Karin Ricklin im Gespräch mit Kristina Tänzler Spitalfachärztin.

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«Wenn Du im Topsharing arbeiten willst, brauchst Du Vorbilder»

Kristina Tänzler ist eine überzeugte Vertreterin und langjährige Anwenderin von Job- und Topsharing. In ihrer Masterarbeit stellt sie die These auf, dass Topsharing die ideale Lösung für den Mangel an Ärztinnen in Kaderpositionen darstellt.

Weshalb dieses Modell in den Kliniken trotzdem erst spärlich zur Anwendung kommt, wieso sie den Satz «früher war es auch schon so» nicht mehr hören kann und warum Tandems unter grossem Druck stehen, darüber hat sie im Interview mit Karin Ricklin von WEshare1 gesprochen.

 

Karin Ricklin: Du hast im letzten Jahr eine Masterarbeit mit dem Titel «Topsharing als Möglichkeit der Frauenförderung in Kaderpositionen in der Ärzteschaft im Inselspital» verfasst. Die Arbeit wurde mit dem HR Bern-Preis ausgezeichnet. Herzliche Gratulation! Weshalb hast Du dieses Thema gewählt?

Kristina Tänzler: Das Thema liegt mir sehr stark am Herzen. Einerseits bin ich mit einer alleinerziehenden Mutter aufgewachsen, die arbeitstätig war. Auch meine Grossmutter ernährte als alleinerziehende Mutter die Familie. Gleichzeitig ist meine Mutter als Schwedin in einem Umfeld aufgewachsen, in dem sich nicht automatisch die Frau um die Kinder kümmert. Vielmehr geht es darum zu klären, wer sich kümmert. Entsprechend war für meinen Partner und mich klar, dass wir uns die Kinderbetreuung aufteilen. Schliesslich waren es auch wir beide, die Kinder wollten. Wenn ich aber die Situation in der Schweiz betrachte, ist das nicht die Norm. Geht es darum zu entscheiden, wer in der Familie Karriere macht, ist das noch immer der Mann, die Frau bleibt zu Hause und kümmert sich um die Kinder. Zu Beginn meiner Laufbahn, in der Rolle als Assistenzärztin, zeigte sich das deutlich: Als Frau war ich in der Überzahl, mit zunehmender Hierarchiestufe sank jedoch der Frauenanteil rapide. Das hat mich gestört und ich verstand nicht, wieso nicht beides möglich ist: Karriere und Familie. Gesellschaftspolitische Themen spielen hier eine zentrale Rolle. So lange es die Norm ist, dass Mütter beruflich zurückstecken, sind neue Ansätze gefragt. Es braucht Modelle, die es ermöglichen, auch in Teilzeit Karriere und Familie miteinander zu vereinbaren. Daher habe ich mich für Topsharing als Thema meiner Masterarbeit entschieden. Ich sehe hier ein grosses Potential.

 

„Es braucht Modelle, die es ermöglichen, auch in Teilzeit Karriere und Familie miteinander vereinbaren zu können.“

 

KR: Du sprichst die «leaky pipeline» an, die Du auch in Deiner Arbeit thematisierst: Mit einem Anteil von rund 60% schliessen Frauen mittlerweile häufiger ein Medizinstudium ab als Männer, mit zunehmender Hierarchie schwindet jedoch die Anzahl der Ärztinnen. Der Frauenanteil bei den Chefärzt*innen beträgt z. B. am Inselspital lediglich noch 10% (Anm. d. Red.: Dieser Wert bezieht sich auf den Zeitpunkt des Verfassens der Masterarbeit). Die Familiengründung spielt eine entscheidende Rolle. Welche Mechanismen laufen da ab?

KT: Zu Beginn einer Laufbahn als Chefärztin geht es darum, als Assistenzärztin im Spitalalltag anzukommen und klinisch zu arbeiten. Anschliessend folgt die Tätigkeit in der Forschung. Die Voraussetzung für den nächsten Karriereschritt ist eine Habilitation. Das bedeutet, nebst der klinischen Arbeit auch noch zu forschen. Diese Phase fällt üblicherweise genau in den Zeitraum, in dem Ärztinnen Mütter werden, also um die Mitte 30. Es gilt dann, alle drei Bereiche unter einen Hut zu bringen: Familie, klinisch arbeiten und forschen. Möchte eine Frau alle drei Dinge gleichzeitig durchziehen, braucht sie entweder den perfekten Partner oder sie muss zu Hause über ein System verfügen, welches die Dreifachbelastung abfedern kann. Ist dies nicht gegeben, muss frau sich entscheiden. Üblicherweise wird dann die Habilitation nach hinten verschoben oder ganz weggelassen. Hinzu kommt, dass Frauen gerade in dieser Phase oft den Wunsch nach Teilzeit äussern. Dies führt in der Regel dazu, dass sie nicht mehr gefördert werden, da sie ja quasi «nur» noch Teilzeit arbeiten. Oder aber es gibt keine Teilzeitstellen und die Frauen scheiden ganz aus.

 

„Hinzu kommt, dass die Frauen gerade in dieser Phase oft den Wunsch nach Teilzeit äussern. Dies führt in der Regel dazu, dass sie nicht mehr gefördert werden, da sie ja quasi «nur» noch Teilzeit arbeiten.“

 

KR: Weshalb siehst Du Topsharing als geeigneten Lösungsansatz für diese Herausforderungen?

KT: Momentan ist immer noch das Bild vorherrschend, dass Präsenz ein entscheidender Faktor ist, um im Spital Karriere zu machen. Nur wer anwesend ist, kommt auch weiter. Interessant ist, dass ein Chefarzt ja auch nicht ständig vor Ort ist, z. B. wegen Sitzungen oder Tätigkeiten im Rahmen diverser Gremien. Im Gegensatz zu einer Frau, die im Rahmen ihrer Teilzeittätigkeit nicht immer vor Ort ist oder vielleicht vermehrt im Home Office arbeitet, wird er nicht als abwesend wahrgenommen. Klar, eine gewisse Anwesenheit ist nötig. Und genau hier kommt das Topsharing zum Zug: Eine Frau erhält so die Gelegenheit, den vermeintlichen Mangel an Präsenz zu kompensieren. Teilen sich zwei einen Job, ist immer jemand anwesend. Die Klink stellt ihrerseits sicher, dass sie nicht erfahrene Mitarbeitende verliert, in deren Weiterentwicklung sie bereits über 10 Jahre investiert hat.

 

„Die Klink stellt ihrerseits sicher, dass sie nicht erfahrene Mitarbeitende verliert, in deren Weiterentwicklung sie bereits über 10 Jahre investiert hat.“

 

KR: Insbesondere vor dem Hintergrund des akuten Fachmangels im Medizinbereich können sich Kliniken durch Topsharing einen Wettbewerbsvorteil verschaffen. Wo siehst Du aus Sicht der Kliniken weitere Vorteile?

KT: Beim Job- bzw. Topsharing sind zwar zwei Köpfe in Teilzeit angestellt, beide denken jedoch zu 100% mit. Dadurch können bei Herausforderungen neue Lösungsansätze und Ideen gefunden werden, was schlussendlich auch den Patienten zu Gute kommt. Ähnlich beim Vier-Augen-Prinzip; da immer eine zusätzliche Person in den laufenden Fällen involviert ist, kann eine umfassendere Betrachtungsweise sichergestellt werden. Ein weiterer Faktor liegt in der Produktivität. Bei Personen, die 100% arbeiten, fällt mir oft auf, dass sie sich für einzelne Aufgaben mehr Zeit lassen, ein wenig «herumtrödeln». Als Teilzeitmitarbeiterin kann ich mir das nicht leisten. Ich weiss, in meinen vier Tagen muss ich alles Nötige erledigt haben, entsprechend speditiv bin ich unterwegs. Hinzu kommt, dass Personen, die in einem Tandem arbeiten, in der Regle hoch motiviert und sehr gut organisiert sind. Bei Unvorhergesehenem reagieren sie flexibel und sind bereit, den erforderlichen Zusatzeffort zu leisten.

 

„Beim Job- bzw. Topsharing sind zwar zwei Köpfe in Teilzeit angestellt, beide denken jedoch zu 100% mit. Dadurch können bei Herausforderungen neue Lösungsansätze und Ideen gefunden werden, was schlussendlich auch den Patienten zu Gute kommt.“

 

KR: Wenn so viele Vorteile damit verbunden sind, müssten in den Kliniken zahlreiche Tandems beschäftigt sein. Dem ist aber nicht so. Woran liegt`s?

KT: In vielen Köpfen ist immer noch die erwähnte Präsenzkultur vorherrschend. Eine Person ist nicht die ganze Woche über verfügbar? Zu kompliziert, das kann nicht funktionieren. In der Realität gibt es natürlich längst Beispiele, dass es sehr wohl funktioniert. Nur eben, wir haben es hier mit überholten Haltungen zu tun. Ein Satz, der in diesem Zusammenhang oft geäussert wird und den ich nicht mehr hören mag: «Früher war es auch schon so». Selbstverständlich, ein gewisser Mehraufwand gehört bei einem Job- bzw. Topsharing dazu, insbesondere zu Beginn. Aber die Vorteile überwiegen die Nachteile bei Weitem. Nebst der Präsenzkultur spielen auch überhöhte Erwartungen eine bedeutende Rolle. Auf neuen Job- und Topsharingduos lastet ein grosser Druck, erfolgreich sein zu müssen. Je höher sich das Tandem in der Hierarchie befindet, umso intensiver wird dieser Druck. Meine Topsharing-Partnerin und ich haben dies stark gespürt, als wir vor rund acht Jahren im Duo als Spitalfachärztinnen gestartet sind. Da es zu diesem Zeitpunkt kaum andere Tandems gab, wussten wir; wenn wir scheitern, scheitert auch das Modell. Denn im Gegensatz zu einer Person in einer 100% Stelle wird nicht die Person bzw. deren Leistung in Frage gestellt, sondern das Modell an sich. Es hat nicht funktioniert? Das muss am Topsharing liegen! Bis das Modell dann wieder eine Chance erhält, kann es lange dauern.

 

„Auf neuen Job- und Topsharingduos lastet ein grosser Druck, erfolgreich sein zu müssen. Je höher sich das Tandem in der Hierarchie befindet, umso intensiver wird dieser Druck.“

 

KR: Du verfügst über mehr als zehn Jahre Job- und Topsharingerfahrung und hast Dich im Rahmen Deiner Masterarbeit intensiv mit dem Thema beschäftigt. Woran liegt es denn, wenn ein Duo im Klinikalltag scheitert?

KT: Sowohl die eigene Persönlichkeit als auch die Kombination aus beiden Persönlichkeiten spielt eine zentrale Rolle. Im klinischen Bereich braucht es Übereinstimmung: Will die eine Person im Duo ständig alles bis ins Detail abklären, die andere ist hingegen pragmatisch unterwegs, führt dies zu einem enormen Mehraufwand. Und zwar nicht nur fürs Umfeld, sondern auch für das Duo selbst. Was ebenfalls nicht passieren darf ist, sich illoyal dem Partner bzw. der Partnerin gegenüber zu verhalten. Ist sich das Duo bei Entscheiden nicht einig, muss dies immer untereinander geklärt werden. Den daraus resultierenden Entscheid gilt es als Einheit gegenüber dem Umfeld zu vertreten. Beide müssen zudem über eine ausserordentlich hohe Kritikfähigkeit verfügen und im Vorfeld zentrale Fragen miteinander klären; wie wollen wir uns organisieren? Wie kommunizieren wir miteinander? Wer ist für welche Ressorts zuständig? Wollen wir auch an freien Tagen füreinander erreichbar sein? Letztendlich dreht sich alles um Organisation und Kommunikation: Je besser beides funktioniert, desto geringer die Gefahr des Scheiterns. Was allerdings nicht vergessen werden darf, ist das Commitment der obersten Führungsebene. Ist diese vom Modell nicht überzeugt, scheitern auch die besten Tandems.

 

„Letztendlich dreht sich alles um Organisation und Kommunikation: Je besser beides funktioniert, desto geringer die Gefahr des Scheiterns.“

 

KR: In unserem Blog gibt es mit Lukas, Ilona & Yvonne sowie Rahel & Alexander mehrere Beispiele dafür, dass sich ein Duo nicht vorgängig kennen muss, um Erfolg zu haben. Welche Erfahrungen hast Du gemacht?

KT: Die Tandem-Partnerinnen, mit denen ich in meiner Laufbahn bisher zusammengearbeitet habe, kannte ich vorher beide nicht. Meine aktuelle Topsharing-Partnerin und ich sind ausserdem ziemlich unterschiedlich. Dennoch arbeiten wir bereits seit acht Jahren erfolgreich zusammen. Unser Vorgesetzter findet sogar, wir seien wie ein altes Ehepaar (lacht). Insbesondere zu Beginn war es essentiell, dass wir beide eine grosse Offenheit an den Tag legten. Es galt, sich immer wieder neu ans Gegenüber anzupassen und einen gemeinsamen Weg zu finden. Mittlerweile funktioniert das so gut, dass wir z. B. eigene Codes haben, mit denen wir Situationen sehr schnell untereinander austauschen können. Aber klar, wenn beide bereits vorher zusammengearbeitet haben, ist das sicher hilfreich.
„Unser Vorgesetzter findet sogar, wir seien wie ein altes Ehepaar.“

KR: Wenn es um Jobsharing im Medizinbereich geht, erlebe ich oft folgende Situation: Bei Personen, die grundsätzlich positiv eingestellt sind gegenüber Jobsharing, kommt schnell einmal der Vorbehalt, dass das bei Ärzt*innen nicht ginge. Schliesslich sei hier ja eine enge, vertraute Bindung zu einer Bezugsperson wichtig, beispielsweise bei Gynäkolog*innen. Wie siehst Du das?

KT: Das erlebe ich im Alltag nicht so. Ganz wichtig scheint mir hier die Kommunikation. Wenn ich z. B. zum ersten Mal auf einen Patienten oder eine Patientin treffe, informiere ich gleich zu Beginn offen und transparent: «Grüezi, ich bin eine von zwei Oberärztinnen, meine Kollegin und ich tauschen uns regelmässig aus». Wichtig ist, dass klar wird: Die Infos fliessen, beide wissen Bescheid und vermitteln dem Gegenüber das Gefühl, gut aufgehoben zu sein. In der Pflege, die ja teilweise noch sehr viel näher im körperlichen Kontakt mit Patient*innen ist, kommt es aufgrund der Schichtpläne ohne grosse Vorbehalte der Patient*innen zu noch viel häufigeren Wechseln der Ansprechpersonen. Natürlich gibt es immer Patient*innen, die nur genau diesen einen Arzt oder diese eine Ärztin haben wollen. Aber auch dort kann es z. B. sein, dass eine Pensionierung ansteht und jemand Neues gesucht werden muss.

 

„Wichtig ist, dass klar wird: Die Infos fliessen, beide wissen Bescheid und vermitteln dem Gegenüber das Gefühl, gut aufgehoben zu sein.“
KR: Gibt es denn Rollen, die sich im Klinikumfeld gar nicht für ein Job- oder Topsharing eignen?
KT: Nein. Aus meiner Erfahrung sind Job- und Topsharing grundsätzlich überall möglich. Es steht und fällt einzig mit der Organisation und den involvierten Personen. Alle müssen dieses Modell wollen, dann funktioniert es auch. Nur der neu eintretenden Assistenzärztin bzw. dem neu eintretenden Assistenzarzt empfehlen wir, zuerst drei Monate Vollzeit zu arbeiten. Diese Zeit ist wichtig für sie, um im Spital ankommen und sich mit den Abläufen vertraut machen zu können.
„Alle müssen dieses Modell wollen, dann funktioniert es auch.“
KR: Welchen Tipp gibst Du Ärzt*innen, die durch Topsharing Karriere und Familie unter einen Hut bringen wollen?
KT: Wenn Du im Topsharing arbeiten willst, brauchst Du Vorbilder, die Dich motivieren und Dir zeigen: Es gibt andere, die es ebenfalls geschafft haben. Sobald Du als Tandem unterwegs bist, ist es wichtig, beispielsweise im Rahmen eines Mentorings Unterstützung von Personen zu erhalten, die diese Situation kennen. Wie erwähnt ist der Druck, der auf Tandems lastet, oft besonders hoch. Unterstützung von aussen kann in solchen Situationen sehr hilfreich sein.
„Wenn Du im Topsharing arbeiten willst, brauchst Du Vorbilder, die Dich motivieren und Dir zeigen: Es gibt andere, die es ebenfalls geschafft haben.“

KR: Herzlichen Dank, liebe Kristina, für dieses Gespräch und weiterhin viel Erfolg bei Deinem Wirken als Vorbild

Da wir bei WEshare1 ebenfalls überzeugt davon sind, dass Vorbilder essentiell sind, haben wir die #seeingisbelieving Reihe ins Leben gerufen: Was wir sehen, das glauben wir. Kristina ist ein wichtiges Vorbild für angehende Ärztinnen und Ärzte. Langsam, aber sicher, folgen weitere. Umso mehr freut es uns, im kommenden Beitrag über zwei Co-Chefärztinnen berichten zu können.

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