Warum junge Menschen aus der Kirche austreten – und warum sie bleiben

Anna Böhler

Watson – Anna Böhler

Die Schweiz ist von einer Glaubenskrise betroffen, wie jüngste Statistiken zum Kirchenaustritt zeigen. Wir haben drei junge Menschen gefragt, wieso sie ausgetreten sind – oder wieso sie weiterhin in der katholischen Kirche bleiben.

Glauben junge Menschen überhaupt noch an Gott?

Ein Blick auf die Kirchenaustrittsstatistiken zeichnet ein eher düsteres Bild für den Glauben: 2021 sind so viele Menschen aus der Kirche ausgetreten wie noch nie zuvor – die meisten Austritte betreffen Personen zwischen 25 und 34 Jahren.

Die aktuellsten Zahlen vom letzten Oktober zeigen, dass im Jahr 2021 28’536 Personen aus der evangelisch-reformierten Kirche ausgetreten sind. Bei den Katholiken sind es mit 34’182 sogar noch mehr Menschen, die keine Kirchensteuer mehr bezahlen möchten. Aber ist das wirklich der wichtigste Grund für den Austritt aus der Kirche?

Nicht alle Kantone erheben Kirchensteuern – das macht sich in der Austrittsstatistik bemerkbar. In den Kantonen Genf, Neuenburg, Waadt und Wallis gab es 2021 «praktisch keine» Austritte. Hier gilt eine andere Organisationsstruktur: Es gibt keine formale Mitgliedschaft, die mit Kirchensteuern verbunden wäre.

Teure Kirchensteuer

Das Kostenargument scheint jedoch eine wichtige Rolle zu spielen, wie das Beispiel von Reto zeigt. Er findet: «Ich bin nicht bereit, in meinem Leben über 30’000 Franken dafür auszugeben, dass der Pfarrer an meiner Beerdigung ein paar schöne Worte und Amen sagt.» Mehr als 30’000 Franken hätte der 27-Jährige nach eigenen Berechnungen im Laufe seines Lebens für die Kirchensteuer ausgegeben – das war es ihm nicht wert. Er gesteht im Interview mit watson, dass er sich nicht tiefergreifend mit seinem Glauben auseinandergesetzt habe. Religion sei für ihn kein relevantes Thema, auch deshalb habe er sich letztendlich dazu entschieden, aus der katholischen Kirche auszutreten.

 

«Ich weiss nicht genau, woran ich glaube.» (Reto)

 

Auf die Frage, woran er denn glaube, findet Reto nur mühsam eine Antwort. Er wisse es nicht genau, meint er. Er glaube zwar an den Himmel und daran, dass die Seelen nach dem Tod nach oben wandern. «Aber an Gott glaube ich in diesem Sinn nicht.»

Unsympathische Kirchengemeinde

Auch Juliana war Mitglied der katholischen Kirche, bis sie vor zwei Jahren ausgetreten ist. Zum ersten Mal daran gedacht hat sie, als sie sich entschloss, sich nicht firmen zu lassen. «Alle meine Freunde sagten, dass sie sich für das Geld und die Geschenke firmen lassen – und ich dachte, das ist der falsche Grund, um die Firmung zu machen.» Hinzu kam, dass sie sich nicht mit ihrer Kirchengemeinde verbunden fühlte – der Pfarrer war ihr «zu engstirnig und nicht sympathisch». Und weiter: «Meine Kirchengemeinde hat mir nicht so zugesagt, vielleicht wäre es woanders besser gewesen – ich Weiss es nicht.»

 

«Nur fürs Geld muss ich mich nicht firmen lassen.» (Juliana)

 

Das Schweizerische Pastoralsoziologische Institut publiziert online Statistiken rund ums Thema Kirche – und ist natürlich auch der Frage nachgegangen, wer austritt und aus welchen Gründen diese Person das tut. Sieht man sich die Austrittsstatistik an, fällt auf, dass die Zahlen immer dann besonders stark ansteigen, wenn die Kirche gerade mit negativen Schlagzeilen in den Medien präsent ist. So beispielsweise 2010 im Zusammenhang mit den sexuellen Übergriffen durch die Piusbrüder.

 

Das Problem mit der Doppelmoral

Die Missstände innerhalb der Kirche hatten auch Reto und Juliana im Hinterkopf, als sie austraten. Sowieso sei die Kirche durchzogen von Paradoxien, meint die 24-jährige Juliana. «Es kommt mir vor, als würde sich jeder wieder das aus der Bibel heraussuchen, was gerade zur Situation passt, und den Rest weglassen.» Sie stört sich daran, dass man zwar Nächstenliebe predigt, aber beispielsweise Andersgläubige nicht akzeptiert.

 

«Die Kirche ist durchzogen von Paradoxien.» (Juliana)

 

Daran stören sich bei weitem nicht nur ehemalige Mitglieder der katholischen Kirche. Einer, der nach wie vor Mitglied ist und auch vorhat, es zu bleiben, ist Tobias. Er sagt, er könne sehr gut nachvollziehen, dass viele Leute den Glauben in die Kirche verloren haben nach den Ereignissen in den letzten Jahren. Der 24-Jährige findet ausserdem, dass viele katholische Glaubenssätze schlichtweg veraltet seien: «Ich fände es gut, würde die Kirche einige ihrer strengen Regeln aufbrechen. Heutzutage ist es so, dass jeder jeden lieben kann und sich als das fühlen darf, was er oder sie will. Die Kirche sollte Minderheiten schützen, statt sie auszugrenzen. Dass der Pfarrer beispielsweise nicht heiraten darf, welchen Sinn hat das?»

 

Es braucht einen Wandel

Nicht mehr zeitgemässe Werthaltungen waren auch für Reto ein weiterer Grund zum Austritt. Er ist nicht einverstanden mit dem Frauenbild, das die katholische Kirche vertritt, und kann auch ihre Haltung gegenüber der LTBGQ-Community nicht verstehen. Juliana findet es schade, dass sich die Kirche so schwertut mit dem Wandel. «Die katholische Kirche ist in so vielen Angelegenheiten vor langer Zeit stehen geblieben.» Sie wünscht sich, dass sich etwas verändert: «Der Papst hat weltweit Einfluss auf unzählige Menschen – es könnte so viel bewirken, wenn sich von oben der Ton ändern würde. Geschichte ist Geschichte, was passiert ist, ist passiert – es geht darum, sich seine Fehler einzugestehen und es in Zukunft anders zu machen.» Nur so, findet Juliana, könne man das Vertrauen der Gesellschaft zurückgewinnen.

 

«Es braucht einen Generationenwechsel.» (Juliana)

 

Sie führt das Problem auch auf den Aufbau der Organisation zurück. Dass in den oberen Etagen vorzugsweise ältere Herren sitzen, mache das Ganze nicht einfacher – ihrer Ansicht nach bräuchte es auch dort einen Generationenwechsel.

Da stimmt ihr Tobias zu. Das Weltbild des Vatikans entspreche vielleicht nicht mehr der Realität einer Mehrheit der Kirchenmitglieder. Er relativiert jedoch auch: «Es muss schwierig sein, den Glauben im gleichen Tempo zu transformieren, wie sich unsere Gesellschaft verändert.»

 

Gut investiertes Geld

Obwohl Tobias in vielen Belangen nicht einig wird mit der katholischen Kirche, bezahlt er die Kirchensteuer. Gerne sogar, wie er sagt. In seinen Augen leistet die Kirche der Gesellschaft einen grossen, unentbehrlichen Dienst. Jedes noch so kleine Dorf in der Schweiz hat eine Kirche – das sei schön, meint er. «Meine Kirchensteuer fliesst in die Gebäude, die es braucht, in den Pfarrer, der Messen vorbereitet, den Friedhofsgärtner. Vielleicht fliesst auch ein Teil des Geldes hoch zum Papst oder wird für schmutzige Dinge benutzt – wer weiss. Aber das hindert mich persönlich nicht daran, weiter meinen Beitrag bezahlen zu wollen.» Für ihn sei es beruhigend zu wissen, dass es immer einen Ort gebe, wo man hingehen könne, wenn man sich alleine fühle – und vielen Leuten gehe es gleich.

 

«Es muss schwierig sein, den Glauben im gleichen Tempo zu transformieren, wie sich unsere Gesellschaft verändert.» (Tobias)

 

Als Argument gegen das Bezahlen der Kirchensteuer wird oft behauptet, das Geld fliesse in den Vatikan, wo es eigentlich gar nicht benötigt werde. Laut dem Generalsekretär der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz der Schweiz, Daniel Kosch, fliesst aber kein einziger Franken nach Rom zum Papst. Im Schnitt über alle Kantone bleiben 85 Prozent des Ertrages aus der Kirchensteuer in der jeweiligen Kirchengemeinde – im Kanton Aargau sind es beispielsweise sogar 100 Prozent. Wer genauer wissen will, wofür wie viel Geld ausgegeben wird, erhält auf der Webseite kirchensteuern-sei-dank.ch einen genaueren Einblick in die Finanzen der Kantone Aargau, Luzern und St.Gallen.

Auf kommunaler Ebene werden mit diesem Geld die Löhne der kirchlichen Mitarbeiter, der Unterhalt der Gebäude, der Religionsunterricht, die Jugendarbeit, die Kirchenmusik und weitere Projekte finanziert.

Wer aus der Kirche austritt, wird grundsätzlich – abgesehen von Ausnahmen – nicht mehr vom Pfarrer getraut oder beerdigt. Für Reto und Juliana war das kein Argument, das sie zum Bleiben veranlasst hätte. Und doch räumt Reto im Gespräch ein, dass er sich vor allem mit seiner Beerdigung auseinandergesetzt hatte, bevor er endgültig austreten wollte. Als er herausfand, dass der Friedhof in seinem Ort Sache der Gemeinde ist und er auch so einen Redner engagieren könnte, der einige letzte Worte sagt bei der Feier, stand die Entscheidung fest.

Für Tobias hingegen geht es bei einer Beerdigung um viel mehr. Er erzählt, dass er im letzten Jahr gleich an mehreren Beerdigungen war – und jedes Mal war er froh um den Gottesdienst. Zu Beginn sei es immer ein komisches Gefühl, eine Beerdigung zu besuchen. «Diese Masse an Menschen, alle zusammen in einer kleinen Kirche. Der Pfarrer, der ein paar schöne letzte Worte spricht über den Verstorbenen. Die Gelegenheit, nach der Messe noch mit Gleichfühlenden zu sprechen – all das gab mir sehr viel Halt in dieser schwierigen Zeit.» Und auch die Vorstellung, dass die Liebsten jetzt mit Gott im Himmel sind und es ihnen gut geht, spendet Tobias Trost.

Neue Formen des Glaubens

Auf die Frage, ob es die Kirche heute noch braucht, hat Tobias eine klare Antwort: «Ja. Wenn es nämlich die Kirche und alles rund um sie herum nicht mehr gäbe, wäre da eine Leere.» Vielleicht gibt es statt einer Lücke viel eher einen Wandel zu anderen Glaubensrichtungen. Nicht im klassischen Sinn wie beispielsweise zum Islam, dem Judentum oder dem Buddhismus.

 

«Wenn es die Kirche nicht mehr gäbe, wäre da eine Leere.» (Tobias)

 

Viel mehr eine neue Generation, die zwar «an etwas Göttliches glaubt» – wie es Juliana ausdrückt –, jedoch nicht an einen Gott, wie er in der Bibel gezeigt wird. «Ich würde sagen, unsere Generation sucht den Sinn des Lebens einfach anderswo. Weniger in der Kirche, mehr draussen, in der eigenen Lebenswelt. So gründen wir unsere eigenen Communitys, ohne Regeln, an die sich alle halten müssen.»

Diese Entwicklung beobachtet auch Tobias: «Mit dem heutigen Informationsangebot hat man einen anderen Zugang zur Welt. Da kann man sich auch andere Vorsätze nehmen oder andere Arten der Spiritualität praktizieren. Man glaubt an die Kraft der Anziehung oder Karma oder entwickelt eigene Glaubenssätze.» Er findet aber, das sei nicht mit dem christlichen Glauben zu vergleichen – hier fehle die Gemeinschaft, die für Zusammenhalt und Verbundenheit sorgt.

Der Artikel von Anna Böhler

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