Warum Millionen von Meetings komplett überflüssig sind,

Fokus

NZZ – Neue Zürcher Zeitung – Barbara Klingbacher – 

Die grösste Verschwendung in der Arbeitswelt: Warum Millionen von Meetings komplett überflüssig sind, wer Schuld daran hat und wie man sie möglichst schmerzfrei übersteht.

Neues Jahr, gleiches Unglück: 2022 werden wir erneut mehr Stunden in realen und virtuellen Sitzungen verbringen je als zuvor. Dabei ist die Hälfte dieser Zeit laut Forschern vergeudet. Ein Rettungsversuch aus der Wissenschaft in sieben Traktanden.

Vorstellung des Sitzungsthemas

Bevor wir eine Sitzung einberufen, sollten wir immer an den Zahnarzt denken. Er ist eine Art Mahnmal in Weiss, das aus dem Start-up Clockwise stammt, wo man das Zeitmanagement von Firmen mittels künstlicher Intelligenz verbessern will. Clockwise führte Anfang 2020 eine Umfrage durch, bei der Angestellte ankreuzen konnten, was sie lieber täten, als in einem schlechten Meeting zu sitzen. Die Erkenntnis: Sie würden lieber in der Telefonschlaufe einer Telekommunikationsfirma festhängen. Sie würden lieber mit der Familie über Politik zoffen. Sie würden sogar lieber zum Zahnarzt gehen.

Traktandum 1
Weshalb muss es diese Sitzung geben?
Dauer: 6 Minuten

Steven Rogelberg entdeckte sein Fachgebiet aus Neugierde und Frustration. Als junger Organisationspsychologe an der University of North Carolina ­beschäftigte er sich mit der Arbeitswelt. Besonders interessierte ihn, welche Tätigkeiten für Mitarbeiter sinnstiftend und motivierend wirken und welche eine Quelle von Stress und Widerwillen sind. Aber Rogelberg kam mit seinen Untersuchungen nicht so zügig voran, wie er wollte. Immer wieder musste er seine Arbeit unterbrechen, um an irgendeinem Meeting teilzunehmen.

Weil Rogelberg Wissenschafter ist, jammerte er nicht, sondern leitete eine Forschungsfrage ab: Könnte es sein, dass sich die Zahl der Meetings direkt auf die Zufriedenheit der Angestellten auswirkt? In seinen ersten Studien befragte er Angestellte zu ihrem Tagesablauf und ihrem Wohlbefinden und liess sie darüber Tagebuch führen. Die Auswertung bestätigte seine Erfahrung: Die Teilnehmer, die tagsüber in vielen Sitzungen sassen, verliessen ihren Arbeitsplatz abends oft mit dem unangenehmen Gefühl, wieder nichts geschafft zu haben. «Das verstörte mich», sagt Rogelberg. Jeder Mensch strebt nach dem Gefühl, etwas geleistet zu haben. «Und Meetings schienen dabei ein Hindernis zu sein.»

Seit zwei Jahrzehnten bekämpft Rogelberg den grössten Zeitfresser des Büroalltags mit den Waffen der Wissenschaft. Die Titel seiner Arbeiten klingen wie Seufzer von Sitzungsgeplagten: «Not another meeting!» oder «Why your meeting stinks». Spätestens seit 2019 sein Buch «The Surprising Science of Meetings» erschienen ist, gilt Rogelberg als Koryphäe der Sitzungswissenschaft.

Vor allem aber ist er ein Pionier. Als er mit seinen Studien begann, waren die Konferenzräume dieser Welt weitgehend unerforschtes Territorium. Das ist erstaunlich, wenn man bedenkt, wie viele Stunden Menschen in Sitzungszimmern verbringen. Vor der Pandemie fanden laut Schätzungen täglich 55 Millionen Meetings statt – allein in den USA. Seit Corona die Arbeitswelt verändert hat und wir uns vermehrt virtuell treffen, ist diese Zahl nochmals gestiegen.

Dabei zeigt die Forschung: Die Hälfte der Zeit, die wir in Sitzungen verbringen, ist verschwendet. Wie viel das die Wirtschaft kostet, hat der Online-Terminplanerdienst Doodle zu berechnen versucht. Man analysierte Daten aus 19 Millionen Sitzungen, die über die Onlineplattform einberufen worden waren, und befragte 6500 Angestellte in mehreren Ländern. Das Ergebnis war schockierend. 2019 wurden in den USA in unproduktiven Meetings 16 Milliarden Arbeitsstunden im Wert von 400 Milliarden Dollar vergeudet; für die Schweiz kam Doodle auf einen verschwendeten Betrag von 33 Milliarden Dollar.

Allerdings liegen die wahren Kosten wohl höher. In die Rechnung von Doodle floss nur die eigentliche Dauer der Sitzung ein, nicht aber die Vorbereitung darauf – und auch nicht die Zeit, die man braucht, um sich wieder davon zu erholen. Läuft ein Meeting schlecht, leiden die Teilnehmer danach nämlich am «Meeting recovery syndrom»: Je nerviger eine Sitzung war, desto länger braucht unser Hirn dafür, den mentalen Schalter umzulegen und sich auf die nächste Aufgabe zu konzentrieren. Statt sofort wieder loszulegen, müssen wir zuerst einen Kaffee holen, die News im Netz checken oder einen Kollegen bei seiner Arbeit unterbrechen, um ihm zu erzählen, wie nervig das Meeting gewesen sei.

Doch bei aller Ineffizienz: Rogelberg ist kein Feind der Sitzung. Denn was wäre die Alternative? Ein Rückfall in jene dunklen Zeiten, als sich kein Patron für Inputs seiner Mitarbeiter interessierte, für offene Diskussionen oder gemeinsame Entscheidungsfindung. Die Sitzungsflut ist der Preis, den wir zahlen für eine flachere Hierarchie.

Rogelberg will Sitzungen nicht abschaffen, sondern verbessern – und sie gerne ein bisschen seltener stattfinden lassen. Das bessere Meeting beginne immer mit der Frage, ob dieses Meeting überhaupt nötig sei, sagt er. Allzu oft trommeln wir Leute zusammen, ohne zu überlegen, ob eine Sitzung überhaupt das richtige Format für unser Anliegen sei. Die Pandemie hat dieses Problem verschärft. Während wir uns bei Treffen in der realen Welt überlegen müssen, wann die richtigen Leute im Haus sind und in welchem Raum wir sie versammeln, fallen diese Hürden bei virtuellen Meetings weg. Heute wählt man bei Videokonferenztools wie Microsoft Teams, Zoom oder Google Meet einfach Datum und Zeit, klickt die gewünschten Teilnehmer an, und schon ist wieder eine Sitzung einberufen.

Wann aber ist ein Meeting nötig? Nur, wenn wir gemeinsam Probleme lösen, Entscheidungen fällen oder Pläne und Vorschläge diskutieren wollen. Wer eine Sitzung ansetzt, um Informationen zu teilen, ein Update zu Projekten zu bekommen oder Feedback und Antworten einzuholen, über die es nichts zu debattieren gibt – der braucht keine Sitzung. Er könnte stattdessen eine E-Mail schicken. Der Merksatz «This Meeting should have been an e-mail» prangt auf zahllosen T-Shirts und Bürotassen; als Ausdruck des stillen Protests oder der Verzweiflung. Durchgesetzt hat sich die Erkenntnis aber nicht.

Traktandum 2
Worüber reden wir überhaupt?
Dauer: 3 Minuten

Es steht in jedem Managementbuch: Eine gute Sitzungen braucht eine Traktandenliste. Aber leider sei die Traktandenliste nicht das Allheilmittel, als das sie verkauft werde, sagt Rogelberg. Seine Studien zeigten jedenfalls kaum einen Zusammenhang zwischen dem Vorhandensein einer Traktandenliste und dem Eindruck, ein Meeting sei effektiv gewesen. Das spricht allerdings nicht gegen die Listen, sondern gegen die nutzlosen unter ihnen.

In der Hierarchie der Unwirksamkeit steht die Copy/Paste-Liste zuoberst: Wer von Sitzung zu Sitzung die immergleichen Zombie-Traktanden stehenlässt, löst bei den Teilnehmern schon im Vorfeld bleierne Müdigkeit aus. Eine Liste aus Worthülsen wie «Rückblick», «Update», «Ausblick», ist immer noch nutzlos. Zudem sollten die Themen sinnvoll geordnet sein. Allzu oft folgen sie einer willkürlichen Chronologie: Oben steht, was zuerst beim Sitzungsleiter im Mailordner gelandet ist – oder ihm als erstes einge­fallen ist.

Eine gute Traktandenliste ordnet Themen nie chronologisch, sie folgt einer Dramaturgie. Wie entscheidend die Reihenfolge ist, beweist ein Experiment, das zwei Psychologen an der Middle Tennessee State University durchführten. Sie liessen ihre Probanden 24 Sitzungen mit mehreren Traktanden durchführen, die zum Teil offensichtlich wichtig und zum Teil ziemlich unwichtig waren. Was sich von Sitzung zu Sitzung änderte, war ihre Reihenfolge. Die Erkenntnis daraus: Teilnehmer widmeten nicht den entscheidenden Punkten am meisten Zeit und Aufmerksamkeit, sondern jenen, die weit oben standen. Rogelberg leitet daraus eine Faustregel ab. Man könne eine Sitzung mit einer Update-Runde beginnen, sagt er. «Doch spätestens nach 10 bis 15 Prozent der Zeit sollte man beim wichtigsten und interessantesten Thema ankommen.» Hilfreich dabei ist, bei jedem Traktandum anzugeben, wie lange darüber geredet werden soll.

Rogelberg schlägt zudem vor, die Themen als Fragen zu formulieren. Also nicht «Sparmöglichkeiten 2022» schreiben, sondern «Wie sparen wir bis Ende 2022 eine Million Franken ein?» Dadurch lösen sich gleich mehrere Probleme. Der Sitzungsleiter kann besser entscheiden, wen er zum Meeting einladen soll – all jene Mitarbeiter, die nötig sind, um die Fragen zu beantworten. Gleichzeitig ist es einfacher, die Teilnehmer aufs Thema zurückzuführen, wenn die Diskussion abschweift. Und schliesslich geben Fragen nicht nur vor, wann eine Sitzung zu Ende ist, sie zeigen auch auf, ob sie erfolgreich war: Wenn alle beantwortet sind. Wer schon beim Formulieren der Fragen scheitert, sollte darüber nachdenken, ob das Thema wirklich eine Sitzung erfordere, sagt Rogelberg. «Sagen Sie das Meeting ab. Damit machen Sie Ihren Kollegen das grösste Geschenk: Zeit.»

Traktandum 3
Was tue ich hier?
Dauer: 6 Minuten

Es gibt eine Reihe von Regeln, wie viele Leute an einem Meeting teilnehmen sollten, und keine davon lautet: «Je mehr, desto besser.» Jeff Bezos, der Gründer von Amazon, führte in seinem Unternehmen das «Zwei-Pizza-Prinzip» ein. An internen Sitzungen gilt: Die Teilnehmer müssen von zwei Pizze satt werden. Das schränkt die Anzahl Beteiligter auf sechs bis acht ein. Larry Page legte die Obergrenze bei Google auf zehn fest. Steve Jobs plädierte für so wenige Teilnehmer wie möglich; der Apple-Gründer verzichtete einst auf ein Tech-Meeting mit Präsident Obama, weil mehr als acht CEO eingeladen waren, was Jobs ineffizient fand. Und Elon Musk erteilte seinen Mitarbeitern 2018 die Lizenz zum Verschwinden. Sobald klar sei, dass man zu einem Meeting nichts beitragen könne, solle man es verlassen, schrieb er in einer E-Mail: «Es ist nicht unhöflich, zu gehen. Es ist unhöflich, jemanden zu zwingen, zu bleiben und seine Zeit zu verschwenden.»

Rogelberg hat festgestellt, dass in der Hälfte aller Sitzungen zwei oder mehr Personen sitzen, die für das Erreichen des Ziels überflüssig sind. Bedeuten mehr Leute aber nicht mehr Ideen, mehr Wissen, mehr Perspektiven? «Das Gegenteil ist der Fall», sagt Rogelberg. Soll in einem Meeting eine Entscheidung gefällt werden, dürfen höchstens sieben Leute dabei sein; jede zusätzliche Person mindert die Effizient um 10 Prozent. Will man Ideen hervorbringen oder strategische Ziele setzen, liegt die Obergrenze bei 14.

Ist ein Meeting zu gross, setzt sofort das «social loafing» ein. Die Entdeckung des «sozialen Faulenzens» geht auf den französischen Agraringenieur Maximilien Ringelmann zurück. Er untersuchte in den 1880ern den Effizienzverlust bei der Arbeit von Pferden, Ochsen und Männern, indem er sie Lasten ziehen liess. Als sich die Männer einzeln, zu siebt und zu vierzehnt abmühten, stiess Ringelmann auf einen interessanten Effekt: Die Leistung der Gruppe war stets kleiner als die Summe der Einzelleistungen. Über den Grund dafür konnte Ringelmann nur mutmassen. Lag es daran, dass gemeinschaftliches Schleppen schwieriger zu koordinieren ist? Oder waren die Männer weniger motiviert, mit voller Kraft zu ziehen?

Knapp hundert Jahre später klärte eine Gruppe amerikanischer Sozialpsychologen diese Frage. Sie forderten Probanden auf, möglichst laut zu schreien, und zwar allein und in unterschiedlich grossen Gruppen. Was die Probanden, denen man Kopfhörer aufsetzte, nicht wussten: Die andern in der Gruppe taten nur so als ob. Die Dezibelmessung bestätigte Ringelmanns Beobachtung: Glaubte jemand in einer Dreiergruppe zu schreien, erreichte er nur noch zwei Drittel der Lautstärke, die er allein hinkriegte. Wähnte er sich zu sechst, war es sogar nur noch ein Drittel. Ob man allein oder zu sechst schreit, macht koordinatorisch keinen Unterschied. Der Leistungsabfall musste also darin begründet sein, dass sich Menschen in einer Gruppe weniger anstrengen.

Im natürlichen Habitat der Büromenschen lässt sich diese Diffusion der Verantwortung täglich beobachten. Wenn niemand offiziell für den Drucker verantwortlich ist, dauert es ewig, bis jemand die leeren Patronen austauscht. Gibt es eine gemeinsame ­Kaffeeküche, räumt keiner den Geschirrspüler aus. Und sobald zu viele Leute in einem Meeting sitzen, werden die guten Ideen rar. Virtuelle Sitzungen verstärken den Effekt, vor allem, wenn die Kameras ausgeschaltet sind. Es ist einfach zu verlockend, den anderen die Denkarbeit zu überlassen, während man unsichtbar in der geistigen Hängematte faulenzt.

Bei der Auswahl der Sitzungsteilnehmer muss man allerdings etwas bedenken: Noch schlimmer als ein Meeting ist das Meeting, zu dem wir als einzige nicht eingeladen worden sind. Das Gefühl, übergangen zu werden, senkt bei Mitarbeitern die Motivation. Rogelberg schlägt deshalb fünf Taktiken vor: 1. Eine grosse Sitzung mit vielen Traktanden in mehrere kleine mit unterschiedlichen Teilnehmern splitten. 2. Eine grosse Sitzung so unterteilen, dass die Leute für einzelne Traktanden dazukommen und danach wieder gehen können. 3. Stellvertreter einladen, die für die Ansichten einer Gruppe stehen. 4. Leute, die etwas zu einem Thema beitragen könnten, aber nicht zwingend anwesend sein müssen, vorher um Inputs bitten. 5. Die Notizen aus der Sitzung breit streuen und fragen, ob jemand bei einer nächsten zu diesem Thema dabei sein will. Die Chance ist gross, dass sich niemand meldet.

Traktandum 4
Wieso dauert das wieder so lange?
Dauer: 2.30 Minuten

Die meisten Sitzungen sind auf 30 Minuten oder eine Stunde angesetzt. Das liegt nicht daran, dass die Lösung eines Problems exakt so lange benötigt, sondern an der Kalendersoftware. Wer ein Meeting über Microsoft Outlook oder ein anderes Hilfsmittel einberuft, bekommt automatisch 30 oder 60 Minuten vorgeschlagen. Und wir sind in aller Regel zu faul, eine Voreinstellung abzuändern.

Ist eine Besprechung auf 60 Minuten angesetzt, wird sie niemals vorher enden. Das weiss jeder, der mit Deadlines arbeitet: Egal, wie viel Zeit für eine Aufgabe vorgesehen ist – wir sind nie früher fertig. Das liegt am Parkinsonschen Gesetz, mit dem sich der Historiker Cyril Northcote Parkinson einst über die Bürokratie der britischen Behörden mokierte: «Arbeit dehnt sich genau in dem Mass aus, in dem Zeit für ihre Erledigung zur Verfügung steht.» Seine sarkastische Beobachtung löste eine Fülle von Experimenten aus, bei denen Studenten, Fabrikarbeiter oder Nasa-Mitarbeiter beobachtet wurden. Parkinsons Gesetz wurde stets bestätigt.

Statt an Parkinson zu verzweifeln, könnten wir uns das Yerkes-Dodson-Gesetz zunutze machen: Menschen – und Labormäuse – sind am produktivsten, wenn sie ein bisschen unter Zeitdruck stehen. Unsere Leistungskurve verläuft nämlich wie ein umgedrehtes U. Fehlt der Stress ganz, sind wir ebenso ineffizient wie wenn der Stress zu hoch ist. Es spricht also nichts dagegen, die einstündige Sitzung auf 50 Minuten zu verkürzen. Oder jene, die normalerweise von 9.30 bis 10 Uhr dauert, auf 9.37 Uhr anzusetzen. Eine ungewöhnliche Startzeit bringt nämlich einen weiteren Vorteil mit sich, wie das Start-up Tinypulse herausgefunden hat: Kaum jemand kommt zu spät. Als schlechteste Zeit für eine Sitzung gilt übrigens Montag, 9 Uhr.

Traktandum 5
Wer hat was zu sagen?
Dauer: 6 Minuten

Susanne Spülbeck wendet die Methoden ihres Fachgebiets auf die moderne Arbeitswelt an. Um zu verstehen, wie ein Unternehmen funktioniert, heftet sich die Organisationsethnologin an die Fersen der Einheimischen im Bürodschungel. Sie verfolgt jeden Tag eine andere Person. Spülbeck schaut zu, wie der Assistent oder die Projektmanagerin ihren Computer starten, begleitet sie zum Kaffeeautomaten, beobachtet, wie sie Excel-Tabellen erstellen, geht mit in die Mittagspause. Natürlich sitzt sie im Verlauf dieser Tage auch in sehr vielen Meetings. Dabei notiert sie alles, was im Konferenzraum passiert. «Die Sitzordnung, die Redeanteile der Teilnehmer, die verbalen und nonverbalen Reaktionen.»

Schon die Platzwahl verrät ihr viel über die Beziehungen und über die Hierarchie. Ist ein Besprechungstisch eckig, bleiben die Stirnseiten oft am längsten leer, weil die meisten Mitarbeiter diese demonstrativen Positionen der Macht vermeiden – die einen, weil sie sie als unangemessen empfinden, die anderen, weil sie ihr Chefsein nicht zusätzlich betonen wollen. Deshalb stehen inzwischen oft runde oder ovale Tische in den Sitzungszimmern.

Doch auch an diesen spiegelt die Sitzordnung häufig, wie die Teilnehmer zueinander stehen: Mitarbeiter, die sich mögen, setzen sich gern nebeneinander. Wer sich kaum kennt, hält Abstand. Potentielle Konfliktpartner wählen oft Plätze, die sich gegenüber liegen; der diagonal entgegenliegende Stuhl signalisiert maximale Distanz. Und selbst wenn eine Firma ihre flache Hierarchie betont, neigen Führungskräfte dazu, sich am Tisch zusammenzurotten.

Aus den Hunderten von Sitzungen, die Spülbeck beobachtet hat, weiss sie: Es ist nicht zwingend das beste Argument, das gewinnt. Oft sei entscheidender, welche Position ein Teilnehmer in der unbewussten Gruppenhierarchie habe. Das fällt ihr zum Beispiel auf, wenn die Reaktion auf eine Idee davon abhängt, wer sie vorbringt. «Da schlägt Herr Schmitz etwas vor, und niemand reagiert oder sein Vorschlag wird rasch verworfen. Kurz darauf sagt Frau Müller das gleiche in anderen Worten, und plötzlich stimmen alle zu.» Solche Abläufe verraten der Wissenschafterin, wer welche Rolle in der Gruppe hat.

Es gibt in jeder Gruppe einen Herr Schmitz. «Bis vor zwei Jahren hätte ich ihn einen Querdenker genannt, damals war das noch ein schönes Wort.» Herr Schmitz ist derjenige, der um die Ecke denkt und sagt, was gerade keiner hören will – obwohl seine Denkanstösse wichtig wären.

Im Rangdynamikmodell ist Herr Schmitz ein Omega. Wer je von diesem Modell gehört hat, wird Sitzungen in Zukunft mit anderen Augen sehen. Der österreichische Sozialpsychologe Raoul Schindler entwickelte es Ende der 1960er, um die heimlichen Spielregeln von Teams offenzulegen.

Schindler ging davon aus, dass in jeder Gruppe drei bis vier Rangpositionen eingenommen werden. Stets gibt es einen Alpha, der allerdings nichts mit dem Alpha-Männchen bei Menschenaffen zu tun hat. In Schindlers Modell ist Alpha nicht der Anführer, sondern eher eine Art Klassensprecher oder Wortführer, der die Gruppe auch nach aussen vertritt. Wenn er spricht, hört man ihm zu. Dazu kommen eine Reihe gleichberechtigter Gammas, die Alpha zustimmen; auf Einwände gegen seine Ansichten können Gammas auch mal unwirsch oder sogar aggressiv reagieren. Die Einwände kommen in der Regel von Omega, dem kritischen Geist. Ausserdem führt Schindler noch Beta auf, die einzige Position, die nicht in jeder Gruppe besetzt ist. Beta ist eine Art graue Eminenz, die sachlich argumentiert; in Meetings ist er oft der Fachexperte.

Die Positionen folgen nicht zwingend dem Organigramm, und sie verändern sich. Das ist mit ein Grund, warum es Menschen am wohlsten wäre, wenn auch der Herr Schmitz im Team freundlich und respektvoll behandelt würde, selbst wenn er scheinbar das Falsche sagt. Denn keiner kann sich seiner Position allzu sicher sein. Spätestens wenn Herr Schmitz kündigt – oder rausgemobbt wird –, gerät ein anderer in die Rolle von Omega.

Wie entscheidend diese Topographie der Gruppe ist, erfuhr Spülbeck bei der Feldforschung in einer grossen Werbeagentur. Die Agentur hatte drei bis fünf Entscheidungsschleifen eingeführt, um sicherzustellen, dass dem Kunden wirklich die beste Idee präsentiert wird – und nicht die des beliebtesten Mitarbeiters. Die Abteilungsleiter und Berater beurteilten ­deshalb jeden Entwurf in immer wieder anderen Teamkonstellationen. Die Organisationsethnologen beobachteten unterdessen, wer in diesen Teams welche Position einnahm. Dabei habe sich gezeigt, dass sich die Ideen von Alphas ungleich häufiger durchsetzten, sagt Spülbeck, «trotz all diesen tollen Prozessen, mit denen man genau das zu verhindern versuchte». Um diese Dynamik auszuhebeln, könne man versuchen, sie sichtbar zu machen, in Workshops etwa.

Es wäre übrigens die Aufgabe des Moderators oder der Moderatorin, in einer Sitzung gegenzusteuern, wenn die Gruppendynamik überhandnimmt. Aber leider, sagt Spülbeck, finde das meistens nicht statt. «Das grösste Problem, das wir bei Meetings beobachten, ist, dass es entweder gar keine Moderation gibt. Oder dass die Person, die die Moderation übernimmt, sehr schlecht oder überhaupt nicht dafür ausgebildet ist.»

Traktandum 6
Bin vielleicht ich selber das Problem?
Dauer: 4.30 Minuten

Egal, wie schrecklich eine Sitzung ist, es gibt immer einen im Raum, der findet, es laufe ziemlich gut: der Sitzungsleiter. Das ist auf den «Lake Wobegon Effekt» zurückzuführen, die Tatsache, dass die meisten Menschen ihre eigenen Fertigkeiten für überdurchschnittlich halten. Er ist nach einer Stadt benannt, die sich amerikanische Radioleute in den 1970ern ausdachten; einem Ort, «in dem alle Frauen stark, alle Männer gutaussehend und alle Kinder überdurchschnittlich sind».

Der «Lake Wobegon Effekt» ist allgegenwärtig. Je nach Untersuchung geben 80, 90 oder sogar 100 Prozent der Autofahrer an, zu den besseren 50 Prozent der Autofahrer zu gehören. 90 Prozent der Lehrer glauben ebenfalls, überdurchschnittlich gute Pädagogen zu sein. Und natürlich halten wir auch unsere eigenen Meetings für besser als die der anderen. In der Umfrage einer Telekommunikationsfirma bewerteten 79 Prozent der Leute, die eine Sitzung einberufen hatten, ihr Meeting als sehr oder extrem produktiv, während nur 56 Prozent der Teilnehmer diese Ansicht teilten.

Joe Allen gehörte zu den wenigen, die ihre Fähigkeit als Sitzungsleiter nie überschätzten. Schon als Student der Organisationspsychologie fiel ihm auf, dass unglaublich viele Meetings nicht gut laufen. «Und zwar jene, an denen ich teilnahm ebenso wie jene, die ich selbst führte», sagt er. Als Allen vor 15 Jahren vor der Entscheidung stand, für seine Dissertation bei Steven Rogelberg Sitzungen oder Freiwilligenarbeit zu erforschen, war seine Antwort klar: Sitzungen. Ihm sei damals schlagartig klar geworden, dass er vor ­seinen eigenen Meetings kapituliert habe. «Ich hatte aufgegeben zu versuchen, sie zu verbessern. In der Psychologie nennt man das erlernte Hilflosigkeit.» Seither will Allen verstehen, was eine Sitzung zu einer guten oder zu einer schlechten macht.

Allen, der heute das «Center for Meeting Effectiveness» an der University of Utah leitet, interessierte sich für schlechtes Benehmen. Aus Hunderten von Befragungen im Anschluss an Sitzungen destillierten er und seine Kollegen einen Katalog von 16 störenden Verhaltensweisen: Monologisieren zum Beispiel. Leute, die Nebengespräche führen. Leere Schlagworte. Lästern über Nichtanwesende. Ins-Wort-Fallen. Sarkastisches Kritisieren. Drei Dinge stachen besonders heraus: Wenn Leute während der Sitzung auf ihren elektronischen Geräten herumspielen oder E-Mails schreiben. Wenn sie jammern. Und wenn sie zu spät kommen.

Wenn einer sich zu beklagen beginnt, stimmen häufig andere ein. «Dann gerät die Gruppe in eine Art Jammerspirale, aus der sie fast nicht mehr herausfindet», sagt Allen. Am faszinierendsten aber fand er das Zu-spät-Kommen. Nichts ärgere die Leute mehr, als wenn sie pünktlich in einem Meeting sässen, das dann nicht beginne. Das zeigten auch Experimente, die er mit seiner Kollegin Nale Lehmann-Willenbrock von der Universität Hamburg unternahm. Sobald eine Sitzung unpünktlich beginnt, sinken die Effizienz, die Zahl der Ideen und die Zufriedenheit der Teilnehmer. Auf ihr Verhalten hingegen hatten fünf Minuten Verspätung noch keinen messbaren Einfluss. Doch in der Sitzung, die zehn Minuten zu spät begann, stellte Allen einen dramatischen Verfall der Sitten fest. Es sei viel mehr gejammert, gestritten und kritisiert worden, sagt er. «Irgendwo zwischen diesen 5 und 10 Minuten Verspätung muss es einen Punkt geben, an dem die Leute so frustriert und wütend über den mangelnden Respekt vor ihrer Zeit werden, dass ein Meeting dadurch komplett entgleisen kann.»
Schlimmer als die Sitzung, die zu spät beginnt, ist nur die Sitzung, die zu spät endet. Das sei aber ein subjektives Gefühl, sagt Allen, Forschungen dazu gibt es noch nicht. Aber das Problem ist erkannt. In vielen Online-Meetingplanern sind inzwischen Timer eingebaut, die die verbleibende Zeit herunterzählen. Weiter geht ein Feature namens Roombot, das im Raum das Licht dimmt, sobald sich ein Meeting dem Ende zuneigt. Es gibt aber auch analoge Lösungen, um Schlussmach-Disziplin zu erhöhen. Bei Buddytruk, einem Start-up, das eine App für die Suche nach ­Umzugshelfern entwickelt hat, muss die letzte Person, die nach Sitzungsende noch redet, 50 Liegestütze ­machen.

 

Traktandum 7
Hört mich jemand?
Dauer: 2 Minuten

Joe Allen nutzte die Pandemiezeit, um gemeinsam mit einem Kameracoach ein Buch über virtuelle Meetings zu schreiben («Suddenly virtual. Making remote Meetings work»). Dabei habe ihn überrascht, wie viel Wissen übertragbar sei. 80 Prozent der Erkenntnisse aus der Sitzungswissenschaft, die man 2019 hatte, würden auch bei virtuellen und hybriden Meetings gelten: Es braucht ein Ziel und klare Traktanden, zu viele Teilnehmer schaden, die Sitzung muss pünktlich beginnen und enden. Einiges davon ist noch entscheidender geworden, zum Beispiel, dass der Sitzungsleiter die Leute einbezieht. «Wenn sich Menschen treffen, wollen sie gesehen und gehört werden», sagt Allen. «Aber es ist viel einfacher, jemanden zu vergessen oder zu ignorieren, der nicht am gleichen Tisch sitzt.»

Überrascht hat Allen auch, wie wichtig vermeintlich Unwichtiges ist, um in virtuellen Sitzungen ernst genommen zu werden: das richtige Licht etwa oder ein Hintergrund, der nicht ablenkt. Letzteres hat er selbst erlebt. Als er sich mit einigen Studentinnen und Studenten online verabredete, setzte er sich vor sein Büchergestell. Die Besprechung drehte sich um das Hochstapler-Syndrom, das weitverbreitete Gefühl, der dümmste im Raum zu sein und eigentlich nicht dazuzugehören. Ein paar Wochen später fragte er nach, wie das Meeting angekommen sei. Allen wurde gelobt, erfuhr aber auch, was passierte, nachdem er sich aus der Sitzung verabschiedet hatte. Die Studenten redeten nur noch über ein Thema: Hatte Doktor Allen tatsächlich «Twilight Saga» im Büchergestell stehen? Bis ­heute sei er nicht sicher, an welchen Teil des Meetings sie sich erinnern werden: Daran, wie wichtig Selbstvertrauen ist. Oder daran, dass Doktor Allen gerne Vampirbücher liest.

 

Varia und Verabschiedung

Was also sollen wir tun, wenn wir das nächste Mal in einem Meeting sitzen, das so schlecht ist, dass wir uns zum Zahnarzt wünschen? Man könne Sitzungen, die andere führen, sehr beschränkt beeinflussen, sagt Joe Allen. «Wir können nur versuchen, unsere eigenen Meetings so gut wie möglich zu führen und zu hoffen, dass sich andere etwas davon abschauen.» Susanne Spülbeck empfiehlt, sich in Momenten akuten Leidens ethnologisch zu betätigen, denn als Organisations­ethnologin könne eine Sitzung gar nicht langweilig sein. Also: beobachten und notieren, was gerade schiefläuft. «Und vielleicht kann man die Notizen sogar nutzen, um der Sitzungsleitung später konstruktives Feedback zu geben.» Für Steven Rogelberg aber hat sich das Problem von selbst gelöst, seit er seinen Bestseller über Sitzungswissenschaft geschrieben hat. «Die Meetings, an denen ich teilnehme, sind viel besser geworden. Weil sich die Leute mehr Mühe geben, wenn sie wissen, dass ich eingeladen bin.»

Dieser Artikel stammt aus dem NZZ-Folio zum Thema «Die Macht des Büros» (erschienen am 3. Januar 2022). Sie können diese Ausgabe einzeln bestellen oder NZZ Folio abonnieren.

Bild:

Die «Topografie der Gruppe» ist wichtiger als jedes Argument:

Bilder aus einer Sitzung mit Vertretern von medizinischem Personal im Büro des amerikanischen Verbandes des Pflegepersonals in der Anästhesie, 1995.

„Library of Congress“

 

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