Was Sie nicht umbringt, macht Sie auch nicht stärker

Fokus

Republik – Cornelia Eisenbach

Hat unser Immun­system in der Pandemie verlernt, mit Grippe und Co. umzugehen? Wie unsere Abwehr funktioniert und warum die Vitamin-C-Tablette wahrscheinlich nicht hilft.

Die ersten Schnee­glöckchen kämpfen sich hervor. Sie recken sich den Passanten hoffnungsvoll entgegen, als wollten sie sagen: Jetzt ist dieser ganze Mist endlich vorbei.

Aber was für ein Mist war das eigentlich?

Es war die erste Herbst-Winter-Saison seit Beginn der Pandemie, in der das Coronavirus unseren Alltag nicht mehr dominierte. Mehr als 90 Prozent der Schweizer Bevölkerung haben Antikörper gegen Sars-CoV-2. In der S-Bahn sitzen viele Menschen ohne Maske. Restaurants, Kino, alles, wie man es sich von früher gewohnt ist.

Und doch: Busse und Trams standen in den letzten Monaten immer wieder einmal still, weil so viele Fahrerinnen im Bett bleiben mussten. Regelmässig blieben Büro­kollegen zu Hause, um den kranken Nachwuchs zu hüten. Spitäler, insbesondere für Kinder, waren voll ausgelastet, zeitweise sogar überlastet.

Grippe und Infektionen mit dem Respiratorischen Synzytial-Virus, besser bekannt als RSV, trugen diesmal die Haupt­schuld. Infektions­wellen mit diesen Erregern waren in den vergangenen zwei Jahren ausgeblieben, verschoben oder flacher als sonst. Nun sind sie mit voller Wucht zurück­gekehrt: Auf dem Höhe­punkt der aktuellen Influenza­welle verzeichnete das Bundesamt für Gesundheit etwa doppelt so viele Fälle wie in den Jahren davor. Die RSV-Welle bei den Kindern ist in der aktuellen Saison etwa dreimal so hoch wie im vergangenen Jahr.

Haben wir unser Immun­system die letzten Jahre zu sehr verhätschelt? Sind diese massiven Krankheits­wellen die Rechnung dafür, dass wir uns durch Masken­tragen, Meiden von Gross­veranstaltungen und Abstandhalten nicht nur vor dem Corona­virus geschützt haben, sondern auch vor allem anderen?

Möglicher­weise haben Ihnen die Algorithmen sozialer Netzwerke den Begriff «Immun­schuld» in die Timeline gespült, sodass Sie sich nicht nur krank, sondern auch schlecht, gar schuldig fühlten.

Zeit, heraus­zufinden, wie Ihr Immun­system den letzten Herbst erlebt hat. Zeit, einige spezielle und generelle Fragen zu Ihrem persönlichen Bodyguard zu klären.

  1. Holen wir diesen Winter Infektionen nach, vor denen wir uns in den vergangenen Jahren geschützt haben?

  2. Sehen wir so viele Krankheits­fälle, weil Covid-19 unser Immun­system geschwächt hat?

  3. Wieso sprechen manche von einer «Immun­schuld»?

  4. Erinnert sich das Immun­system an frühere Infektionen und wenn ja, wie?

  5. Müssen wir krank werden, um unser Immun­system zu trainieren?

  6. Was ist mit den Kindern: Müssen sie krank werden, damit sich ihr Immun­system aufbaut?

  7. Ist Kontakt mit Keimen für Kinder wichtig, damit sich keine Allergien bilden?

  8. Wie kann ich mein Immun­system stärken?

Bevor es losgeht, noch ein kleiner Disclaimer in Form eines Witzes:

Eine Immunologin und ein Kardiologe werden entführt. Die Entführer wollen einen von beiden erschiessen. Weil sie sich nicht entscheiden können, wen, beschliessen sie, den zu verschonen, der mehr für die Menschheit geleistet hat. Der Kardiologe sagt: «Die von mir entwickelten Medikamente haben Millionen von Menschen das Leben gerettet.» Beeindruckt wenden sich die Entführer an die Immunologin. «Und was haben Sie geleistet?»

Die Immunologin macht ein nachdenkliches Gesicht: «Wissen Sie, das Immun­system ist äusserst kompliziert. Lassen Sie mich erklären …» Darauf ruft der Kardiologe: «Bitte erschiessen Sie einfach mich!»

Das Immun­system ist also unglaublich komplex. Doch so leicht wie dieser Kardiologe geben wir uns nicht geschlagen. Stattdessen haben wir uns in Büchern, Studien und bei fachkundigen Expertinnen schlaugemacht, namentlich:

  • Jan Fehr, Infektiologe am Institut für Epidemiologie, Biostatistik und Prävention der Universität Zürich

  • Johannes Trück, Leitender Arzt Immunologie und Abteilungs­leiter Allergologie am Kinder­spital Zürich

  • Claudia Daubenberger, Immunologin und Leiterin der Abteilung Klinische Immunologie am Schweizerischen Tropen- und Public-Health-Institut in Basel

1. Holen wir diesen Winter Infektionen nach, vor denen wir uns in den vergangenen Jahren geschützt haben?

Ganz so einfach ist es nicht. Das Immun­system ist kein Konto, auf das wir regelmässig Infektionen einzahlen müssen, weil wir uns sonst Schulden auflasten.

Eine Immun­schuld gibt es nicht, da sind sich alle Experten einig, die die Republik befragt hat. «Es ist kein medizinisches Konzept, und es trifft auch nicht das Wesen des Immun­systems», sagt der Infektiologe Jan Fehr.

Nehmen wir an, Sie konnten einmal gut Spanisch, haben es nun aber längere Zeit nicht mehr gesprochen. Dann treffen Sie eine Spanierin, und es fällt Ihnen schwer, sich an gewisse Wörter zu erinnern. «Die Wörter sind noch in Ihrem Gedächtnis, doch es dauert, bis Sie sich daran erinnern können», sagt Fehr. «So ähnlich geht es dem Immun­system, das einen Erreger eine Zeit lang nicht gesehen hat.» Das bedeute aber nicht, dass das Sprach­vermögen insgesamt gelitten habe. «Einzig Spanisch, in diesem Beispiel, ist etwas verblasst.»

Das heisst: Das Immun­system kennt zwar die Erkältungs­viren, mit denen Sie im Laufe Ihres Lebens bereits Bekanntschaft geschlossen haben. Aber fällt diese Begegnung einmal aus, dann dauert es länger, bis das Immun­system die richtigen Waffen zur Bekämpfung parat hat.

Da es länger dauert, entwickeln Sie Symptome. Weil das nicht nur Ihnen so geht, sind viele Leute gleichzeitig krank und die bekannten saisonalen Wellen fallen höher aus als sonst.

Kommt hinzu, dass das Grippe­virus die unangenehme Eigenart hat, sich von Jahr zu Jahr zu verändern. Es mutiert nicht nur – wie Sars-CoV-2 –, sondern es kann grosse Erbgut­abschnitte verschiedener Varianten immer wieder neu kombinieren. Selbst wenn Sie im vergangenen Jahr die Grippe hatten, kann dieses Jahr eine andere Spielart zirkulieren, die Ihr Immun­system vielleicht nicht erkennt. Oder von der es bloss die vage Vermutung hat, dass es Influenza sein könnte.

Bei Kindern und der RSV-Welle vom vergangenen Herbst ist es etwas anders. Hier geht es nicht um eine wiederholte Infektion mit einem bekannten Erreger, sondern um die sogenannte Erst­infektion. Das RS-Virus befällt rund 90 Prozent der Kinder in den ersten zwei Lebens­jahren.

Wahrscheinlich zirkulierte dieses Virus aufgrund der Corona-Massnahmen in den vergangenen Jahren weniger, wodurch sich weniger Kinder im ersten oder zweiten Lebens­jahr infizierten. Im vergangenen Herbst breitete sich RSV aber wieder ungehindert aus, sodass es nun mehrere Jahr­gänge auf einmal erwischte. Hier kann man also von einer Art «Nachhol­effekt» sprechen, bestätigt Infektiologe Fehr.

Allerdings steht noch eine andere These im Raum:

2. Sehen wir so viele Krankheits­fälle, weil Covid-19 unser Immun­system geschwächt hat?

«Das ist die grosse Blackbox», sagt Immunologin Claudia Daubenberger. Es gibt Studien, die darauf hindeuten. Eine aktuelle Analyse untersuchte zum Beispiel das Immun­system von Personen, die einen milden Verlauf von Covid-19 hatten. Im Vergleich mit gesunden Probandinnen war ihre Immun­abwehr noch Monate nach der Infektion verändert. So war der Spiegel bestimmter Immun­zellen erhöht, wovon Männer stärker betroffen waren als Frauen. Und manche Komponenten des angeborenen Immun­systems waren unterdrückt. (Epidemiologische Studien dazu, welchen Anteil der Infizierten das betrifft, gibt es noch keine.)

Möglicherweise würden wir durch solche langfristigen Veränderungen unserer Abwehr anfälliger für andere respiratorische Infekte, so Daubenberger. Denn ob uns eine Infektion krank macht oder nicht, hängt – wie schon beschrieben – davon ab, wie schnell die Abwehr­stoffe wie Zytokine und Chemokine, T-Zellen und Antikörper bereit sind: Je schwächer das Immun­system ist, desto länger dauert diese Bereitstellung und desto eher entwickeln wir Symptome.

Das könne unter anderem die hohen Fallzahlen respiratorischer Infekte erklären. Aber Daubenberger betont: «Noch ist es nur ein Verdacht.»

3. Wieso sprechen manche von einer «Immun­schuld»?

Hinter dem Begriff steht die Idee, dass wir unserem Immun­system durch Corona-Schutz­massnahmen geschadet haben und es sich nun nicht mehr richtig zur Wehr setzen kann.

Echte Belege dafür gebe es nicht, schreibt der Molekular­biologe Emanuel Wyler in einem Artikel. Vielmehr «dient der Begriff jenen als Kampf­begriff, die in den Massnahmen zur Eindämmung einen Haupt­grund allen Übels in der Pandemie sehen».

Der Begriff «immune debt», also Immun­schuld, geht laut einer Analyse von Counter Disinformation Project zurück auf einen Artikel von französischen Ärzten aus dem Jahr 2021, in dem «Immun­schuld» als Hypothese diskutiert wird, ohne konkrete Evidenz. Vorher tauchte der Begriff in der medizinischen Literatur nicht auf. Es war das «Wall Street Journal», das den Begriff schliesslich ins breite öffentliche Bewusstsein hievte. Beweise für die Existenz dieses angeblichen Phänomens gibt es bis heute nicht.

4. Erinnert sich das Immun­system an frühere Infektionen und wenn ja, wie?

Falls Sie kleine Kinder haben oder hatten, kennen Sie vermutlich die Nächte, in denen eine verstopfte Nase die Kleinen (und auch Sie) um den Schlaf bringt. In diesen Nächten machen Sie Bekanntschaft mit dem angeborenen Immun­system Ihres Nachwuchses. Es organisiert Abwehr­stoffe, tötet infizierte Zellen und produziert dabei jede Menge Rotz.

Es ist fast sicher, dass Ihr Liebling seine Viren mit Ihnen teilt. Und doch merken Sie in den kommenden Tagen möglicherweise überhaupt nichts davon: Sie sind immun. Das haben Sie Ihrem Immun­gedächtnis zu verdanken, das sich an frühere Infektionen mit dem gleichen Erreger erinnert.

Dieses Gedächtnis geht zurück auf schlaflose Nächte, die auch Sie als Kind einmal durch­gemacht haben müssen. Damals hat Ihr Immun­system nicht nur seine angeborene Immun­abwehr aktiviert. Es hat die Eindringlinge auch gewissenhaft zerstückelt, um dann mit den Bruch­stücken durch Ihren Körper zu patrouillieren und zu sagen: «Schau, so sieht der Feind aus.»

An solchen «Leichen­teilen» sind bestimmte Immun­zellen besonders interessiert, nämlich die T- und B-Zellen. Vereinfacht gesagt: B-Zellen produzieren Anti­körper gegen die Bruch­stücke. Die Anti­körper können sich dann direkt an die Viren binden und verhindern, dass diese in unsere Körper­zellen eindringen.

Daneben gibt es noch die sogenannten Killer-T-Zellen. Sie erkennen auch Bruch­stücke, suchen aber nicht nach Viren, sondern nach Körper­zellen, die diese Bruch­stücke auf sich tragen und somit verraten, dass sie infiziert sind. Daraufhin erweisen sie ihrem Namen alle Ehre und killen die infizierten Zellen.

Die Patrouille mit den Bruch­stücken, die Vermehrung der B- und T-Zellen und die Antikörper­produktion dauern allerdings ein paar Tage. Das bedeutet Vorsprung für das Virus und Zeit, in der wir merken, dass sich unser Körper wehrt: Wir haben Fieber, Schnupfen, Husten.

Wichtig ist: Die B- und T-Zellen verschwinden nach ihrem Einsatz nicht einfach wieder. Ein kleiner Teil von ihnen bleibt zurück, als Gedächtnis­zellen. Etwa 100 Milliarden solcher Gedächtnis­zellen leben in Ihrem Körper. Beim nächsten Besuch des Virus sind die Antikörper und die T-Zellen schon am Start, die Immun­abwehr ist schneller und stärker. So, dass Sie nicht mehr krank werden. Sie sind «immun», und das verdanken Sie dem Immun­gedächtnis.

5. Müssen wir krank werden, um unser Immun­system zu trainieren?

Nein. Regelmässiger Kontakt mit verschiedenen Erregern hält unser Immun­system zwar in der Übung, frischt sozusagen sein Gedächtnis auf. Daraus folgt allerdings nicht, dass krank zu sein per se gut ist. Denn unser Immun­system ist längst nicht nur aktiv, wenn es gerade ein Influenza- oder RS-Virus niederringt.

Der Infektiologe Jan Fehr unterscheidet zwischen Infektion und Exposition. Exposition bedeutet, wir haben zwar mit den Keimen zu tun, erkranken aber nicht. Ein Streif­schuss sozusagen. Und dieser Streif­schuss reicht aus, um unser Immun­system im Training zu halten. Fehr nennt als Beispiel das Zähne­putzen. Dabei entstehen regelmässig kleinste Verletzungen in der Mund­schleim­haut. Die Bakterien der Mund­höhle gelangen ins Blut, also an einen Ort, der steril ist und bleiben muss. «Wäre das Immun­system nicht da, dann hätten Sie vom Zähne­putzen eine Blut­vergiftung», so Fehr. Unsere Abwehr ist also immer aktiv und im Training, auch wenn wir nichts davon spüren.

Ob wir uns schliesslich eine Grippe einfangen oder nicht, hat nicht nur damit zu tun, wie gut sich unser Immun­system an den Erreger erinnert. Es gibt noch weitere wichtige Faktoren.

Einer dieser Faktoren ist unser Erbgut. Manche Menschen sind für bestimmte Erreger empfänglicher als andere. Diese Unterschiede sind angeboren. Auch für Sars-CoV-2 kennt man solche Effekte.

Ein weiterer Faktor ist die Virus­menge, die wir abkriegen. Sie bestimmt, ob und wie schwer wir erkranken. «Die Dosis entscheidet, ob ich wirklich eine Woche lang im Bett liege oder ob ich mich nur einen Tag lang unwohl fühle», sagt die Immunologin Daubenberger. Deswegen sei es weiterhin sinnvoll, während der Erkältungs­saison im öffentlichen Verkehr eine Maske zu tragen. Dies vor allem, wenn man unter Vorerkrankungen leide, die den Verlauf einer Coronavirus­infektion verschlimmerten.

Denn, und das ist seit der Pandemie ein besonders wichtiger Punkt: Die Maske verhindert nicht, dass wir in Kontakt kommen mit den Erregern, die gerade im Umlauf sind. Sie verringert die Infektions­dosis, der wir uns selbst aussetzen. Und die Dosis, die wir in die Luft pusten und der wir somit unsere Nachbarn aussetzen.

Wir können den Kontakt mit Erregern nicht vermeiden. Aber es gibt Situationen, von denen wir wissen, dass sie Keime an uns herantragen, und dann können wir uns schützen. Wir tun das, oft unbewusst, jeden Tag: zum Beispiel, indem wir uns die Hände waschen, unsere Lebensmittel kühl lagern oder Trink- von Abwasser trennen. Schlecht für unser Immun­system ist das keinesfalls.

Im Gegenteil: Infektions­krankheiten können, selbst wenn wir sie unbeschadet überstehen, böse Folgen haben, sogenannte Sekundär­infektionen. Während der Spanischen Grippe in den Jahren 1918 und 1919 gingen die meisten Todes­fälle vermutlich auf das Konto von gewöhnlichen Bakterien der oberen Atem­wege, die eine sekundäre Lungen­entzündung verursacht haben. Und von Langzeit­folgen noch Wochen und Monate nach einer Infektion wissen wir spätestens seit Long Covid.

Was tatsächlich hilft, das Immun­system zu trainieren, und nicht nur vor schwerwiegenden Infektionen, sondern auch vor Spät­folgen schützt, das sind: Impfungen. Die Impfung gegen Influenza beispielsweise verhindert in Deutschland bei über 60-Jährigen schätzungs­weise 400’000 Grippe­erkrankungen pro Jahr. Und die Impfung gegen Sars-CoV-2 hat nicht nur massgeblich dazu beigetragen, die Pandemie zu bekämpfen, sie kann auch Long Covid vorbeugen – insbesondere bei Leuten, die sowohl geimpft sind als auch mit Omikron infiziert waren.

6. Was ist mit den Kindern: Müssen sie krank werden, damit sich ihr Immun­system aufbaut?

Die Bekanntschaft mit der Welt der Viren, Bakterien und Parasiten schult also unsere Abwehr­kräfte. «Das Immun­system muss durchaus mit Erregern in Kontakt kommen, um sich aufzubauen», schreibt der Immunologe Johannes Trück vom Zürcher Kinder­spital. «Es muss aber nicht sein, dass diese Erreger eine klinisch bemerkbare Infektion verursachen und krank machen.» Wahrscheinlich liefen die meisten Begegnungen unbemerkt ab.

Wichtig sind aber auch nicht krank machende Erreger, wie Haut- oder Darm­bakterien sowie andere Fremd­stoffe aus der Natur. «Sie helfen dem lernenden Immun­system, sich auf zukünftige Kontakte mit Krankheits­erregern vorzubereiten, auch mit solchen, die sie noch nicht kennengelernt haben», so Trück.

Die Abwehr der Kinder bildet sich also auch aus, wenn sie nicht mit Fieber in den Seilen hängen. Kinder werden krank, ja. Aber für ein gesundes Immun­system ist es nicht nötig, eine Infektion zu provozieren, wie manche Eltern das beispiels­weise auf Masern-Partys tun.

Denn Infektionen können nicht nur, wie bereits beschrieben, böse Sekundär­infektionen nach sich ziehen. Auch das Ziel, damit das Immun­system aufzubauen oder zu stärken, kann nach hinten losgehen.

Eine Masern­infektion schwächt das Immun­system von Kindern über mehrere Jahre und macht sie sogar anfälliger für weitere Infektionen: Zwei Studien aus den USA und Grossbritannien mit ungeimpften Kindern aus dem Jahr 2019 zeigten auf, dass das Masern­virus Immun­zellen auslöscht und die Vielfalt der im Laufe des Lebens gebildeten Antikörper reduziert, etwa gegen Herpes oder Grippe. Die Masern­infektion sorgt für einen richtig­gehenden Gedächtnis­schwund des Immun­systems.

Hinzu kommt, dass die Infektion noch Jahre später eine tödliche Hirn­entzündung nach sich ziehen kann. Der beste Schutz gegen eine Masern­infektion und die durch diese Erkrankung ausgelösten Komplikationen sei die Masern­impfung, so Immunologe Trück.

7. Ist denn Kontakt mit Keimen für Kinder nicht wichtig, damit sich keine Allergien bilden?

In der westlichen Welt leidet einer von fünf Menschen an einer Allergie. Zum Beispiel auf Pollen, Nüsse oder Schalentiere wie Crevetten. Stoffe, die eigentlich harmlos sind, gegen die sich ihr Immun­system aber mit Händen und Füssen wehrt. Autoimmun­erkrankungen wie Multiple Sklerose oder Asthma haben seit den 1950er-Jahren auf das Dreifache zugenommen.

Lange Zeit hielt die sogenannte Hygiene­hypothese als Erklärung her: die Theorie, dass mit dem Rückgang von Infektions­krankheiten durch Impfungen und – eben – verbesserte Hygiene das Immun­system arbeitslos wurde und nun gegen sich selbst schiesse.

Aber mittlerweile geht man davon aus, dass es der frühe Kontakt mit vielfältigen Umwelt­mikroben ist, der vor Allergien schützt, und nicht der mit gefährlichen Krankheits­erregern. Man spricht von der «Alte Freunde»-Hypothese. Mit den alten Freunden sind die Mikroben gemeint, die schon lange – unsere ganze Evolution hindurch – mit, auf und um uns leben. Sie sind auf unserer Haut und in unserem Darm zu Hause, im Wald­boden oder auf Pflanzen.

Wie uns diese Mikroben vor Allergien schützen können, erklärt der Wissenschafts­autor Philipp Dettmer: Wenn ein Kind geboren werde, sei sein Immunsystem wie ein Computer. Es habe zwar die Hard- und Software, aber noch keine Daten. Erst durch die Daten, die es im Kontakt mit Umwelt­mikroben sammle, lerne es, wann es welche Programme laufen lassen muss. Erst damit lerne es, wer Feind und wer Freund sei.

Neuere epidemiologische Studien zeigen, dass Kinder, die auf einem traditionell geführten Bauernhof oder mit einem Haustier aufwachsen, weniger Allergien haben. Vorerst wisse man nur, dass es einen Zusammen­hang zwischen Lebens­stil und Allergie gebe, sagt Trück. «Das kann man derzeit noch nicht sinnvoll in Empfehlungen umsetzen.»

8. Wie kann ich mein Immun­system stärken?

Gegenfrage: Sind Sie sicher, dass Sie das wirklich wollen? Und wissen Sie, was genau Sie stärken wollen? Sollen es mehr Abwehr­stoffe sein? Mehr Anti­körper? Oder mehr Killer-T-Zellen? All diese unterschiedlichen Komponenten sind im Gleich­gewicht – und müssen das auch sein. Sie regulieren sich gegenseitig. Ist eine Komponente zu stark, schädigt das den Körper.

Das Corona­virus zum Beispiel unterläuft das Immun­system, sodass dieses mehr entzündungs­fördernde Stoffe als nötig ausschüttet. Vielen Covid-19-Opfern wurde genau diese überschiessende Immun­reaktion zum Verhängnis.

Dennoch ist das Konzept der Stärkung des Immun­systems populär. Zu Beginn der Pandemie, von April bis Mai 2020, verzeichnete der Hashtag #immunebooster auf Instagram einen Anstieg von über 46 Prozent, wie kanadische Forscherinnen herausfanden.

Ein brasilianisch-britisches Forscher­team analysierte, welche Websites bei der Suche nach dem Schlagwort «boost immunity» aufploppten. Die meisten gaben Ernährungs­tipps oder bewarben Vitamine, Anti­oxidantien, Probiotika und Mineralien. Nur 12 Prozent erwähnten eine Impfung als Möglichkeit, das Immun­system zu stärken.

Von Nahrungs­ergänzungs­mitteln wie Vitamin C und Zink hält Immunologin Claudia Daubenberger eher nichts: «Wir sind aufgrund unserer sozio­ökonomischen Situation in der Schweiz, wo wir normal essen, nicht jeden Tag zu McDonald’s gehen und keinen Hunger leiden, nicht mangelernährt. Deshalb bringen die Hilfsmittel aus der Apotheke wahrscheinlich wenig, sie werden einfach wieder ausgeschieden.»

Eine gezielte Stärkung des Immun­systems ist nicht möglich – ausser über Impfungen. Da sind sich alle Expertinnen einig. Aber man kann einiges tun, um das Immun­system nicht zu schwächen oder in einem gesunden Zustand zu halten.

Die Ernährung spielt dabei eine wichtige Rolle, weil sie das Mikrobiom unseres Darms beeinflusst – also die Vielfalt und Zusammen­setzung an Bakterien in unserem Verdauungs­organ. «Das Mikrobiom hat einen starken Einfluss auf das Immun­system», sagt Daubenberger. Es ist wie eine Schranke im Darm. Ein gesundes Mikrobiom helfe, diese Darm­schranke aufrechtzuerhalten.

Ernähren wir uns aber zu einseitig, schaden wir dem Mikro­biom und die Schranke wird durchlässig. Dann gelangen Schad­stoffe in den Körper, und die Entzündungs­werte im Blut steigen an. Unser Immun­system werde «unspezifisch aktiviert», sagt Daubenberger. Es ist dauer­nervös, was viele Erkrankungen begünstigt. Nicht nur Infektions­krankheiten, sondern auch nicht übertragbare Krankheiten wie etwa Diabetes.

Was nun folgt, können Sie vielleicht langsam nicht mehr hören. Es ist deswegen aber nicht weniger wahr.

Es ist – nebst ausreichend Schlaf und, wie erwähnt, dem Kontakt zu Mikroben als Kind – eine gesunde, ausgewogene Ernährung mit wenig Fleisch, viel Gemüse und vor allem Ballast­stoffen, die eine vielfältige Darmflora erhält und damit ein entspanntes und schlag­kräftiges Immun­system.

Wie schon der Kardiologe aus dem Witz wusste: Das Immun­system ist unglaublich komplex. Und das bringt Unsicherheit. In Momenten, in denen wir unsicher sind, entscheidet häufig unser Bauch­gefühl. Und das sagt: Was natürlich ist, ist gut.

Doch wenn es um Infektionen geht, ist das zu kurz gedacht. Infektionen machen uns nicht stärker, nur weil sie vermeintlich natürlich sind. Abgesehen davon, dass Grippe, Masern oder sogar Erkältungen in Jäger- und Sammler­gemeinschaften praktisch überhaupt nicht existierten, können uns Infektionen sogar langfristig schwächen. Wir müssen sie deshalb nicht mit Händen und Füssen vermeiden, aber wir müssen sie auch nicht provozieren. Nicht nur aus Selbst­schutz, sondern auch aus Solidarität zu unseren Mitmenschen.

Der Artikel von Cornelia Eisenach

Stefan Mosebach (Illustration)

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