sind die Basis unseres ökonomischen Systems.

Wie kommt es, dass Männern – auch fortschrittlichen, vermeintlich feministischen Männern – dieser Erwartungsdruck kaum bewusst ist?
Diejenigen, die unter einem System leiden und Benachteiligung erfahren, wissen meistens mehr darüber, weil sie mehr Leidensdruck haben. Männer profitieren vordergründig von patriarchalen Strukturen, die ihnen mehr Macht, Freiräume und Ressourcen ermöglichen und sie von bestimmten Aufgaben entbindet.

Gibt es auch eine Kehrseite dieser patriarchalen Medaille?
Ja, Männer leiden gleichzeitig auch. Etwa unter dem Druck, dauernd für Erwerbsarbeit verfügbar sein zu müssen, oder darunter, hart, gefühllos und konkurrenzorientiert sein zu müssen. Vielen Männern geht es schlecht. Sie nehmen eher Drogen, leben ungesund, sterben früher und gehen seltener zum Arzt. Aber es ist schwer für Männer, ihr eigenes Leiden am Patriarchat zu thematisieren, denn für sie ist Opfer sein oder über Schwäche und Verletzlichkeit reden ein Tabu.

Wie können wir Männern klar machen, wie wir uns fühlen, ohne dass sie sich gleich angegriffen fühlen?
Ich glaube das geht nicht, ohne dass Männer sich angegriffen fühlen. Die Herstellung von Gerechtigkeit bedeutet ein Verlust von Privilegien. Es bedeutet, dass diejenigen mit mehr Macht und Ressourcen diese teilen und die eigenen Verhaltensweisen überdenken müssen. Das wird nicht ohne Konflikte und Kränkung gehen.

«Selbst Krisen, Krankheit und Abstürze werden oft als Erfolgsstorys erzählt»

Welchen Anteil hat die Generation vor uns – unsere Mütter, Tanten, Grossmütter – daran, dass wir Frauen heute immer noch diesen Erwartungsdruck spüren, uns diesem kaum entziehen können?
Diese Generation hat vor allem sehr viel und unter widrigen Umständen, beispielsweise ohne Stimmrecht, erkämpft. Und Dinge ermöglicht, auf denen wir heute aufbauen können. Gleichzeitig handeln Frauen im Rahmen von patriarchalen Strukturen früher wie heute auch immer wieder als Täterinnen, als Handlangerinnen des Patriarchats. Indem sie bestimmte Erwartungen erfüllen, können sie selbst davon profitieren. Über diese Mittäterschaft müssen wir selbstkritisch sprechen. Es muss aber auch klar sein: Aus einer marginalisierten Position heraus ist es verständlich, wenn Menschen systemstützend handeln. Es ist auch Selbsterhaltung oder Überlebensstrategie, sich mit den Machtverhältnissen zu arrangieren.

Ist das auch ein Grund dafür, dass wir oft beweisen wollen, alles im Griff zu haben und Schwächen ungern zugeben?
Es ist Teil unserer erfolgsversessenen Gesellschaft, Negatives zu verbergen. Selbst Krisen, Krankheit und Abstürze werden oft als Erfolgsstorys erzählt, im Sinne von: Das hat mich stark gemacht, ich habe was gelernt. Man darf nie sagen: Ich bereue das, das hat mich auf der ganzen Ebene geschwächt, ich hätte es lieber nicht erlebt. In meinem Buch beschreibe ich, dass es eine Quelle für Erschöpfung ist, wenn wir Schmerz, negative Gefühle und Misserfolge nicht zeigen sollen.

Deshalb ziehen wir auch untereinander eine Show ab und üben so – vielleicht unbewusst – Druck auf andere Frauen aus.
Genau. Die Erfolgsdoktrin führt dazu, dass wir einander und der Welt vorspielen müssen, alles sei super. Zudem ist die Inszenierung von Erfolg, Schönheit und Perfektion der Eintrittspreis, um im Patriarchat mitmachen zu dürfen. Frauen dürfen jetzt zwar Karriere machen und Machtpositionen haben, aber dabei sollen sie auch weiterhin die traditionellen Rollen erfüllen. Also nicht vermännlichen, super aussehen, sexuell verfügbar und super Mütter sein. Der Preis, um mitmachen zu dürfen, ist, überall perfekt zu sein. Der Deal lautet: Powerfrau ja, aber nur wenn du gleichzeitig nicht deine traditionellen Verpflichtungen vernachlässigst.

Viele Frauen orientieren sich beim Vergleich untereinander an Frauen, die vermeintlich besser sind als sie – jünger, schlanker, hübscher, erfolgreicher, populärer – und fühlen sich dann schlecht. Können Sie sich erklären, woran das liegt?
Wir orientieren uns an Massstäben, die wir oft nicht selbst gemacht haben. Die Rolle der Frau ist in der patriarchalen Gesellschaft durch Männer und durch ein insgesamt frauenfeindliches System bestimmt worden. Schön und perfekt sein, sexuell attraktiv, eine top Mutter. Es ist schwierig, eigene Massstäbe und Vorstellungen zu entwickeln: Wie können wir Frauen sein in einer Gesellschaft, in der die Rolle der Frau immer schon dazu bestimmt wurde, männlichen Interessen gerecht zu werden? Das Einfachste scheint manchmal, den Platz einzunehmen, der uns zugewiesen wird. Aber bei genauer Betrachtung ist dieser Platz eben über alle Massen erschöpfend.

Nicht nur herrscht oft das Gefühl, nicht gut genug zu sein. Schuldgefühle sind ebenfalls weit verbreitet.
Viele Frauen haben andauernd Schuldgefühle. Es ist aus meiner Sicht wichtig, die historischen Hintergründe dieser Schuldgefühle zu kennen. Kulturgeschichtlich wurde die Frau immer schon als «Schuldige» definiert. Eva etwa gilt als Urheberin der Erbsünde, sie ist schuld an der Vertreibung der Menschen aus dem Paradies. Pandora öffnet in der griechischen Mythologie die Büchse und lässt die Monster auf die Welt. Und in den Märchen wimmelt es von bösen Stiefmüttern und Müttern. In diesen Darstellungen ist es oft die Schuld der Mutter, wenn bei Kindern etwas schiefläuft. Auch im Erziehungsdiskurs ist das zugespitzt worden. Viele psychologische Theorien führen die gesamte Entwicklung eines Kindes auf die Mutter zurück. Läuft etwas schief, ist es die Schuld der Mutter. Es gibt also eine grosse Angst, schuld zu sein.

«Die Systemrelevanz der Sorgearbeit muss endlich erkannt werden»

Wer profitiert von dieser Schuldzuweisung?
Gesellschaft und Wirtschaft profitieren davon insofern, dass viele Frauen in vorauseilendem Gehorsam versuchen, es allen recht zu machen. Und sich dauernd verausgaben, aufopfern und Milliarden Stunden gratis Sorgearbeit übernehmen. 

Ist die Emanzipation von Frauen ein Trugschluss? Je mehr wir alles unter einen Hut kriegen wollen, desto anstrengender und unmöglicher wird es doch auch.
Was wir heute unter Frauenemanzipation verstehen – ökonomisch unabhängig, erfolgreich, leistungsstark, selbstbestimmt, individuell – ist für die meisten Frauen kaum zu erreichen, das stimmt. Diese Ideale der Emanzipation sind vor allem nicht kompatibel mit dem, was sich trotz allem nicht verändert: Dass Frauen ständig verfügbar sein sollen für die Bedürfnisse anderer, für Hausarbeit, Pflege, Beziehung. Für die Herstellung von Harmonie, Gemütlichkeit und Glück. Dafür, dass andere sich von der harten Welt erholen können.

Wie äussert sich das?
In der Coronakrise wurde das zugespitzt deutlich. Frauen sind die Sozialpuffer, der Sozialstaatersatz, die alles auffangen und auch unter prekären Bedingungen Kinder und Kranke versorgen sollen. Und logisch lassen sie ihre Kinder oder Kranke nicht im Stich! Das ist das Fiese an dieser Zuständigkeit. Man kann sie nicht einfach bestreiken, wie man eine Automobilproduktion bestreikt. Diese sozialen Zuständigkeiten sind zwischenmenschlich hochkomplex. Wenn man streikt, riskiert man sofort, dass die Liebsten leiden, dass Menschen sterben.

Sie schreiben, Frauen seien unterschiedlich betroffen von Erwartungen. Wie meinen Sie das genau?
Frauen sind unterschiedlich von Verfügbarkeitsansprüchen betroffen. Privilegierte Frauen etwa können Verfügbarkeit oft an weniger privilegierte Frauen delegieren. Ich beschreibe in meinem Buch ein System der Care-Verlagerung. Millionen Migrantinnen weltweit, die meist unter arbeitsrechtlich ungeschützten Bedingungen in Privathaushalten arbeiten, hinterlassen wiederum in ihren Herkunftsländern grosse Lücken in ihren eigenen Familien, die wiederum von Grossmüttern, Tanten, Schwestern unter grossem Stress aufgefangen werden. Wir müssen über die Ausbeutung der Sorgearbeit auch global nachdenken.

Womit wir wieder beim Thema der Gratisressourcen wären, die von Frauen zur Verfügung gestellt werden.
Genau. Diese Arbeit wird abgewertet und ausgebeutet, weil sie wenig Profite verspricht. Aus einem kranken Menschen, der zur Toilette begleitet werden muss, lässt sich kein Profit machen. Die feministische Ökonomie (in der Schweiz zum Beispiel Mascha Madörin) weist seit langem auf das Problem hin. In der Automobilindustrie beispielsweise lässt sich outsourcen, automatisieren, die Arbeitszeit verdichten. Das senkt die Produktionskosten und steigert die Wertschöpfung. Im Gesundheits-, Pflege- und Erziehungssektor, in der Versorgung von Kindern ist das nicht in gleichem Masse möglich.

Was muss sich ändern?
Die Systemrelevanz der Sorgearbeit muss endlich erkannt werden. Sie ist zwar nicht im klassischen Sinne profiterzeugend, trägt aber trotzdem zur Wertschöpfung bei, wie in der Schweiz etwa Mascha Madörin oder Ina Praetorius aufzeigen. Nur wenn Menschen versorgt werden, kann eine Wirtschaft funktionieren. Bevor in der Wirtschaft etwas produziert werden kann, müssen ja erst mal Menschen geboren und grossgezogen werden. Die bisherige Wirtschaftspolitik ignoriert das komplett, denn natürlich lohnt es sich ökonomisch auf den ersten Blick, Sorgearbeit auszubeuten.

Und langfristig?
Auf den zweiten Blick zerstören wir damit unsere eigenen Grundlagen und erschöpfen unsere Ressourcen. Damit das ein Ende hat, muss die professionelle Sorgearbeit in der Pflege besser bezahlt werden, unter bessere Bedingungen gestellt und massiv aufgewertet werden. Das fordert die derzeitige Pflegeinitiative. Zudem müsste die Erwerbsarbeit reduziert werden. Wir müssen allen Menschen die Zeit und die Ressourcen zur Verfügung stellen, die für gelingende Sorgebeziehungen notwendig sind. Nur so können wir längerfristig nachhaltig ein gutes Leben führen.

Machtmissbrauch ist seit Jahren ein aktuelles Thema, dessen sich viele Männer nicht bewusst zu sein scheinen, in Unternehmen, aber auch im Privaten. Männer, die davon ausgehen, dass Frauen jederzeit verfügbar sind – körperlich, sexuell, emotional. Wie kann sich daran etwas ändern?
Wir müssen besser zuhören als bisher. Die Lösungen werden seit Jahrzehnten aufgezeigt und ausgearbeitet. Iris von Roten entwickelte in ihrem Buch «Frauen im Laufgitter» bereits vor fünfzig Jahren die Forderung, Erwerbsarbeitszeit für alle zu reduzieren. Auch der Frauenstreik hat vielfältige Lösungsansätze entwickelt und formuliert. Es gilt, den Blick dafür zu schärfen, was bereits alles getan, gedacht, vorgeschlagen wird. Und diese Initiativen und Ideen zu unterstützen, zu verstärken, sichtbar  zu machen. Wichtig ist vor allem: Sich mit anderen austauschen, nicht vereinzeln. Die grösste politische Kraft entsteht im Zusammenschluss. Und Männer können feministische Verbündete sein.

 

Der Artikel und mehr!

  • Bild: Anja Fonseka

 

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